O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Thomas Berns

Ruhrtriennale 2022

Gehaltvolle Werke

VERGESSENE OPFER
(Diverse Komponisten)

Besuch am
11. September 2022
(Premiere)

 

Ruhrtriennale, Jahrhunderthalle Bochum

Vergessene Opfer gibt es in der Geschichte der Menschheit so viele wie Sand am Meer. Sie wurden und werden etwa wegen ihrer Herkunft, Weltanschauung, politischen Haltung, Religion und Sexualität verfolgt. Da ihrer öffentlich nicht gedacht oder sich wissenschaftlich nicht mit ihnen auseinandergesetzt wird, sind sie nicht bekannt. Auch Staaten können dazu beitragen, wenn sie von ihnen erst spät als Opfer anerkannt und entschädigt werden. Dieser Thematik widmet sich die Ruhrtriennale mit einem Konzert in der Bochumer Jahrhunderthalle. Drei Komponisten des letzten Jahrhunderts und Franz Liszt kommen in diesem Zusammenhang musikalisch mit gehaltvollen Werken zu Wort, die zu Unrecht kaum erklingen, aber passend zum Motto des Unbekannten passen.

In Olivier Messiaens erstem großen Orchesterwerk Les Offrandes Oubliées – auf Deutsch die vergessenen Opfer – aus dem Jahr 1930 sind sämtliche Merkmale seines Personalstils bereits enthalten. Es ist wie ein Altarbild in Form eines musikalischen Triptychons aufgebaut. Ihm ist ein Prosagedicht vorangestellt, das seinen Umgang mit dem Vergessen deutlich macht: „Die Arme ausgebreitet, zu Tode betrübt, vergießest du auf dem Kreuzesstamm dein Blut. Du liebst uns, süßer Jesus, wir haben es vergessen. Vom Wahnsinn und von der Schlange Zunge getrieben, sind wir in einem hemmungslosen, unaufhaltsamen Lauf in die Sünde hinabgestiegen wie in ein Grab. Hier ist der reine Tisch, der Quell der Mildtätigkeit, das Festmahl der Armen, hier das anbetungswürdige Mitleid, das uns das Brot des Lebens und der Liebe darbietet. Du liebst uns, süßer Jesus, wir haben es vergessen.“ Der Eingangssatz ist ein von den Streichern vorgetragenes Klagelied, unterbrochen von Seufzerfiguren. Im Mittelsatz geht es im Fortissimo rasend zur Sache. Unerbittlich werden die Sünden des Menschen dargestellt, der dem Abgrund immer näher kommt. Im Finale kommt schließlich in der Eucharistie über einem Klangteppich im Pianissimo die Menschheit zur Läuterung.

Foto © Thomas Berns

Die dreizehnte und letzte sinfonische Dichtung Von der Wiege bis zum Grabe ist eine der letzten Kompositionen von Franz Liszt. Von vielen wird der oft immer noch als Paganini des Klaviers bezeichnete Komponist qua seines Mephisto-Walzers in eine falsche Schublade gesteckt. Denn sein Spätwerk hat mit virtuosem Bombast nichts mehr zu tun. Er komponiert nun langsam und wohl durchdacht, feilt an jeder Note, musikalischen, klanglichen wie harmonischen Strukturen. Letztere stellt er schließlich in Frage, indem er als Vorreiter den Weg hin zur Auflösung der Dur-Moll-Tonalität beschreitet. Bekanntlich haben etwa Arnold Schönberg und Béla Bartók diese späten Tonschöpfungen genau studiert und sich davon inspirieren lassen. Die besagte Tondichtung ist ein Paradebeispiel. Auch sie ist wie ein Triptychon zusammengestellt. Eine Zeichnung des ungarischen Malers Graf Michael Zichy war seine Inspirationsquelle für die drei Teile mit symbolischen Gehalt. Die Wiege ist ein ganz empfindliches Klanggebilde, das die Unschuld eines Neugeborenen darstellt. Massive Klangbilder und dramatisch zugespitzte Gegensätze schildern anschließend den Kampf ums Dasein. Schließlich wird der Weg zur Hoffnung gebahnt, Zum Grabe: Die Wiege des künftigen Lebens, zur Rückkehr in ein unschuldiges neues Leben. So dominieren im Schlussteil ätherische Klangbilder.

