O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Tragisches Schicksal

Oliver Hilmes, 1971 geboren, ist bekannt für seine Biografien, die er in einem schon fast romanhaften Stil schreibt und somit aus den rein historischen Fakten packende Geschichten formuliert. Hilmes studierte Geschichte, Politik und Psychologie und wurde mit einer Studie über den Zusammenhang von Antisemitismus und Kritik an der Moderne promoviert. Seit 2002 arbeitet er für die Stiftung Berliner Philharmoniker.

Sein bekanntestes Buch ist sicher die Biografie Herrin des Hügels über Cosima Wagner, 2007 erschienen. Aber auch über Franz Liszt, König Ludwig II. von Bayern und Alma Mahler-Werfel, Witwe von Gustav Mahler, hat Hilmes erfolgreiche Biografien verfasst. Nun nimmt er sich eines ganz speziellen Themas an, Deutschland vor 80 Jahren. Das dramatische Jahr 1943 wird von Hilmes mosaiksteinartig beleuchtet, unter den verschiedensten Aspekten. Neben der menschenverachtenden Diktatur des NS-Regimes und den wenigen verbleibenden kulturellen Momenten sind es Menschen und ihre Schicksale, die bis heute bewegen, teilweise aber auch in Vergessenheit geraten. Im Mittelpunkt dieser Schattenzeit steht das tragische Schicksal des jungen hochbegabten Pianisten Karlrobert Kreiten, der wegen unbedachter Aussagen über das NS-Regime denunziert, verhaftet und hingerichtet wird. Aber man begegnet in diesem Buch auch anderen Persönlichkeiten wie dem Literaturwissenschaftler Victor Klemperer und dessen Tagebüchern, den Geschwistern Scholl aus München, die Mitgründer der Widerstandsbewegung Weiße Rose, die vor genau achtzig Jahren hingerichtet wurden, und dem später so erfolgreichen Showmaster von Dalli Dalli, Hans Rosenthal.

Wer war dieser Karlrobert Kreiten, der am 26. Juni 1916 in Bonn geboren wurde, der Geburtsstadt seines großen Vorbildes Ludwig van Beethoven. Er wuchs in einer sehr musikalischen Familie auf. Seine Mutter war die Mezzo-Sopranistin Emmy Kreiten, und der Vater der niederländische Komponist und Konzertpianist Theo Kreiten. Karlrobert besaß aufgrund der Nationalität seines Vaters die niederländische Staatsbürgerschaft, fühlte sich aber als Deutscher. Ein Jahr nach Karlroberts Geburt zog die Familie 1917 von Bonn nach Düsseldorf, wo die Eltern oft zu Hauskonzerten und Liederabenden einluden. Diese Veranstaltungen galten als ein Mittelpunkt der musikalischen Gesellschaft Düsseldorfs und prägten Karlroberts Kindheit. Seine aus dem Elsass stammende Großmutter Sophie, die „Grand-Maman“ überwachte früh Karlroberts Klavier- und Geigenunterricht und brachte ihm die französische Sprache bei. Der hochbegabte Junge hatte schon mit zehn Jahren Aufsehen erregt, als er mit einem Mozart/Schubert-Programm in der Tonhalle Düsseldorf sein Debüt gab. 1929, im Alter von dreizehn Jahren, begann er sein Studium  zunächst bei Peter Dahm an der Hochschule für Musik Köln. 1933 gewann der Sechzehnjährige in Wien beim II. Internationalen Musikwettbewerb erst eine Silberne Ehrenplakette, im Herbst desselben Jahres dann sogar den Großen Mendelssohn-Preis in Berlin, der unter Schülern deutscher Hochschulen ausgetragen wurde. Bei Hedwig Rosenthal-Kanner, der Ehefrau von Moriz Rosenthal, setzte Kreiten sein Studium von 1935 bis 1937 in Wien fort. Entgegen ihrem Rat, ihr in die USA zu folgen, wollte Karlrobert seine Karriere in Europa erstmal ausbauen. Ende 1937 siedelte Kreiten nach Berlin über, gab ein glänzend kritisiertes Konzert im Beethoven-Saal und wurde für zwei Jahre Meisterschüler von Claudio Arrau. Dieser, selbst ein ehemaliges Wunderkind und in Deutschland ausgebildet, urteilte noch 1983: „Kreiten war eines der größten Klaviertalente, die mir persönlich begegnet sind. Wäre er nicht durch das Nazi-Regime kurz vor Kriegsende hingerichtet worden, so hätte er, ohne Zweifel, seinen Platz als einer der größten deutschen Pianisten eingenommen. Er bildete die verlorene Generation, die fähig gewesen wäre, in der Reihe nach Kempff und Gieseking zu folgen.“

