Kulturmagazin mit Charakter
Kunststücke
Fast 2000 Kilometer trennen uns von einem Krieg, der uns als friedliebende Menschen nur mittelbar betrifft. Wenn man Glück und gute Verbindungen hat, ist das eine Tagesreise, gern in diesen Zeiten auch schon mal ein bisschen länger. Und trotzdem müssen wir das schreckliche Geschehen zur Kenntnis nehmen. Weil unsere Solidarität erforderlich ist. Darum wirbt der Fotograf Alexander Chekmenev mit Porträts aus den U-Bahn-Schächten und Bunkern in Kiew. In der Düsseldorfer Galerie Clara Maria Sels sind einige von ihnen ausgestellt.
Alexander Chekmenev – Foto © O-Ton
Um die Geschichte Düsseldorfs kennenzulernen, nutzt es wenig, über die Königsallee zu flanieren, am Kö-Bogen zu verweilen oder mit Junggesellenabschieden durch die Altstadt zu ziehen. Dann schaut man lieber in die Hinterhöfe, in denen sich heute gerne Galerien, Gastronomie-Betriebe oder Handwerker niederlassen. Wo es früher laut und dreckig zuging, kann man dort herausgeputzte und sanierte Fabrikgebäude entdecken. So wie in der Poststraße 3 zwischen Speeschem Graben und Karlsplatz, einen Steinwurf von der Maxkirche entfernt. Um 1904 ließ der Architekt Leo von Abbema hier ein „markant-verspieltes“ Haus im Stil der Neugotik errichten. Im Hinterhof fanden verschiedene Betriebe ihren Sitz. Heute ist das alles liebevoll saniert, Galerien und Wirtschaftsprüfer haben sich niedergelassen und bewusst den industriellen Charme der Gebäude beibehalten. So wie die Galerie Clara Maria Sels. Stolz weist die Galeristin darauf hin, dass die Schalung der Betondecken unter dem weißen Anstrich noch genauso gut zu erkennen ist wie der Betonboden in seinem neutralen Grau. Lediglich ein Arbeitsbereich ist in der ehemaligen Halle abgetrennt. Und ein bisschen Luxus gibt es dann doch noch. Der Architekt hat seinerzeit empfohlen, einen Seitenarm mit einer Glashülle zu versehen, so dass eine Art Wintergarten entsteht, der nicht nur wunderbares Licht für die gezeigte Kunst gibt, sondern sich auch hervorragend in die Gesamtarchitektur einfügt. Von einer „Lauflage“ ist die Galerie im ersten Obergeschoss weit entfernt. Verirrt sich trotzdem mal ein Besucher hierher, wird er freundlich begrüßt und darf sich in Ruhe umsehen. Sels bietet ein Gespräch an, beantwortet gern Fragen zur aktuellen Ausstellung, lehnt es aber grundsätzlich ab, beim Besucher den Eindruck zu erwecken, er müsse etwas kaufen.
Seit 1989 gibt es die Galerie. In den ersten drei Jahren konzentrierte sie sich ausschließlich auf die zweite russische Avantgarde. Dann erweiterte Sels, die ursprünglich Philosophie studierte, ehe sie eine Fotolehre absolvierte, ihr Programm auf internationale Positionen, inzwischen mit einem besonderen Fokus auf die Fotografie. Duane Michals und Francesca Woodman gehören hier zu den Künstlern der ersten Stunde. Seit einigen Jahren hat Sels auch den ukrainischen Fotografen Alexander Chekmenev unter ihren Fittichen.
Chekmenev ist in Luhansk geboren und aufgewachsen. Mit 15 wechselte er auf Anraten seines Lehrers von der Schule auf ein Metall-Technikum. Grinsend berichtet er von dem Wiedersehen mit dem Lehrer vor einigen Jahren, bei dem der ihm so stolz begegnete, als sei er für seine Karriere verantwortlich. Diese Form der Wahrnehmung scheint bei Lehrern sehr beliebt zu sein, nicht nur in der Ukraine. Mit 19 Jahren trat Chekmenev seinen Militärdienst an. Er hatte Glück und landete irgendwo im Niemandsland in Russland, wo er zwei Jahre verbrachte. Zurück in seiner Heimatstadt, musste er sich entscheiden, wie es mit ihm weitergehen sollte. Ein sechsjähriges Fotojournalistenstudium in Moskau lehnte er ab. Die Zeit lief ihm davon. Stattdessen gab es eine Ausbildung in einem kleinen Fotostudio in Luhansk. Während er dort das Handwerk lernte, lief er mit seiner analogen Kamera durch die Stadt und fotografierte das, was ihn am meisten interessierte: Menschen. Menschen, die die Krise des wirtschaftlichen Zusammenbruchs der Sowjetunion überleben mussten. 1997 zog er nach Kiew, wo er fortan als Fotojournalist arbeitete.
