O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Ensemble Krunk - Foto © Susanne Diesner

Schumannfest 2022

Fernsehabend

NEULAND VOL 2
(Diverse Komponisten)

Besuch am
15. Juni 2022
(Einmalige Aufführung)

 

Schumannfest 2022, Tonhalle, Düsseldorf

Was war das für ein rauschendes Fest am 10. Juni vergangenen Jahres – und mit Publikumszahlen, von denen man nur träumen kann. Dabei war es völlig egal, ob jemand hustet oder seinen Sekt während der Aufführung schlürft. Die Tonhalle hatte entschieden, im Rahmen des Schumannfestes an einem Abend Vertreter der so genannten Freien Szene in Düsseldorf auf die Bühne zu holen. Zwölf Auftritte gab es bei Neuland, die allerdings „nur“ als Livestream zu sehen waren. Im Saal war Publikum offiziell verboten. Das brachte der Tonhalle allerdings mal eben 5.000 Zuschauer für einen Abend. Über fünf Stunden vergingen wie im Fluge, wunderbar moderiert von Michael Becker, dem Intendanten selbst. Das Video kann man sich heute noch anschauen.

Da lag es nahe, einen solchen Abend zu wiederholen. Neuland Vol 2 der naheliegende Titel. Anstatt beim erfolgreichen Konzept zu bleiben, kamen die Planer des Schumannfestes auf die Idee, diesen Abend mit dem Motto des Festivals, Kunst total, zu kombinieren. Bewerben konnten sich in diesem Jahr deshalb nur „Kunstpaare“. Worauf das hinausliefe, hätte man sich – vor allem anhand der Bewerbungsunterlagen – an fünf Fingern abzählen können. Denn zu unterschiedlich sind die Entwicklungs- und Darstellungsprozesse von Musik und bildender Kunst. Immerhin kann man es als interessantes Experiment betrachten. Und das muss erlaubt sein. Das Ergebnis ist ein Fernsehabend, weil die bildende Kunst sich überwiegend über Video mit der Musik verbindet.

Barbara Schachtner und Dorrit Bauerecker – Foto © Susanne Diesner

Warum Becker in diesem Jahr auf die Moderation verzichtet, wird sein Geheimnis bleiben. Eine falsche Entscheidung ist es allemal. Stattdessen wird eine junge Frau verpflichtet, die Bewegung als Notfallmaßnahme versteht und allenfalls für das Guinness-Buch der Rekorde interessant sein könnte, nachdem man den Gebrauch des Wortes „genau“ ausgezählt hat. Vollkommen unverständlich, warum hier nicht, wenn schon Becker sich nicht länger verantwortlich fühlt, ein Profi verpflichtet wurde. Der kennt dann auch mehr als die Frage „Wer möchte was erzählen?“ und kann gender-ideologisch aufgeblasene Werbeblöcke, die von Möchtegern-Künstlern getextet werden, rechtzeitig unterbinden, anstatt dazu zu grinsen. Das Fatale an einer solchen Fehlbesetzung ist, dass sie sich durch den ganzen Abend zieht.

Das Publikum hat für solche Dinge eine feine Nase. Und so erinnert die Zahl der Zuschauer eher an ein größeres Familienfest als an ein gut besuchtes Konzerthaus. Da sind manche Künstler mehr Publikum an ihren üblichen Auftrittsorten gewohnt als in der Tonhalle. Die Künstler allerdings dürfen auf ihren Websites die Tonhalle als Auftrittsort verzeichnen und haben schon von daher gewonnen. Motivation genug, sich vom geringen Interesse nicht beeindrucken zu lassen.