Kreitens Karriere verlief bis 1943 höchst erfolgreich, vor allem mit Werken von Beethoven und Komponisten der Romantik, aber auch von zeitgenössischen Musikern wie Igor Strawinsky und Sergej Prokofjew. Sogar Dirigent Wilhelm Furtwängler wurde auf ihn aufmerksam, und auf dessen Rat zog Kreiten nach Berlin, zusammen mit seiner Schwester. Die Großmutter folgte und war Kreitens „Finanzminister“, wie sein Vater Theo später in seinem Buch Tod eines Pianisten über seinen Sohn berichtete. So wohnte er zuletzt im Berliner Stadtbezirk Schöneberg in der Hohenstaufenstraße 36. Da diese Wohnung jedoch zu klein war, wollte er sie im März 1943 gegen eine größere in der Motzstraße 10 tauschen. Dazu sollte es aber nicht mehr kommen. Denn zu dieser Zeit stellte ihm Frau Ellen Ott-Monecke, eine Freundin seiner Mutter, den Musik- und Übungsraum ihrer Wohnung am Lützowufer zur Verfügung. Als Kreiten sich dort im privaten Kreis abfällig über den Nationalsozialismus äußerte, den „Führer“ als geisteskrank titulierte und den Krieg als verloren bezeichnete, denunzierte Ott-Monecke ihn bei ihrer Nachbarin Annemarie Windmöller, die als Schulungsleiterin der NS-Frauenschaft tätig war. Die wiederum wandte sich an die ehemalige Sopranistin Tiny Debüser, die jetzt unter dem Namen Christine von Passavant als „wissenschaftliche Hilfsarbeiterin“ im Propagandaministerium arbeitete. Alle drei Frauen waren überzeugte Nationalsozialistinnen, und so wurde Kreiten durch die drei Frauen gemeinsam verraten, seine unbedacht gewählten Worte zur Anzeige gebracht. Am 3. Mai 1943 wurde er daraufhin in Heidelberg, wo er ein Konzert geben wollte, von der Gestapo verhaftet. Nach vier Monaten Haft kam es zum Prozess vor dem Volksgerichtshof. Oberreichsanwalt Ernst Lautz hatte die Anklageschrift verfasst und der Vorsitzende Richter Roland Freisler, der auch schon die Geschwister Scholl wenige Wochen zuvor zum Tode verurteilt hatte, verurteilte Kreiten wegen vermeintlicher Feindbegünstigung und Wehrkraftzersetzung am 3. September 1943 zum Tode. Weder die Angehörigen noch die Rechtsanwälte wussten von diesem Gerichtstermin; erst nach einem anonymen Anruf bei der Schwester wurden die Eltern in Düsseldorf informiert. Mehrere Gnadengesuche an Hitler wurden unverzüglich versucht, scheiterten aber daran, dass sie weder in Düsseldorf noch direkt in Berlin bis hin zum Justizministerium entgegengenommen oder verzögert wurden, da eine Annahme juristisch begründet aufschiebende Wirkung gehabt hätte.

Kreitens Unglück war es, daß sein Prozess, die Verurteilung, die Überstellung nach Plötzensee in eine Zeit fielen, in der die übliche Hektik im Justizministerium in Hysterie ausartete. Minister Thierack hatte Angst, denn im August 1943 hatte Hitler sein Missfallen darüber geäußert, daß im Reich mehr als 900 Todesurteile nicht vollstreckt seien, und das bei zunehmender Luftkriegsgefahr. Tatsächlich wurde in der Nacht zum 4. September die Strafanstalt Plötzensee von Fliegerbomben getroffen. Im Ministerium fürchtete man um die „Sicherheit“ der rund 300 zum Tode verurteilten Gefangenen, die dort einsaßen. Man sah daher nur einen Ausweg: die beschleunigte Hinrichtung. Auf die herkömmliche Art war sie nicht möglich, da das Fallbeil aus der Bettung gerissen war und die Reparatur mindestens eine Woche dauern würde. So viel Zeit hatte man nicht. Es wurde zunächst überlegt, die Gefangenen auf Schießständen der Wehrmacht zu erschießen, doch es kam anders. Bausachverständige hatten die Stabilität der Wände im Hinrichtungsraum festgestellt. Sie waren jedenfalls fest genug, um die Hängevorrichtung zu halten. Karlrobert Kreiten wurde am 7. September 1943 zu Beginn der „Plötzenseer Blutnächte“ mit 186 anderen Menschen in Gruppen zu je acht Mann in Plötzensee am Fleischerhaken erhängt. So sollte nach dem Willen Goebbels ein Exempel unter jungen Künstlern statuiert werden.

