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Beethoven maximal

„Beethoven complete Edition“, Naxos, 90 CD

Es ist sicher nicht der Sinn eines Jubiläum-Spektakels, wie es in diesem Jahr zum 250. Geburtstag Ludwig van Beethovens gezündet wurde, nur die allbekannten Highlights seines Oeuvres noch öfter als sonst schon in Endlosschlaufen wiederzukäuen. Stellt man sich die Frage, ob und wie gut man Beethovens Werk überhaupt kennt, dürfte selbst jeder einigermaßen kundige Musikfreund eingestehen, nicht einmal seine 138 offiziell mit Opus-Zahlen deklarierten Meisterwerke zu kennen. Ganz zu schweigen von den über 200 Werken ohne Opus-Zahl (WoO), die Beethoven nicht für würdig erachtete, sie ins offizielle Werkverzeichnis aufzunehmen. Darunter gewiss etliche Gelegenheitswerke wie Stücke für Mandoline und derb-banale Scherz-Kanons – Bester Herr Graf, Sie sind ein Schaf! – aber auch kapitale Werke wie die grandiose Trauerkantate zum Tod von Kaiser Joseph II. aus der Feder des gerade einmal 19-jährigen Bonner Meisters. Nimmt man noch die über 200 alles andere als routinierten Bearbeitungen von Volksliedern aus Schottland, Wales und vielen anderen Ländern hinzu, gibt es noch eine Menge zu entdecken.

Etliche Labels nahmen die lückenhafte Rezeption des Gesamtwerks zum Anlass, in dickleibigen Schubern mit 80 und mehr CDs den mehr oder weniger „kompletten“ Beethoven zu präsentieren. Am ehrgeizigsten zeigen sich dabei Naxos und die Deutsche Grammophon. Naxos verspricht mit 90 CD die „ultimative Beethoven-Edition“, die DG auf 118 CD sogar die „most complete Edition“. Dass die DG-Box deutlich umfangreicher ausgestattet ist als die der Konkurrenz, liegt nicht an dem umfangreicheren Werkkatalog, sondern an der nicht uninteressanten Tatsache, dass mehrere Werke in unterschiedlichen Interpretationen berücksichtigt werden. Allein die Fünfte Symphonie kann man sich unter der Leitung von Arthur Nikisch 1913, Wilhelm Furtwängler 1943, Herbert von Karajan 1962, Carlos Kleiber 1974 und Carlo Maria Giulini 1981 zu Gemüte führen. Und für die Klaviersonaten reicht sich eine ganze Phalanx von Arrau und Gilels bis Uchida bis Pollini die Hand. Für einen Großteil Sammlung greift man auf die Beethoven-Edition von 1997 zurück mit Klassikern wie den Symphonien unter Karajan, den Klaviersonaten mit Wilhelm Kempf, den Liedern mit Dietrich Fischer-Dieskau oder der Kammermusik mit bekannten Musikern wie Martha Argerich, Anne-Sophie Mutter und Mstislaw Rostropowitsch. Relativ neu sind vor allem Einspielungen, die auch historische Aufführungspraktiken berücksichtigen, insbesondere mit Aufnahmen verschiedener Orchesterwerke, der beiden Messen und der Leonore, also der Ur-Version des Fidelio, unter der Leitung von John Eliot Gardiner.

„Beethoven, The New complete Edition“ Deutsche Grammophon, 118 CD, 3 Blue-rays, 2 DVD

Mit derart prominenten Namen kann die Naxos-Box nicht prunken. Auch historische Interpretationsfragen spielen keine Rolle. Mit der Naxos-Box ist vor allem der gut bedient, der die derzeit wohl umfangreichste Werksammlung erwerben und sich auf die Suche nach dem „unbekannten“ Beethoven machen möchte. 150 Ersteinspielungen werden versprochen, und es dürfte nahezu alles bis hin zu skizzenhaft entworfenen Fragmenten berücksichtigt sein, was von Beethovens Musik erhalten ist. Ob man jeden der banalen Scherz-Kanons oder jede der über 200 Volkslied-Bearbeitungen kennen muss, bleibt dem Hörer überlassen. Aber die Vielfalt der Genres, die Beethoven bediente, einschließlich höfischer Tänze und Militärmärsche, sorgt für manche Überraschung. Vor allem, was die Werke aus Beethovens früher Bonner Zeit angeht sowie das enorme Oeuvre an Vokalmusik, das immer noch im Schatten seiner Instrumentalmusik steht. Dabei hat Beethoven mit dem Liederzyklus An die ferne Geliebte den Boden für die großen Liederzyklen der Romantiker geebnet. Sechs unter mehr als 120 meist unbekannten Klavierliedern des Komponisten.

Die musikalische Qualität der Naxos-Einspielungen ist durchweg vorzüglich. Das Klavierwerk ist bei Jenö Jandó bestens aufgehoben, wie auch die Cello-Sonaten bei Maria Kliegel, die Violinsonaten bei Takako Nishikaze, die Streichquartette beim Kodály-Quartett und die Klaviertrios bei Violinistin Ida Bieler, Pianistin Nina Teichmann und der Cellistin Maria Kliegel. Einen Höhepunkt bietet die „klassische“ Einspielung der Leonore unter Herbert Blomstedt mit Theo Adam, Edda Moser und Helen Donath.

Nicht ganz überzeugen können dagegen die Symphonien mit dem Nicolaus-Esterházy-Orchester unter Leitung von Béla Drahos und die Klavierkonzerte mit dem Pianisten Stefan Vladar. Doch der Hauptgewinn der Naxos-Bos liegt ohnehin in den kaum bekannten Raritäten, während die DG-Box das Schwergewicht auf unterschiedliche Interpretationsansätze legt. Für die teureren Namen der DG-Interpreten muss der Käufer allerdings fast dreimal so tief in die Tasche greifen wie der Naxos-Interessent.

Mit 80 CD fast bescheiden nimmt sich dagegen die recht preisgünstige Box von Warner Classics aus, die ebenfalls größere Aufmerksamkeit verdient. Wie bei den Konkurrenten stammen die Aufnahmen aus mehreren Jahrzehnten, vereinen aber ausnahmslos prominente Künstler. So ist Nikolaus Harnoncourt mit den Symphonien vertreten, András Schiff mit den Klavierkonzerten, Stephen Kovacevich mit den Klaviersonaten und Rudolf Buchbinder mit den Variationszyklen. Für die Streichquartette wurde das Artemis-Quartett gewonnen und für die Lieder griff man auf Aufnahmen mit Dietrich Fischer-Dieskau und Hermann Prey zurück. Und zwei kapitale Werke Beethovens, den Fidelio und die Missa Solemnis, bediente man mit den legendären Einspielungen von Otto Klemperer. Damit sorgen die zeitlich und stilistisch denkbar gegensätzlichen Interpretationssätze Klemperers und Harnoncourts für einen weiten gestalterischen Horizont und geben einen aufschlussreichen Einblick in die sich ständig wandelnde Rezeption des Bonner Geburtstagskinds.

Pedro Obiera