Frederike Möller hat sich in Düsseldorf längst einen Namen gemacht. Sie der Freien Szene zuzurechnen, ist ein bisschen gewagt, tritt sie doch mit ihrem Toy-Piano-Festival an Spielstätten wie dem Palais Wittgenstein auf. Aber vielleicht sollte man das auch nicht so eng sehen, denn immerhin kommt sie mit einer interessanten Idee auf die Bühne. Um ihre Idee zu verwirklichen, hat sie sich der Hilfe des Videokünstlers Michalis Nicolaides versichert. In ihrer Bewerbung beschreibt sie ihren Auftritt. „Der Orchesterpart am Klavier wird nicht nur von einer Frederike gespielt, sondern gleich von dreien. Auch die Klaviere auf denen die digitalen Frederiken spielen, werden unterschiedliche sein. In Echtzeit darf ich dann das Solo aus dem langsamen Satz des berühmten Mozart-C-Dur-Konzertes mit mir selbst am Klavier und am ToyPiano – zusammen mit Michalis – auf die Bühne der Tonhalle bringen.“ Damit gelingt ihr eine großartige Eröffnung des Abends. Wenn man jemanden der Freien Szene zurechnen möchte, dann sind das am ehesten Barbara Schachtner und Dorrit Bauerecker. Die beiden ziehen als Interstellar 227 seit 2015 durch die Lande, entwickeln szenisch-choreografierte Bühnenprogramme, bei denen Genre-Grenzen sie so gar nicht interessieren. Für heute Abend haben sie sich mit dem Bühnenbildner Norbert van Ackeren und der Textkünstlerin Swantje Liechtenstein zusammengetan, um das Publikum zu beeindrucken. Und das gelingt ohne Schwierigkeiten.

Bariton Rolf A. Scheider ist in der Kirchenmusik und auf der Opernbühne zuhause. Bereits im vergangenen Jahr trat er mit einem ausgezeichneten Programm bei Neuland auf. Jetzt hat er seinen langjährigen Klavierbegleiter Thomas Hinz und die Künstlerin Lydia Drontmann mitgebracht. Jedem Auftritt werden 15 Minuten zugestanden, und die drei wissen die Zeit zu nutzen, um die Schrecken des Krieges hautnah zu vermitteln. Scheider hat zwei Lieder von Gustav Mahler mitgebracht. Der Tamboursg’sell und Revelge stammen aus der Liedsammlung Des Knaben Wunderhorn. Der eine Trommler stirbt auf dem Schlachtfeld, der andere im Gefängnis. Und da klingt das „Tralali, tralaley, tralalera …“ bei Scheider so gar nicht mehr lustig. Währenddessen übermalt Drontmann das Foto stolz vor dem Volk paradierender Soldaten. Herauskommt ein Totentanz roter Figuren vor verblassender Begeisterung des Volkes. Großartig.

Auch bei Thomas Klein und Karen Bößer steht das Video im Vordergrund. Während Klein sägende elektronische Geräusche allmählich um Basssequenzen erweitert, erhebt sich Tänzerin Bößer langsam und wendet sich dem Mond zu, der peu à peu im Video in den Mittelpunkt rückt. Under Moon, so der Titel des Werks, geht Bößer eine Beziehung mit dem Planeten ein, ehe sie in ihre Ausgangsposition zurückkehrt und der Mond sich in Pixel auflöst.

Den Gitarristen Arturo Castro Nogueras der Freien Szene zuzurechnen, klingt schon verwegen. Spätestens hier müsste man auch Igor Levit, der vor einigen Tagen in der Tonhalle auftrat, in die Freie Szene einordnen. Damit verliert Neuland mehr und mehr die eigene Idee. Schön, dass das Projekt stimmt. Zu Balletto von Manuel Maria Ponce zeigt Fotgraf Nyani Quarmyne als Dia-Schau Bilder aus Südossetien. El Adiós von Joaquin Clerch – es gibt vermutlich keinen Konzertabend von Nogueras, bei dem nicht wenigstens ein Stück seines Lehrers aufgeführt wird – begleitet Fischer am Vlota-See. Roberto Sierra hat Expressivo, casi religioso vermutlich nicht für die Schwarzweiß-Bilder aus Belgien geschrieben, aber es passt trotzdem gut. Zu Poquita Cosa von Miguel Alcaide zeigt Quarmyne Bilder aus aller Welt. Die Idee, durch „die Synthese von Klang und Bild ans Ziel der gemeinsamen Kunstideale“ zu kommen, gelingt nur bedingt, auch wenn grandioser musikalischer Auftritt und eindrucksvolle Bilder im Gedächtnis haften bleiben.