Ganz anders verhält es sich mit Luigi Nonos Composizione per orchestra No. 1 aus dem Jahr 1951. Hier werden wesentlich radikalere Töne angeschlagen. Der 2003 verstorbene Dirigent und Musikwissenschaftler Kurt Pahlen schrieb einmal treffend über ihn: „Einer der führenden Avantgardisten im vielgestaltigen, widerspruchsvollen Musikschaffen unserer Tage, ein Komponist von ungewöhnlicher Phantasie und stark humanistischem Einschlag. Seine Musik ist nie absolut, aber auch kaum als programmatisch im früheren Sinn, als ‚schildernd‘ zu verstehen; sie ist ein Kampf, ein Aufschrei gegen alles Unrecht der Welt, gegen Gewalt, Krieg, Folter, ein Ruf zur Menschlichkeit.“ Der italienische Kommunist Nono setzte sich Zeit seines Lebens für Verfolgte und gegen das Unrecht ein. Dieses Engagement floss mit in sein musikalisches Oeuvre ein wie in der erwähnten ersten Orchesterkomposition. In ihr ehrt er den nur wenigen bekannten tschechischen Schriftsteller, Literaturkritiker und Chefredakteur Julius Fučík, der von der Gestapo gefoltert und 1943 erhängt wurde. Eine Zwölftonreihe dient als Grundlage. Ganz fein nuanciert, fast kammermusikalisch ist die Orchestrierung. Sehr komplex ist die Rhythmik. Kontemplativ-verhalten sind die musikalischen Stimmungsbilder mit dezenten Tupfern und einem fein durchstrukturierten großen Schlagwerkapparat am Schluss.

Foto © Thomas Berns

Es gibt auch Tonschöpfer, deren Namen nicht bekannt sind. Manche tauchen erst lange nach dem Tod aus der Versenkung auf. Die russische Komponistin Galina Ustwolskaja gehört dazu. Sie starb 2006 und lebte Zeit ihres Lebens in ärmlichen Verhältnissen sehr zurückgezogen. Die Tonsprache der Schülerin Dmitri Schostakowitschs passt in kein Schema, ist keiner „Schule“ einzuordnen. Kompromisslos, radikal eigenständig sind ihre weiträumigen Werke, über die sie sich einmal – seien sie auch für kleine Besetzungen mit kurzer Spieldauer – folgendermaßen äußerte: „Meine Musik ist in keine Fall Kammermusik, auch dann nicht, wenn es sich um seine Solosonate handelt“. Also sind sie wohl für Sinfonien? Dann meinte sie damit sicherlich nicht die Gattung, sondern die ursprüngliche Bedeutung des altgriechischen Worts σύμφωνος, geschrieben mit lateinischen Buchstaben sýmphōnos. Die Übersetzung lautet „zusammenklingend“. Der Charakter ihrer Musik ist zutiefst religiös. Es werden oft dynamische Extreme, etwa fünffaches Forte und fünffaches Piano, unmittelbar gegenübergestellt. Genauso verhält es sich mit den Tonhöhen, indem unter Missachtung der Mittellage hohe und tiefe Instrumente miteinander konfrontiert werden. Ihre an diesem Abend vorgestellten Sinfonien – die Nummer eins aus dem Jahr 1955 und die 28 Jahre später entstandene Dritte – sind beredte Zeugnisse.

Für das außergewöhnliche Programm zeichnen die Duisburger Philharmoniker unter der Leitung von Elena Schwarz verantwortlich. Dabei erweist sich die 37-jährige, schweizerisch-australische Dirigentin als ausgewiesene Spezialistin in Sachen moderner Musik. Stets behält sie den Überblick und gibt präzise Anweisungen selbst in komplexesten Passagen. Auf sie können sich die Sinfoniker allzeit verlassen. So bringt das Orchester die vielschichtigen Partituren mit großen musikalischen Spannungsbögen lupenrein wie aus einem Guss zum Erklingen. Fein austarierte Streicherklänge und gewaltige Ausbrüche bei Messiaen, differenzierte lisztsche Klangfarben oder eine mustergültig austarierte Orchesterbalance bei Nono sorgen für packende Darbietungen. Auch Ustwolskajas Musik kommt mustergültig von der Bühne. Äußerst sensibel begleiten zudem bei der ersten Sinfonie die Philharmoniker die ausdrucksstarken und intonationsreinen Kinderstimmen von Elise Kliesow und Anna Mamutscharaschwili von der Düsseldorfer Akademie für Chor und Musiktheater. Genauso verhält es sich bei der Dritten, in dessen Verlauf Alexander Vassiliev die Anrufung „Allmächtiger, wahrer Gott, Vater des ewigen Lebens, Schöpfer der Welt, rette uns“ auf Russisch mit klarer Diktion bewegend rezitiert.

Das aufgeschlossene Publikum im ausgezeichnet besetzten Auditorium zeigt sich begeistert. Dafür zeugt der verdiente, lang anhaltende Schlussapplaus, gepaart mit heftigem Fußtrampeln.

Hartmut Sassenhausen