O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © O-Ton

Düsseldorf-Festival 2021

Minimal mit maximaler Fantasie

ORFEO
(Elina Albach)

Besuch am
21. September 2021
(Einmalige Aufführung)

 

Düsseldorf-Festival, Neanderkirche, Düsseldorf

Die Bolkerstraße gehört insbesondere für auswärtige Gäste zu den Hauptattraktionen der Düsseldorfer Altstadt. Hier reihen sich Restaurants an Kneipen an Clubs. Selbst am Montagabend sind die Lokale gut besucht. Und man muss schon mit weit offenen Augen durch die Straße flanieren, um die Turmfassade der aus dem 17. Jahrhundert stammenden Neanderkirche zu entdecken, die nach hinten versetzt gegenüber einer Brauerei liegt, deren Tische bis in den Zugang kurz vor dem Kirchhof aufgestellt sind. Die Neanderkirche ist ein wunderbares Beispiel für die Hinterhofkirchen, die den Lutheranern zugestanden wurden. Unauffällig hatten sie zu sein. Hier gibt es keinen Altarraum. Die Kirche ist an Schlichtheit kaum mehr zu übertreffen. An der Längswand ist eine Kanzel angebracht. An drei Seiten sind Bänke aufgestellt. Darüber erheben sich zwei Emporen. Auf der ersten ist eine Orgel untergebracht. Auf beiden kann man nur hören, nicht sehen. Aber vor der Kanzel gibt es noch eine Fläche, die heute Abend mit Instrumenten dichtgedrängt vollgestellt ist. Für das Düsseldorf-Festival ist es „unser kleiner Kammermusiksaal“, sagt Christiane Oxenfort, eine der beiden Ausrichter des Festivals. Und an diesem Abend ist er gerade groß genug, um etwas ganz und gar Ungewöhnliches zu erleben.

Vor 400 Jahren komponierte Claudio Monteverdi L’Orfeo und galt damit im Nachhinein als „Erfinder“ der Oper. Nun darf man sich eine solche Partitur nicht als genaue Notation vorstellen, sondern eher als Skizze. Nun gibt es zwei Möglichkeiten. Anhänger der historisch informierten Aufführungspraxis tun so, als hätten sie die Weisheit gepachtet, wie diese Oper zu klingen habe. Oder man nimmt das vorhandene Material und versucht, daraus etwas Neues zu schaffen, das den Hörgewohnheiten der Gegenwart entgegenkommt. Elina Albach widmet sich seit ihrem fünften Lebensjahr dem Cembalo, stammt sie doch aus einer Familie, die sich mit der alten und Kirchenmusik beschäftigte. Meisterschaft erlangte sie während ihres Studiums an der Schola Cantorum Basiliensis. Und sie entschied sich, nicht der historisch informierten Aufführungspraxis anzuhängen, sondern aus dem bescheiden vorhandenen Material eine zeitgemäße Musik zu schaffen. Ein erster Versuch mit Johann Sebastian Bachs Johannespassion brachte ihr viel Beachtung ein. Für Düsseldorf hat sie sich Monteverdis L’Orfeo vorgenommen. Besondere Herausforderung dabei war, das Stück von zwei Stunden auf etwas mehr als eine Stunde zu kürzen.

Elina Albach – Foto © O-Ton

Mit einem Minimum an Material und einem Maximum an Fantasie erzählt sie die Geschichte des Mannes neu, der seine Geliebte an den Tod verliert und sie aus dem Geisterreich wieder zurückholen möchte. Sie hält sich insofern an Monteverdis Oper, als sie die Geschichte der fünfaktigen Aufführung als Powerpoint-Präsentation in Worten an die Wand wirft, während sie ihr Ensemble Continuum dazu antreibt, die Musik auf ungewöhnliche Art und Weise erklingen zu lassen. Gut, für Puristen ist das nichts, die einen möglichst alten Dirigenten vor Augen haben, der möglichst viele alte Instrumente von möglichst jungen Musikerinnen bedienen lassen möchte, während auf der Bühne ein Regisseur etwas inszeniert, was hinterher alle als unangebrachtes Regie-Theater aburteilen.

Albach erzählt die Geschichte mit einer Mischung aus historischen Instrumenten und höchst modernen perkussionistischen Klängen. Sie selbst steht an einer Kombination aus Truhenorgel und darübergelegtem Cembalo. Neben ihr bedient Liam Byrne die Viola da Gamba und ein Cello mit Bogen oder aus der Hand gezupft. Eine Augenweide. Lambert Colson hat gleich eine ganze Sammlung von Zinken mitgebracht, gegen die Trompeten wie stümperhafte Instrumente wirken. Dass er zwischenzeitlich die Positionen und damit die Klangräume wechselt, verschafft einen zusätzlichen Reiz. Und Philipp Lamprecht hat als Perkussionist eine riesige Sammlung an Instrumenten auf die Spielfläche gestellt. Von der dicken Trommel über Tambourine und Glocken bis zu einer Vielzahl von Marimbafonen lebt er das Spektrum der verschiedenen Instrumente aus.

So entsteht eine spannungsgeladene, abwechslungsreiche und fesselnde Musik, die nur annähernd daran denken lässt, dass sie im Kern 400 Jahre alt ist. Und wenn Lamprecht unter wuchtigen Schlägen auf die dicke Trommel den Raum verlässt und zur Empore aufsteigt, ganz so, wie Orpheus von Zeus in den Himmel gebeten wird, will das Publikum noch gar nicht recht glauben, dass bereits eine Stunde vergangen ist. Nach dem letzten Schlag herrscht sekundenlange Stille, ehe sich der Applaus Bahn bricht. Stärker könnte der Kontrast kaum sein, wenn man aus der Kirche wieder auf die Bolker Straße tritt, wo das Leben pulsiert, als gäbe es keine Unterwelt.

Michael S. Zerban