O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Hänsel und Gretel 2017

Jetzt kann es Weihnachten werden

HÄNSEL UND GRETEL
(Engelbert Humperdinck)

Besuch am
1. Dezember 2017
(Premiere am 9. November 1991)

 

Oper Chemnitz

Alle Jahre wieder, wenn die Adventszeit uns aus dem hektischen Alltag an etwas Besinnung mahnt, stehen zwei Klassiker auf den Spielplänen vieler Theater. Tschaikowskis Ballett Der Nussknacker und natürlich Engelbert Humperdincks Märchenoper Hänsel und Gretel, die nun schon seit über hundert Jahren Generationen von jungen Opernbesuchern verzaubert. Nun hat das Märchen mit Weihnachten und seiner religiösen Bedeutung rein gar nichts zu tun. Warum also wird Hänsel und Gretel fast ausschließlich in der Vorweihnachtszeit gespielt? Die Erklärung liefert kein geringerer als der große Komponist Richard Strauss, der ein enger Freund und Bewunderer Humperdincks war und die Uraufführung dieser Oper am Vorabend des Heiligen Abend 1893 in Weimar dirigierte. In einem Brief, den Strauss wenige Wochen vor der Uraufführung an Humperdinck schrieb, beschreibt er seine Gefühle, die er beim Studieren der Partitur empfunden hat: „Welch herzerfrischender Humor, welch köstliche naive Melodik, welche Kunst und Feinheit in der Behandlung des Orchesters, welche Vollendung des Ganzen, welch blühende Erfindung, welch prachtvolle Polyphonie und alles originell, neu und so echt deutsch …“ Diese so treffende Beschreibung zeigt aber auch die Schwierigkeit auf. Diese Oper mit ihren vielen Anklängen an Wagner kann man nicht mal so eben auf den Plan setzen. Es ist inhaltlich ein Märchen für Kinder, dessen Text Humperdincks Schwester Adelheid Wette eigentlich für eine Familienaufführung geschrieben hatte. Doch musikalisch ist das eine große Oper von einem Komponisten, der immerhin Richard Wagners Assistent bei der Uraufführung des Parsifal war und dessen Einfluss in den großen Orchesterpassagen sehr deutlich zu vernehmen ist. Und weiter schreibt Strauss: „Mein lieber Freund, Du bist ein großer Meister, der den lieben Deutschen ein Werk beschert, das sie kaum verdienen, trotzdem aber hoffentlich recht bald in seiner ganzen Bedeutung zu würdigen wissen. Na, und wenn nicht, so hab einstweilen von einem treuen Freunde und Gesinnungsgenossen innigsten Dank für die Freude, die Du ihm bereitet hast. Ich denke, Hänsel und Gretel soll an Weihnachten herauskommen.“

Und so erscheint noch heute Hänsel und Gretel alljährlich zur Weihnachtszeit auf den Spielplänen fast aller Opernhäuser. Weihnachten ist eben das Fest der Familie und Hänsel und Gretel die Familienoper schlechthin. Während die Kinder mit strahlenden Augen ihrem ersten Opernerlebnis entgegenfiebern, schwelgen die Erwachsenen in Nostalgie und Kindheitserinnerungen. Ein weiteres Phänomen ist, dass viele Opernhäuser ihre zum Teil sehr alten und klassischen Inszenierungen immer wieder hervorholen. Wer einmal eine schöne klassische Inszenierung dieser Märchenoper gesehen hat, der möchte auch nichts anderes mehr sehen. Und so spielen die Häuser ihre Inszenierungen so lange, bis irgendwann die Requisiten auseinanderbrechen.