So endete das Leben eines begnadeten jungen Künstlers als tragisches Schicksal mit nur 27 Jahren. Oliver Hilmes hat für diese Geschichte viel recherchiert und auch neue Erkenntnisse gewonnen, was die umfangreichen Anmerkungen zu den einzelnen Kapiteln und das Quellenverzeichnis bezeugen. Zwar steht die Geschichte von Karlrobert Kreiten im Mittelpunkt dieses Buches über Deutschland im Jahr 1943, doch ist sie nur ein Mosaikstück im düsteren Bild dieses Jahres, als bei Stalingrad eine ganze Armee vernichtet wird und Goebbels den „totalen Krieg“ ausruft. Kinder werden zur Sicherheit aufs Land gebracht, während alliierte Bombenangriffe Hamburg und Berlin in Schutt und Asche legen. Es ist aber auch das Jahr, in dem Millionen Deutsche in die noch vorhandenen Kinos strömen, um Hans Albers als Baron von Münchhausen zu erleben. Während die Städte schon in Trümmern liegen, wird noch immer getanzt, verbotenerweise auch zu heißen Jazz- und Swing-Melodien. All das beschreibt Hilmes sehr plastisch, wobei er immer wieder hin- und herspringt, von den Tagebucheintragungen Goebbels zu den Aufzeichnungen von Victor Klemperer, vom kleinen Verschlag, wo sich der 18-jährige Hans Rosenthal vor dem Zugriff der Gestapo versteckt, über Verhaftung, Scheinprozess und Ermordung der Geschwister Scholl und ihrer Verbündeten der Weißen Rose. Das ist alles so spannend geschrieben, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann, wenn man einmal damit begonnen hat, so bewegend und gleichzeitig auch erschütternd beschreibt Hilmes diese vielen kleinen und großen Schicksale in der Schattenzeit. Es ist auch ein Buch gegen das Vergessen, denn es gibt nur noch wenige lebende Zeitzeugen, die von diesen Verbrechen gegen die Menschlichkeit berichten können.

Ein besonders pikantes Kapitel deutscher Nachkriegszeit beendet das Werk. Der bekannte Journalist Werner Höfer, Träger des Bundesverdienstkreuzes, der von 1952 bis 1987 den Internationalen Frühschoppen im Deutschen Fernsehen moderierte, hatte am 20. September 1943, also gut zwei Wochen nach der Hinrichtung Kreitens, im Berliner 12-Uhr-Blatt folgendes Statement abgegeben:

„Wie unnachsichtig jedoch mit einem Künstler verfahren wird, der statt Glauben Zweifel, statt Zuversicht Verleumdung und statt Haltung Verzweiflung stiftet, ging aus einer Meldung der letzten Tage hervor, die von der strengen Bestrafung eines ehrvergessenen Künstlers berichtete. Es dürfte heute niemand Verständnis dafür haben, wenn einem Künstler, der fehlte, eher verziehen würde als dem letzten gestrauchelten Volksgenossen. Das Volk fordert vielmehr, daß gerade der Künstler mit seiner verfeinerten Sensibilität und seiner weithin wirkenden Autorität so ehrlich und tapfer seine Pflicht tut, wie jeder seiner unbekannten Kameraden aus anderen Gebieten der Arbeit. Denn gerade Prominenz verpflichtet!“ Obwohl dieses Statement Höfers nach dem Krieg hinlänglich bekannt war, hatte es zunächst niemanden interessiert, und Höfer konnte Karriere im Nachkriegsdeutschland machen. Erst ein gut recherchierter Artikel im Spiegel von 1987 brachte Höfer zu Fall. Er trat zurück, um einem Rauswurf durch den Intendanten des WDR zuvorzukommen. Es ist der letzte Mosaikstein in einem bizarren Bild des Jahres 1943 in Deutschland, das Oliver Hilmes da gemalt hat.

Es gibt noch einige wenige erhaltene Aufnahmen von Karlrobert Kreiten, die seine Ausnahmestellung als hochbegabter Pianist dokumentieren. Hilmes hat diesem Künstler wieder eine Stimme gegeben.

Andreas H. Hölscher