O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Ruhrtriennale 2022

Zum Auftakt eine dicke Prise Endzeitstimmung

ICH GEH UNTER LAUTER SCHATTEN
(Diverse Komponisten)

Besuch am
11. August 2022
(Uraufführung)

 

Ruhrtriennale, Jahrhunderthalle Bochum

Nach der Eröffnungspremiere der Ruhrtriennale verspricht Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), den Kulturetat des Landes bis zum Ende der Legislaturperiode um 50 Prozent aufzustocken. Damit sorgt Wüst am späten Abend für jenen Hoffnungsschimmer, der dem Publikum in der ausverkauften Bochumer Jahrhunderthalle in der vorausgegangenen musiktheatralischen Kreation Ich geh unter lauter Schatten verwehrt wird.

Regisseurin Elisabeth Stöppler montiert Kompositionen von vier überwiegend eigenbrötlerischen Komponisten des 20. Jahrhunderts zu einer 100-minütigen Elegie auf das Ende der Welt. Die gewaltige Spielfläche der Jahrhunderthalle Bochum verwandelt sie in ein Schattenreich, in dem Bühnenbildner Hermann Feuchter mit bedrohlich mächtigen begehbaren Stahlstreben magische Zugänge zu einem imaginären Inferno freizulegen scheint.

Das musikalische Zentrum bilden die Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten des französischen Stockhausen- und Xenakis-Schülers Gérard Grisey. Vier Gesänge, die jeweils den Tod des Engels, der Zivilisation, der Stimme und der Menschheit beschwören, ausgeführt von drei Sängerinnen, einem Sprecher und dem großartigen Chorwerk Ruhr. Pessimistische Klagegesänge, die die derzeit aktuelle Krisenstimmung noch um zwei Stufen verdüstern. Selbst ein abschließendes Wiegenlied trägt nicht zur Aufmunterung bei. Ebenso wenig wie die eingestreuten Instrumental- und Chorstücke so öffentlichkeitsscheuer Komponisten wie Giacinto Scelsi und Claude Vivier oder Iannis Xenakis, die das Chorwerk Ruhr und das Klangforum Wien unter Leitung von Peter Rundel allesamt perfekt ausführen. Großartige Musik, die allerdings in der geballten Fülle ohne jedes hoffnungsvolle, aufmunternde Signal stärker bedrückt als beeindruckt.

Für diese Schwellen zwischen Leben und Tod schlägt die Regisseurin bei der Personenführung ein entschleunigtes Tempo im Zeitlupen-Format an. Sowohl die Solisten als auch der Chor, meist grau gewandet, bewegen sich statisch bis lemurenhaft. Schatten ihrer selbst. Auf plakativen Aktionismus verzichtet Elisabeth Stöppler weitgehend. Mit Ausnahme einer von klischeehafter Verzweiflung getriebenen Choreografie zum Tod der Zivilisation zu den Klängen einer ausgedehnten Komposition Griseys für sechs Schlagzeuger.

So spektakulär die Bühnen-Projekte zum jeweiligen Auftakt in den 20 zurückliegenden Jahren der Ruhrtriennale auch immer gewirkt haben und auch in diesem Jahr wirken mögen. Diesmal legt ein kleines Konzert über gleich drei industrielle Spielstätten in Duisburg, Essen und Bochum zwei Stunden vor der Eröffnungspremiere mit einer Auswahl aus den 16 sogenannten Mysteriensonaten des Barock-Meisters Heinrich Ignaz Franz Bibers für Violine und Basso Continuo einen introvertiert sakralen Schleier, der einen stärkeren Optimismus als das Hauptwerk verbreitet und zugleich das durchaus zutreffende Klischee der Industriestätten als „Kathedralen der Arbeit“ bedient. Und diese „Kathedralen“ haben es Intendantin Barbara Frey besonders angetan. Allerdings gehört Stöpplers Endzeit-Kreation zu den relativ wenigen Produktionen, die spezifisch auf die architektonischen Besonderheiten der industriellen Spielorte ausgerichtet sind. Gastspiele oder anderswo zubereitete Projekte nehmen den Löwenanteil der rund 108 Aufführungen mit 36 Produktionen ein, die bis zum 18. September hauptsächlich in Bochum, Essen, Duisburg und Gladbeck gezeigt werden. Auf besonderes Interesse dürften dabei Freys eigene Inszenierung von Arthur Schnitzlers Schauspiel Das weite Land in der Bochumer Jahrhunderthalle und die szenische Uraufführung des Instrumentalzyklus‘ Haus von Sarah Nemtsov in der Bochumer Turbinenhalle stoßen.

Pedro Obiera