Gleiches gilt für die Oper Chemnitz, wo seit über 25 Jahren Steffen Pionteks Inszenierung zum festen Weihnachtsprogramm vieler Chemnitzer Familien gehört. Umso erstaunlicher ist, dass die Wiederaufnahme am ersten Adventswochenende nur mäßig besucht ist. Viele leere Plätze im Parkett lassen erst mal nicht so wirklich vorweihnachtliche Stimmung aufkommen. Doch als der Vorhang sich zum Vorspiel hebt, und ein großes Bild mit der Weihnachtsgeschichte zum Vorschein kommt, merkt eine Dame in der achten Reihe lautstark an: „Jetzt kann es Weihnachten werden!“

Und alle Zuschauer, jung wie alt, die sich auf eine klassische Inszenierung gefreut haben, werden nun wahrlich nicht enttäuscht. Piontek hat das klassische Märchen mit Humor und einem kleinen Augenzwinkern auf die Bühne gebracht, kongenial ausgestattet von dem leider mittlerweile verstorbenen Ralf Winkler. Da sieht man im ersten Bild eine einfache Holzhütte ohne Dach vor einem Wald mit herbstlicher Färbung. Welches Kind wünscht sich nicht so eine Hütte? Im zweiten Bild kindlich schön, als nach dem Abendsegen die vierzehn Engel erscheinen, eine Engelspyramide bilden und große Pyramidenflügel mit einem Weihnachtsstern von oben herabgelassen werden. Ein Gruß an die erzgebirgische Kunst, deren Weihnachtspyramiden und Schwibbögen in Sachsen und Thüringen fester Bestandteil des Weihnachtsbrauches sind. Für die vielen Kinder beginnt die Oper so richtig erst im dritten Bild, wenn die Knusperhexe kommt. Und die lebt in einem Lebkuchenhaus, das nicht nur so ausschaut, sondern auch so riecht. Tatsächlich verbreitet sich im Opernhaus ein Geruch von Äpfeln, Mandeln und Zimt. Ein Erlebnis der besonderen Art, werden doch hier einmal alle Sinne angesprochen. Ein großer, gekachelter Ofen, in dem die Hexe am Schluss verschwindet, darf natürlich nicht fehlen.

POINTS OF HONOR

Musik
Gesang
Regie
Bühne
Publikum
Chat-Faktor

Und so bietet die Inszenierung alles, was man als Kind oder als jung gebliebener Erwachsener von einer Märchenoper erwartet. Und dass die Hexe sich am Ofen den Popo verbrennt, sorgt nicht nur bei den Kleinsten für Heiterkeit.  Eigentlich ein perfekter Abend für Jung und Alt, ja, wenn da nicht noch eine gewisse Kleinigkeit wäre. Hänsel und Gretel ist eben nicht nur ein Märchenstück für kleine Kinder, sondern eine große, musikalisch anspruchsvolle Oper, wie Strauss es treffend formuliert hat.

Und hier gibt es an diesem Abend doch zu viele Unstimmigkeiten, die einen großen Kunstgenuss vereiteln. Es ist in Ordnung, wenn man jungen Künstlern die Chance gibt, sich auszuprobieren. Dennoch sollte man ein ausgewogenes Verhältnis haben, um der Oper und einem anspruchsvollen Publikum gerecht zu werden. Regine Sturm singt die Partie der Gretel mit schöner, leichter Stimme, doch ihr Spiel ist auffallend zurückhaltend und unsicher. Vielleicht war die Probenzeit für die Wiederaufnahme zu kurz. Im dritten Bild scheint sie sich dann freigesungen zu haben und zeigt ihr schönes Stimmpotenzial. Sylvia Rena Ziegler als Hänsel ist da in ihrer Entwicklung schon deutlich weiter. Ihr kräftiger, warmer Mezzosopran ist ideal gelegen für diese Partie, da hörte man schon den künftigen Octavian. Mit großer Spielfreude zeigt sie die Facetten eines Lausbuben, die einfach zu dieser Partie gehören. Der gesungene Abendsegen zusammen mit Regine Sturm ist sehr innig gestaltet, so wie Kinder halt vor dem Schlafengehen beten.