Er wäre vielleicht einer von vielen geblieben, hätte es den 15. Dezember 2022 nicht gegeben. Gut, bis dahin hatte er bereits zahlreiche Arbeiten in amerikanischen Magazinen, darunter The New York Times, veröffentlicht. 2014 war er sogar Fotograf des Jahres in der Ukraine. Aber am 15. Dezember 2022 wurde sein Porträt des ukrainischen Ministerpräsidenten Wolodymyr Selenskyj für 150.000 US-Dollar versteigert, das zuvor als Deckblatt des Time Magazine veröffentlicht worden war. Das Geld spendete er übrigens vollständig für wohltätige Zwecke. Davon wurden Generatoren für Kindereinrichtungen gekauft, die unter dem Angriffskrieg Putins zu leiden hatten. So viel dazu, dass ukrainische Männer in die Armee zwangsverpflichtet werden, um ihrem Vaterland zu dienen.
Was wirklich unter die Haut geht
Foto © O-Ton
Die zentrale Frage für Chekmenev seit Ausbruch des Krieges: Wie stellt man ihn fotografisch dar? Ja, er hat sie auch fotografiert: Den explodierenden Lkw, die Überreste des russischen Panzers, die sich in die Straßendecke einfräsen, als sei das Militärgerät gerade in den Untergrund abgetaucht. Alles sehr beeindruckend. Aber für Sascha, wie ihn seine Freunde nennen, trifft das nicht den Kern. Und so begann er, das zu fotografieren, was ihn immer schon am meisten begeisterte: Menschen. Zum ersten Mal legte er die analoge Kamera aus der Hand, griff zur spiegellosen Digitalkamera und zog in die U-Bahn-Schächte und Bunker der Stadt Kiew. Dort traf er die, die vom Krieg am meisten in Mitleidenschaft gezogen werden. Zivilisten, wie es im Militärdeutsch so schön heißt. Also Bürger, die sich nicht wehren können, die ohne jede Chance auf Verteidigung überleben wollen, die Schutz unter der Erde suchen. So entstanden 24 Porträts unter dem Titel Facets of Resistance and Resilience, die in ihrer Normalität kaum zu übertreffen sind. Anders als üblich, verzichtete Chekmenev dabei auf Hintergrund- und Seitenleuchten, hielt den Menschen lediglich eine LED-Leuchte ins Gesicht. Fast wie gemalt wirken die Gesichter, in deren Hintergrund das Schwarz, die Tragödie, lauert. Chekmenev ist kein Bildbearbeiter, er braucht keine Software, um seinen Bildern Tiefe zu verleihen. Menschen wie du und ich, Menschen jeden Alters, jeder Profession schauen in die Kamera. Es braucht einen Moment, bis man begreift, dass es weder explodierende Fabriken noch sterbende Körper braucht, um den Alltag und dessen Grausamkeit im Krieg zu zeigen.
Zwei dieser Bilder hängen bereits im Centre Pompidou in Paris. Sels hat jetzt sechs Fotografien nach Düsseldorf geholt. Sie hängen im „Wintergarten“ in normaler Größe. Das gehört zur Philosophie der Galeristin. Nicht die Größe der Bilder, sondern ihre Ausdruckskraft stehen für sie im Vordergrund. Quasi konterkariert hat sie die eindrucksvollen Porträts mit früheren Arbeiten Chekmenevs, die das „normale“ Straßenleben in Odessa abbilden. Street photography vom Feinsten. Die eindrucksvolle Ausstellung ist noch bis Ende Januar zu sehen.
Michael S. Zerban