O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Dan Aucante

Düsseldorf-Festival 2021

Tanz der starken Typen

PREMIER(S) PAS
(Abou Lagraa, Nawal Lagraa Aït Benalla)

Besuch am
12. September 2021
(Premiere)

 

Düsseldorf-Festival, Theaterzelt am Burgplatz, Düsseldorf

Eine der wichtigsten Fragen vor dem Besuch einer Aufführung lautet für den Anfänger wie für den fortgeschrittenen Besucher: Muss ich mich darauf vorbereiten – oder muss die Aufführung selbsterklärend ohne Vorkenntnisse sein? Es wird keine abschließende Antwort auf diese Frage geben, auch wenn es sicher kein schlechter Tipp für Menschen ist, die damit beginnen, Theateraufführungen, Konzerte und ähnliche Veranstaltungen zu besuchen, sich in das jeweilige Thema zumindest oberflächlich einzuarbeiten. An diesem Abend kann jeder froh sein, der vorher nichts darüber gelesen oder gehört hat.

Das Düsseldorf-Festival hat begonnen. Am vergangenen Mittwoch eröffnete Hofesh Schechter mit seiner Tanz-Compagnie Shechter II und dem Stück Political Mother Unplugged die Spiele im Theaterzelt auf dem Düsseldorfer Burgplatz. Neben einigen kleineren Veranstaltungen steht am Sonntagabend der nächste Leuchtturm auf dem Programm. Aus Annonay, einer südfranzösischen Kleinstadt, rund 80 Kilometer von Lyon entfernt, wird die Compagnie La Baraka mit ihrem Programm Premier(s) Pas – erste Schritte – angekündigt. Die Tribüne im Zelt ist annähernd bis auf den letzten Platz gefüllt.

Der Abend beginnt mit dem Solo einer dunkelhäutigen Tänzerin, die kaum den gängigen Erwartungen an eine Tänzerfigur entspricht. Eine dralle Person, so hätte man früher ungestraft und durchaus nicht diskriminierend sagen dürfen, die die Schwerkraft aufzuheben scheint und mit Figuren und Bewegungsabläufen glänzt, die man kaum einer den üblichen Erwartungen entsprechenden Tänzerin zutraute. Ihr folgen die übrigen sieben Tänzer der Compagnie. Ein Tänzer ginge auf der Straße eher als Türsteher und Bodybuilding-Fan durch, eine andere Tänzerin überragt alle anderen der Compagnie und so weiter. Die Freude und das Erstaunen sind groß, dass die Franzosen wohl zehn Jahre weiter sind, was den zeitgenössischen Tanz und seine Figuren angeht. Hier wird offenbar Diversität als selbstverständlich angenommen. Das beeindruckt – bis zur Nachlese. Trotzdem ist die Freude groß, dass man sich dieses Erlebnis der Selbstverständlichkeit nicht durch eine Vorbereitung genommen hat. Denn auch in Frankreich handelt es sich bei der Compagnie La Baraka um ein Ausnahmeprojekt, das Abou Lagraa und seine Frau Nawal Lagraa Aït Benalla ins Leben gerufen haben. Die beiden Choreografen haben Menschen eine Chance gegeben, sich in ihrer Compagnie zu bewähren, nachdem ihre Karriere in die Sackgasse geraten ist. Bei der Auswahl war nicht die Vorbildung entscheidend, sondern der Wille, sich in einer Compagnie zu bewähren. Aus 700 Bewerbungen wurden zehn Menschen ausgewählt. Das bedeutet aber auch, dass mindestens 700-mal Lehrer und Ausbilder bitter versagt haben, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. Zehn von ihnen haben also in Annonay die zweite Chance bekommen auf einen Berufseinstieg, der ihnen aus den unterschiedlichsten Gründen im ersten Anlauf verwehrt blieb.

Foto © Dan Aucante

Der unvorbereitete – und damit unvoreingenommene – Mensch staunt über die gezeigten Leistungen, die höchste Ansprüche noch übersteigen. Im ersten Teil des Abends treten die acht Tänzer in scheinbar einheitlichen, orangefarbenen Overalls von Charlotte Pareja auf, die mit ihren weitausgestellten Hosenbeinen größtmögliche Bewegungsfreiheit bereiten, ohne den Körper zu verstecken, und erst auf den zweiten Blick ihren Detailreichtum offenbaren. Denn kein Kostüm gleicht dem anderen in der Ausführung. So viel filigrane Arbeit erlebt man nicht mehr so oft. Die Bühne bleibt leer und ganz den Tänzern überlassen, wird aber von Alain Paradis mit seinem Lichtdesign in kräftigen Farben gepinselt, ohne die Tänzer im Halbdunkel absaufen zu lassen. Und so können sie sich zu Sonaten und Partiten von Johann Sebastian Bach austoben, die Hélène Schmitt auf der Geige eingespielt hat. Neben der ungewöhnlichen Konstellation, die Tänzer in zwei Dreier-Reihen und einer Zweier-Reihe tanzen zu lassen, ermöglicht Abou Lagraa jedem einzelnen, sich in einem Solo zu präsentieren. Nein, das ist keine Bewerbung, sondern eine Leistungsschau, in der die Tänzer ihre Lebenserfahrung oder wenigstens einen Teil davon verarbeiten. Das geht von ungewöhnlichen Bewegungsabläufen, die in abrupten Gegenläufen enden, bis zu akrobatischen Sprüngen. Eine eindrucksvolle Leistung.

Im zweiten Teil des Abends hat Nawal Lagraa Aït Benalla das Sagen. Und sie entscheidet sich dankenswerterweise für das Adagio von Samuel Barber, über das Oliver Innocenti den Text des Agnus Dei gelegt hat, der von Voces8 gesungen wird. Hier gibt es eine einheitliche Erzählung, in der die Tänzer zu einer größeren Einheit und klarerer Struktur finden. Sie tragen jetzt schwarze Hosen – mit Bügelfalten – und hellblaue Hemden. Die Damen zeigen schwarze Büstenhalter darunter. Der Druck im Kessel erhöht sich. Und die Tänzer halten dem wunderbar stand. Hochenergetisch finden sie sich ins Finale.

Das Publikum springt von den Sitzen auf, um zu applaudieren. Diese Tänzer in der vielbeschworenen Diversität sind die Zukunft. Sie stehen mit strahlenden Augen vor Hunderten Menschen, die endlich wieder ihren Klatschmarsch skandieren dürfen. Dass es die ersten Schritte in ihr Berufsleben waren, mag nach diesem Abend zwar niemand glauben, aber die Hoffnung ist groß, dass es sich genau so verhält. Und an das Düsseldorf-Festival geht das große Lob für die Entscheidung, diese Compagnie einzuladen. Auf diesem Niveau darf es weitergehen.

Michael S. Zerban