O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Wiener Bonmots

Wer schon einmal zu Besuch in der altehrwürdigen Wiener Staatsoper war, dem begegnen dort nicht nur meist populäre Opernaufführungen mit hochkarätiger Besetzung, sondern auch viele Geschichten, die so typisch für Wien, für seine Menschen und für seine Kultur stehen. Da wird gerne mal übertrieben, mit echtem Wiener Schmäh, aber immer auch mit einem gewissen Stolz, die der Wiener auf seine Stadt, seinen Dom, sein Schnitzel und natürlich seine Staatsoper hat. Heinz Irrgeher ist so ein echter Wiener. Vor knapp 80 Jahren in der Stadt an der schönen blauen Donau geboren, hat er an der hiesigen Universität Wien Jura studiert und promoviert. Sein berufliches Leben verbrachte er in leitenden Funktionen im Bankgewerbe. Doch seine wahre Berufung und Leidenschaft war und ist die Musik, vor allem die Oper. So war Heinz Irrgeher von 1981 bis 1994 Präsident des einflussreichen Vereins der Freunde der Wiener Staatsoper. Nach Beendigung seiner beruflichen Tätigkeit in der Privatwirtschaft gründete und leitete er die „Stretta“, das Magazin der Freunde der Wiener Staatsoper, für das Heinz Irrgeher auch regelmäßig Artikel schrieb. Außerdem widmete er sich ab 2006 dem Studium der Musikwissenschaft und beendete dieses im Jahr 2011 mit einer Diplomarbeit über den Opernsänger und Intendanten Angelo Neumann, der im 19. Jahrhundert mit einem Richard-Wagner-Ensemble durch Europa reiste. Über Neumann, „Wagners vergessenen Propheten“,  hat er sogar ein eigenes Buch verfasst. In seinem jetzt neu erschienenen Werk Wiener Operng’schichten beweist Heinz Irrgeher, dass er nicht nur ein exzellenter Kenner scheinbar aller jemals in Wien aufgeführten Opern ist, sondern er mustert sie sehr genau, und das meist mit ironischem Blick und einem Augenzwinkern.

Da gibt es urkomische Situationen auf der Bühne. Was passiert zum Beispiel in der Oper Tosca, wenn zum Schluss das Erschießungskommando für Cavaradossi einfach in der Kantine bleibt, weil es den Einsatz schlichtweg verpennt hat? Irrgeher hat darauf wie auf so viele andere „Theaterschnurren“ immer eine Antwort, mal wienerisch derb, mal feinsinnig und tiefgehend, aber immer mit Humor und niemals unter der Gürtellinie. Seine Operng’schichten sind kein klassischer Opernführer, obwohl er so mancher Oper, die nicht zu den häufig gespielten gehören, ein eigenes Kapitel widmet, wie dem Trompeter von Säckingen von Viktor Nessler. Den Opern von Richard Strauss und Richard Wagner widmet er sich genauso wie Werken von Händel, Haydn und Verdi. Besonders interessant und komisch wird es, wenn er Anekdoten über Künstler erzählt, die ihm in seinen langen Jahren als Präsident des Vereins der Freunde der Wiener Staatsoper begegnet sind; exemplarisch sei hier der Versuch beschrieben, ein Interview mit Franco Corelli zu bekommen. Aber Irrgeher ist Wiener durch und durch und klärt über so manchen Irrtum auf.

