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Internationales Bergen-Festival 2020

Das Leben eine Irrenanstalt

LIFE IS A DREAM
(Kim Brandstrup)

Gesehen am
21. Mai 2020
(Livestream)

 

Bergen International Festival, Grieghallen, Bergen

Die erste Tanzaufführung des Internationalen Bergen-Festivals, das in diesem Jahr digital durchgeführt wird, birgt gleich eine kleine Enttäuschung. Denn es handelt sich nicht um eine Neuproduktion, sondern um eine Aufzeichnung aus dem Jahr 2018, als Life is a Dream die Abschlussaufführung des Festivals darstellte. Damals freilich wurde die 75-minütige Choreografie von Kim Brandstrup begeistert gefeiert. Jetzt kommt sie also als Konserve zurück.

Brandstrup hatte den Auftrag, das Versdrama La vida es sueño des spanischen Dramatikers Pedro Calderón de la Barca aus dem Jahr 1636 in moderne Bilder umzusetzen. Zwei Protagonisten tauchen in ihr Leben – oder eben einen Traum – ein, das oder der in einer Irrenanstalt stattfindet. Und siehe da: In diesem weltfremden Kosmos passiert all das, was das Leben ausmacht. Sehnsüchte, Hoffnungen, Liebe, Enttäuschungen und Leid. Der unbändige Wunsch nach Freiheit, ohne zu wissen, was man damit anfängt. Brandstrup findet dazu eine starke Bewegungssprache, für die die Quay-Brüder die Bühne schaffen. Farben bleiben außen vor, grau dominiert den Raum, der zunächst noch zwei überdimensionale Fenster im Hintergrund aufweist. Da gibt es auch noch Projektionen aus einem fernen, unerreichbaren Leben. Im zunehmend klaustrophobischen Verlauf wird aus der Rückwand ein Holzverschlag. Die Konstanten im Raum sind vorne rechts ein Schreibtisch mit Lampe, an dem die Hauptakteure sinnierend Platz nehmen, und ein fahrbares Krankenbett. Holly Waddington gibt sich bei den Kostümen der Tänzer eher zugeknöpft und bleibt auch hier beim dominanten Grau. Lediglich die Realitätsvertreter bekommen weiße Hemden zu schwarzen Hosen. All das wird kongenial von Jean Kalman in eindrucksvolle Lichteffekte gesetzt.

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Für die von zahlreichen Hebungen gekennzeichnete, berührungsintensive Körpersprache, was in der heutigen Zeit schon ein wenig merkwürdig anrührt, hat Brandstrup die Compagnie Rambert unter ihrem seinerzeitigen künstlerischen Leiter Mark Baldwin verpflichtet. Präzision und sichtbare Tanzfreude kennzeichnen die Arbeit der Tänzerinnen und Tänzer, die sich sehr genau an der Musik ausrichtet.

Für das Stück hat Brandstrup Werke von Witold Lutosławski ausgewählt, darunter die Musique funèbre, also Trauermusik, aus dem Jahr 1953, die Symphonie Nr. 4 und ein Tanzstück für Klavier. Ganz wunderbar wird das von Paul Hoskins am Pult des Bergen Philharmonie Orchesters umgesetzt, dem es scheinbar mühelos gelingt, die Musik erklingen zu lassen, als sei sie für diesen Abend geschrieben. Besondere Erwähnung darf dabei die Geigensolistin Maria Angelika Carlsen finden. Das Zusammenspiel von Bühne und Graben steigert den Abend zu einem hochwertigen Genuss. Kameraführung und Tonqualität sorgen dafür, dass man glatt vergessen kann, dass es sich um eine Konserve handelt. Das Bergen-Festival verzichtet auf die Möglichkeit des Live-Chats, also die Chance für die Zuschauer, das Gezeigte sofort zu kommentieren. Darüber kann man diskutieren. Heute Abend wären im Live-Chat mit Sicherheit viele klatschende Hände zu sehen gewesen – auch wenn sich die Zuschauerzahlen in ausgesprochen niedrigen Bereichen bewegen.

Michael S. Zerban