O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Asphalt-Festival 2020

Sex auf dem Kopfhörer

REVOLT. SHE SAID. REVOLT AGAIN
(Alice Birch)

Besuch am
10. Juli 2020
(Premiere)

 

Asphalt-Festival, Düsseldorf, Bühne am Kaiserteich

Schon am vorangegangenen Eröffnungsabend ist das Asphalt-Festival, das in diesem Jahr unter freiem Himmel stattfindet, mit einem kurzen Schauer davongekommen. Auch jetzt, am zweiten Tag, in dessen Verlauf es immer wieder geregnet hat, bleibt es am Abend trocken, ja, sogar die Sonne lässt sich noch sehen. Ein kühler Wind veranlasst Christoph Seeger-Zurmühlen, einen der beiden künstlerischen Leiter, Decken anzubieten. Der Service auf der Tribüne am Kaiserteich in Düsseldorf ist vorbildlich. Da kann sich noch manches Festival was abschauen. Auch bei den Anti-Corona-Maßnahmen weicht der Stress einer allmählich entspannteren Routine, ohne deshalb weniger auf deren Durchführung zu achten. Ja, hier fühlt man sich gut aufgehoben. Und so gerät die Seuche für die Besucher hier tatsächlich mal nahezu in Vergessenheit oder immerhin so weit, dass man sich auf das kulturelle Geschehen konzentrieren kann.

Dazu trägt auch die vorbildliche Technik bei. So mancher mag hier zunächst mit Skepsis reagieren, weil der Bühnenton auf Kopfhörer übertragen wird. Da könnte schließlich der Live-Charakter verlorengehen. Gerade, wenn die Technik zum ersten Mal eingesetzt wird, kommt es auch gerne mal zu ungewollten Rückkopplungen, Tonausfällen auch schon mal über einen längeren Zeitraum oder ähnlichen Unannehmlichkeiten, die einem das Vergnügen gründlich vergällen. Bei den Touren des Theaterkollektivs Pièrre.Vers, die fester Bestandteil des Asphalt-Festivals sind und zu dessen Höhepunkten gehören, konnten sich die Verantwortlichen allerdings schon üben, und das kommt dem Festival unter besonderen Bedingungen zu Gute. Die Übertragungsqualität ist hervorragend, nicht zu vergleichen mit einer Mikrofonierung, die auf Lautsprecher übertragen wird. Auch hier können andere Festivals hinhören, um zu lernen.

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Ein Wermutstropfen scheint zu bleiben. Die internationale Kunstszene muss draußen bleiben. Reisen sind nach wie vor nur bedingt möglich. Schließlich wird sich kein vernünftiger Mensch den Bedingungen unterwerfen, die derzeit in Flugkabinen herrschen. Überhaupt wird man sich auch in Zukunft Fragen stellen müssen, ob die seit Jahren zunehmenden Künstlerreisen nicht durch sinnvollere Lösungen ersetzt werden können. In Deutschland, und das wird das Asphalt-Festival in den kommenden Tagen noch zeigen, herrscht ohnehin eine hohe internationale Durchmischung, so dass hier keiner Angst zu haben braucht, neue Trends im amerikanischen Jazz zu verpassen, ohne dass ein Saxofonist aus New York für ein Konzert eingeflogen wird.

Dass der heutige Abend ausschließlich von deutschen Künstlerinnen bestritten wird, ist wohl eher der Zufall, der die Regel bestätigt, und das Stück stammt dann auch gleich wieder von der englischen Autorin Alice Birch. Nein, vor dumpfem deutschem Nationalismus, der in der Kultur Einzug hält, braucht niemand Angst zu haben. Und schon gar nicht bei Birch, deren Text von Corinna Brocher ins Deutsche übersetzt wurde. Ein Text, über den man unter „normalen“ Umständen am Abend im Festival-Camp im Weltkunstzimmer sicher noch lange diskutiert hätte. Dass der sich heftig und knackig entwickelt, dafür sorgen Sophia und Thalia Killer, die für Regie, Bühne und Kostüm verantwortlich zeichnen. Auf der Bühne stehen vier Sessel. Im Hintergrund ziehen eindrucksvolle Wolkenformationen hinter den beiden Hochhäusern her, hin und wieder streifen Sonnenstrahlen den Teich. Eine Frau in schwarzem T-Shirt, schwarzen Jeans und weißen Turnschuhen lümmelt sich auf den ersten Sessel, lutscht an etwas, was man auf den ersten Blick für ein Eis am Stiel halten könnte. Später kommen Zweifel auf, noch später stellt sich heraus, dass es sich hier um ein Vulva-Symbol handelt. Drei weitere Frauen gesellen sich nach und nach auf die übrigen Sessel. Gleich gekleidet, lediglich die goldfarbenen Symbole auf den T-Shirts unterscheiden sich, lutschen sie ebenfalls an der Süßigkeit herum, ehe sie sie verspeisen. Bevor das Stück Revolt. She said. Revolt again endgültig beginnen kann, entfernen Bühnentechniker den Steg, der Bühne und Zuschauer-Plattform verbindet.

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Rebelliere. Sagte sie. Rebelliere wieder – Der Titel klingt auch im Deutschen vielversprechend, selbst dann, wenn sich dahinter ein „feministisches Manifest“ verbergen sollte, wie es die Vorankündigung im Internet andeutet. Damit allerdings wird man Birch nicht ganz gerecht, denn es geht hier nicht um die 400. Sendung von Carolin Kebekus, sondern viel mehr darum, Sprachmuster aufzudecken. Und man muss schon genauer hinhören, um zu entdecken, dass es ganz oft eher um Unachtsamkeit bis hin zu fehlendem Respekt zwischen zwei Menschen – Geschlecht egal – geht. Genau diese Sequenzen machen auch die Größe des Abends aus. Und damit steigt das Stück gleich ein. Da gibt es ordentlich Sex auf die Ohren. Wie oft das Wort Vögeln fällt, hat vermutlich noch niemand gezählt, seitdem das Stück im Januar in Köln seine deutsche Erstaufführung erlebte. Er hätte auch einiges zu tun. Und die Killers baden sich darin, lassen sich chorisch darin aus. „Natürlich“ gibt es auch die üblichen Vorwürfe wie den Gender Gap in der Arbeitswelt. Eine Zugabe, gewissermaßen. Die vier Schauspielerinnen Fiona Metscher, Franziska Schmitz, Lisa Sophie Kusz und Mirka Ritter werden im spartanischen Bühnenbild ordentlich sprachlich gefordert. Das meistern sie selbst dann, wenn der Chor in einen Kanon zu verfallen hat. Nach rund einer Stunde steigern die Akteure sich in eine Art Finale, das sehr anstrengend wird. Hier kommt auch noch mal eine ordentliche Portion Bewegung ins Spiel, die sich bis dahin eher im Minimalismus übte. Dass sie am Ende den Ausstieg üben, weil sie das Scheitern ihrer Bemühungen erkennen, kann man so lösen, nachdem die Damen die musikalischen Einsprengsel von Jakob Lorenz abgewürgt haben. Zwingend notwendig ist es nicht, aber so gehört sich das halt für ein wirklich gutes Stück.

Eine weitere Aufführung ist vorgesehen. Gut für alle, die sich bemühen wollen, anderen Mitmenschen beim Sex oder der Arbeit – und das wäre ja schon mal was – in der Kommunikation mehr Respekt zu erweisen.

Michael S. Zerban