Die Aida ist natürlich nicht nur eine der bekanntesten und meistgespielten Opern von Giuseppe Verdi, sondern auch der Name einer Wiener Kaffeekonditorei mit knapp 30 Filialen. Das Sortiment beschreibt Irrgeher so herrlich plastisch, dass einem vom Lesen schon das Wasser im Mund zerläuft und man sofort Appetit auf ein Stück Torte mit einer Wiener Melange bekommt. Das ist das Besondere an diesem Buch. Neben analytischen Betrachtungen diverser Opern und ihrer Entstehungen finden sich immer wieder diese köstlichen Seitensprünge ins Boulevard. Hier ist der geneigte Leser Zaungast witziger Geschichten, die Stoff für eine eigene Oper sein könnten. So die höchst ungewöhnliche Ansprache des Minister Drimmel am 28. Februar 1959 vor einer Festaufführung von Mozarts Don Giovanni. Da heißt es unter anderem unter Punkt 2: „Die Donna Anna wird von Frau Claire Watson erstmalig in Wien gesungen. Durch anderweitige Verpflichtungen der Dame konnte sie erst diesen Nachmittag in Wien eintreffen. Sie lässt sich entschuldigen, wenn sich musikalische oder szenische Unstimmigkeiten ereignen sollten.“  So weit so gut. Kurios wird es dann im nächsten Punkt: „Durch die Absage von Traude Richter war die Direktion gezwungen, Frau Montserrat Caballé aus Basel an die Staatsoper zu berufen. Sie kam mit der Swissair um 17 Uhr in Wien an. Weiteres siehe unter Punkt 2. Sollte sie die zweite Arie nicht singen können, weil schon die erste schlecht war, so bittet sie um Entschuldigung.“ Wer denkt, kurioser kann es bei dieser Ansprache nicht mehr kommen, weit gefehlt. Weitere Sänger werden entweder als indisponiert oder sogar als gesund angekündigt, um ein „künstlerisches Restgesicht“ zu wahren. Die Liste liest sich wie ein „Who is Who“ der damaligen Wiener Opernszene: Josef Greindl, Wilma Lipp, Eberhard Waechter, Walter Berry und der Dirigent Heinrich Hollreiser, um nur einige Mitwirkende dieser Vorstellung aufzuzählen. Dieses herrliche und komische Theatergeflüster auf, vor und hinter der Bühne versteht Irrgeher geistvoll, zuweilen leicht amüsiert, aber immer mit dem Blick für das Ganze wie für das Detail zu ordnen, zu wägen und zu kommentieren.

Irrgeher ist aber auch ein leidenschaftlicher Verfechter der Erhaltung des „Stehparterre“ der Wiener Staatsoper, da, wo einst als junger Mensch seine Leidenschaft für die Oper entflammte. Und es ist der Ort berühmt berüchtigter Urteile der wahren Opernfans, von gnadenlosen Buh-Orkanen bis hin zur stürmischen Begeisterungswellen, das Stehparterre ist Irrgehers Heiligtum und er verteidigt es gegen jedweden Versuch, es zu schließen, und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund, wie er am Schluss seines Buches vielsagend vermerkt: „Und irgendwann wird ein Direktor (vielleicht sogar der derzeitige serbischer Herkunft und jahrelang leitender Angestellter eines amerikanischen Medienkonzerns mit – bis zu seiner Bestellung – Null-Erfahrung mit der Führung eines Musiktheaters, aber befreundet mit dem ihn seinerzeit platzierenden roten Minister) auf die Idee kommen, auf diesem attraktiven Platz durchgehend einnahmeträchtige Sitzplätze zu installieren; dann wird der Stehplatz wohl Geschichte sein.“ Deutlicher kann die Ablehnung des aktuellen Direktors der Wiener Staatsoper, Bogdan Roščić, durch den ehemaligen Präsidenten des Vereins der Freunde der Wiener Staatsoper sogar ohne Namensnennung kaum noch formuliert werden. Es ist also nicht alles nur komisch oder Schmäh, für Irrgeher sind einige Themen, wie die Preispolitik der Wiener Staatsoper, bitterer Ernst.

Dieses Buch ist aber auch so etwas wie das Vermächtnis des Autors wenige Monate vor seinem 80. Geburtstag, mit vielen autobiografischen Zügen und persönlichen Erlebnissen. In insgesamt sieben Kapiteln mit der Überschrift Curriculum Vitae Musicalis flechtet Irrgeher seinen eigenen beruflichen wie auch privaten Lebensweg in die Operng’schichten ein. Farblich zwar von den Schnurren abgetrennt, sind sie trotzdem ein bereichernder Teil des Buches und führen auch zu einem Grundverständnis, warum Irrgeher so ein leidenschaftlicher Wiener Operngeher wurde. Gewidmet hat er das Buch allen „Opernfreunden, die es immer schon waren oder gerade erst geworden sind, offiziellen und inoffiziellen, Direktionsfreunden und Direktionsgegnern, Stehplatzlern und Sitzplatzlern, also uns, die uns irgendwann das Erlebnis Oper so mitgenommen hat, dass es uns in unserem weiteren Leben zu Wiederholungstätern gemacht hat.“ Auch in der Widmung verliert Irrgeher nicht seinen Schmäh, und so ist dieses schmale Sammelsurium Wiener Bonmots tatsächlich für jeden Opernfreund zu empfehlen, und insbesondere denen, die schon mal das Glück hatten, eine Aufführung an der Wiener Staatsoper erleben zu dürfen.

Andreas H. Hölscher