Rolf A. Scheider mit Thomas Hinz und Lydia Drontmann – Foto © Susanne Diesner

Leonhard Bartussek erinnert mit seinem zweiten Stück an die Bürgerrechtlerin Maryia Kalesnikava, die er als Flötistin in Deutschland kennengelernt hat und die seit 2020 politische Gefangene in Minsk ist. Bartussek versucht, „entdigitalisiert zu leben“, und so wird seine Hommage an Buenos Aires als Schau von einem Dia-Projektor gezeigt. Die zwangsläufig entstehenden Trapezbilder hätte man selbst zu Zeiten, als der Dia-Projektor das Schreckgespenst gemeinsamer Familienabende war, als unzumutbar bezeichnet. Ehefrau und Malerin Sabrina Haunsperg tritt als Sängerin auf. Zudem spielt Bartussek mit dem Geigenbogen auf einem Fuchsschwanz oder trommelt auf einem leeren Plastikkanister. Ach, und Wasserspiele mit Hilfe eines Overheadprojektors gibt es auch noch. Ein buntes Panoptikum, das ein wenig altbacken daherkommt, aber durchaus gefallen kann.

Einen weiteren Höhepunkt liefert das Ensemble Krunk. Anna Seropian am Klavier, Sonja Asselhofen am Cello, Hovhannes Margaryan mit Zurna und Duduk und Simon Tressin als Perkussionist spielen ganz wunderbare Musik, die an Armenien und Georgien erinnert, in neuen Arrangements. Dazu tanzt Rymon Zacharei. Allerdings ertappt man sich mehr als einmal dabei, dass man seinen Bewegungen nicht folgt, weil die Musik allein vollkommen fesselt. Wunderbar, wie sich der Kranich – so heißt Krunk auf Deutsch – in die Lüfte erhebt und alte Musik in die Gegenwart hebt. Und damit findet ein interessanter Abend sein abruptes Ende. Angela Froemer und Ralf Herrnkind melden sich krankheitsbedingt ab. Also ist das Duo UnStumm an der Reihe. Ein absoluter Fehlgriff, der in keiner Weise nachvollziehbar ist. Der ganz große Anspruch, zwei menschliche Künstler und zwei Künstler künstlicher Intelligenz, also Avatare, „in einer gemeinsamen audiovisuellen Live-Performance“ zu bieten, ist so was von daneben, dass es die Zuschauer nicht nur verärgert, sondern auch dafür sorgt, dass beinahe die Hälfte des Publikums das Konzert vorzeitig verlässt. Eine Menge Krach von der E-Gitarre mitsamt elektronischer Hilfsmittel und bewegte Bilder sind noch keine Kunst, sondern einfach nur Krach und noch einmal Videoprojektion. Da ist die Jury gründlich auf Großmäuligkeit hereingefallen. Es mag eine Zielgruppe für den Lärm geben, in der Tonhalle ist sie nicht. Bedauerlich ist das für die Künstler, die bis zum Schlussapplaus hinter der Bühne gewartet haben und nunmehr einem nahezu geleerten Saal gegenüberstehen.

Neuland Vol 2 war die richtige Entscheidung. An der Umsetzung hapert es gewaltig. Und so ist zu hoffen, dass die Jury sich noch einmal gründlich darüber Gedanken macht, was es eigentlich bedeutet, die so genannte Freie Szene einzuladen. Das Experiment mit dem Fernsehabend darf man getrost als gescheitert betrachten. Aber Scheitern ist immer Chance, wenn man bereit zur Reflexion ist.

Michael S. Zerban