Den großen Kontrast bilden in der Aufführung die Eltern. Dagmar Schellenberger, die Grande Dame der Operette und mittlerweile Intendantin in Mörbisch, kehrt hier musikalisch zu ihren Wurzeln zurück, hat sie doch als Feldmarschallin jahrelang reüssiert. Von ihrer Bühnenpräsenz und ihrer Ausstrahlung ist sie die perfekte Mutter, die schimpft, keift und schließlich vor Sorge und Kummer erschöpft zusammenbricht. Ihr dramatischer Sopran hat aber mittlerweile eine Schärfe und ein Vibrato, dass für diese Rolle noch tragbar ist, aber nicht mehr darüber hinaus. Matthias Winkler darf man durchaus als Urgestein an der Oper Chemnitz bezeichnen. Mit warmem Bariton und freundlichem Spiel verkörpert er eher einen milden, sanften Vater, dem das Wohl seiner Kinder doch sehr am Herzen liegt. Grandios Peter Svensson als Knusperhexe. Der Charaktertenor, der alle großen Wagner-Partien gesungen hat, bringt die stimmlichen und spielerischen Elemente, analog der Partie des Mime, mit und setzt sie mit so großer Spielfreude um, dass es besonders für die Kleinen im Zuschauerraum ein Riesenvergnügen ist. Mit wunderschön hellem und klarem Sopran streut Marie Hänsel als Sandmännchen nicht nur den Kindern Sand in die Augen, sondern weckt sie mit strahlender Höhe als Taumännchen wieder auf, optisch und sängerisch ein Genuss.

Einige Abstriche muss man bei dem Dirigenten Stefan Politzka machen, der als Solorepetitor mit Dirigierverpflichtung natürlich nicht über ein breites Repertoire verfügen kann. Er dirigiert die Robert-Schumann-Philharmonie solide, doch es fehlt der melodische Tiefgang, die köstliche Naivität der Melodik, die Polyphonie, die Strauss in seinem Brief an Humperdinck so plastisch beschrieben hat. Die erkennt man nur in Ansätzen, zumal es auch gelegentlich im Orchestergraben schon mal ordentlich klappert. Da hätte man von einem so wagnererfahrenen Orchester mehr Differenziertheit erwartet, und so bleiben die Gänsehautmomente vor allem in den großen Orchesterstellen leider aus. Oder um mit Strauss zu sprechen: „Es ist verteufelt schwer – das Hänselchen!“

Die Lebkuchenkinder, Mitglieder des Kinder- und Jugendchores der Oper Chemnitz, sind von Stefan Bilz gut eingestellt und erwachen am Schluss ganz schüchtern wieder zum Leben. Ein Augenschmaus sind die vierzehn Engel, alles Mitglieder der Opernballettschule Chemnitz, sie machen bei ihrem Auftritt nach dem Abendsegen als Engelspyramide ihrem Namen alle Ehren; optisch sicher das schönste Bild der Inszenierung.

Das Publikum ist am Schluss begeistert, vor allem die Kleinen jubeln lautstark bei allen Protagonisten, und Peter Svensson wird als Knusperhexe fast wie ein Popstar gefeiert. Dennoch, dass die Kinder während der Aufführung nicht ruhig bleiben können, das ist normal und verständlich, schließlich sind sie emotional doch stark beteiligt. Wenn dann aber die Erwachsenen meinen, lehrerhaft alles auch noch erklären und kommentieren zu müssen, dann geht der Kunstgenuss für den Opernliebhaber ziemlich in den Keller. Und Hänsel und Gretel ist nicht nur ein Märchen für Kinder, es ist in erster Linie eine große und anspruchsvolle Oper.

So bleibt am Ende ein gemischtes Gefühl. Einerseits das Erlebnis einer wunderbar gelungenen Inszenierung, andererseits eine musikalisch und sängerisch nicht wirklich mitreißende Vorstellung erlebt zu haben. Schade. Aber wie sagte die Zuschauerin in der achten Reihe doch? „Jetzt kann es Weihnachten werden“.

Andreas H. Hölscher