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Buch

Der Verführer

Wer war Hermann Levi? Eingefleischten Wagnerianern fällt dazu sofort ein: Der Dirigent der Uraufführung von Richard Wagners Parsifal am 26. Juli 1882 in Bayreuth. Aber da war doch noch etwas? Ja, Hermann Levi war Jude, und er dirigierte ein christlich-mythologisches Werk eines Komponisten, der mit seiner Schmähschrift Das Judenthum in der Musik einen offenen Antisemitismus pflegte. Wie passte das zusammen? Nun, Hermann Levi galt als einer der bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit und amtierte ab 1872 als Generalmusikdirektor und Hofkapellmeister am Königlichen Hof- und Nationaltheater in München, bis er sich 1896 aus gesundheitlichen Gründen zurückzog und in Partenkirchen niederließ. 1874 dirigierte er erstmals den Tristan und wurde nach eigenem Bekenntnis gegenüber Joseph Joachim zum „Wagnerianer“, und 1878 den kompletten Ring des Nibelungen. Obwohl Levi aus einer bedeutenden jüdischen Familie stammte, war ihm in die christliche Mythenwelt Wagners nicht fremd, und seit 1871 war er mit dem Komponisten freundschaftlich verbunden. Wagner selbst wies Kritik, sein „heiligstes“ Werk nicht von einem Juden dirigieren zu lassen, entschieden zurück. Jedoch stand immer die Forderung Wagners an Levi, sich taufen zu lassen, im Raum. Dieser Erwartung entsprach Levi bei aller Verehrung Wagners zwar nie, der äußere und vor allem innere Konflikt belastete ihn jedoch sehr, wie sich Levis Schüler Felix Weingartner erinnerte. Im Februar 1883 besuchte er Wagner ein letztes Mal in Venedig, am Tag nach seiner Abreise starb Richard Wagner. Laurence Dreyfus beschreibt die Empfindungen Levis in dem Roman Parsifals Verführung wie folgt: „Hermann versuchte zu sprechen, brachte aber keinen Laut hervor. Die Nachricht erfüllte ihn mit Grauen. Er hatte ja schon befürchtet, dass dies geschehen könnte. In der vergangenen Nacht war er verführt worden von einem Ritter Klingsors. Und jetzt war der Meister tot. Hermann bohrte sich der scharfe Schmerz in die Seite. Es war eine Wunde, die nie heilen würde, denn nun, da Wagner dahingegangen war, würde kein anderer Heiland ihn je erlösen.“

Hermann Levi dirigierte im März und April des Jahres 1883 den Zyklus von Gedächtnisaufführungen mit allen Opern Wagners in München. Er blieb bis 1894 der „Major Domo“ und die rechte Hand von Cosima Wagner bei der Leitung der Bayreuther Festspiele. Der anhaltende Erfolg der Musik Richard Wagners nach dessen Tod ist daher auch eng mit Levis Namen verknüpft. Doch antisemitische Anfeindungen, unter anderem durch Richard Strauss, der sich 1891 über das jüdische Dirigat des „heiligen Parsifal“ bei Cosima Wagner, ebenfalls eine glühende Antisemitin, beschwerte, belasteten ihn schwer. Dieser Konflikt wurde auch in der letzten Bayreuther Meistersinger-Inszenierung des ebenfalls jüdischen Regisseurs  Barrie Kosky auf prägnante Weise im ersten Aufzug dargestellt. Er spielt in der Villa Wahnfried zur Zeit der Entstehungsgeschichte des Parsifal. Kosky mixt die authentischen Charaktere dieser Zeit mit den Figuren aus den Meistersingern. Wagner wird zu Hans Sachs, Franz Liszt zu Veit Pogner, Hermann Levi zu Sixtus Beckmesser und Cosima Wagner verwandelt sich in Eva. Auch die Johannisnacht-Szene, in der Wagner Levi kräftig traktiert, richtig zu knien und mitzusingen, ist ein halbdokumentarischer Beweis für die befremdlich anmutende Verbindung Wagners zu Levi. Levi war Wagner, wie er an einen Freund schrieb, „mit Leib und Seele verfallen“, doch zu dem von seinem „Meister“ geforderten Religionswechsel konnte er sich nicht durchringen. Trotz vielfacher antisemitischer Schmähungen und Demütigungen ist er seinem Glauben treu geblieben und hat auch im Gegensatz zu seinem Bruder seinen jüdischen Nachnamen nie „eingedeutscht“. Als er nach einer erneuten schändlichen Schmähung um Entbindung von seinem Amt ersucht und abreist, schickt ihm Wagner ein Telegramm nach: „Um Gotteswillen, kehren Sie sogleich um und lernen Sie uns endlich ordentlich kennen!“ Levis Liebe zu Wagners Werken und seine Verehrung für den Komponisten sind stärker als sein Stolz. Er kommt zurück und wird von der Musik des Parsifal verführt, so behauptet es zumindest Laurence Dreyfus in seinem Buch, das er dann auch so betitelt. Allerdings ist die Stelle, an der Dreyfus schreibt „Parsifal hat in verführt“, die einzige beschriebene fiktive Liebesszene mit Anna Ettlinger, seiner Biografin, und spielt im März 1899, fast 17 Jahre nach der Uraufführung von Wagners Bühnenweihfestspiel. Levi kämpft zeitlebens mit großen Gewissenskonflikten, die ihn auch von seinem einzigen echten Freund Johannes Brahms entfremden.  Am Ende nimmt er das Dirigat an, wissend, dass der Konflikt für ihn unlösbar ist.

Der auf unterschiedlichen Ebenen wabernde Beziehungskonflikt ist das Kernthema des Romans Parsifals Verführung von Laurence Dreyfus, der nun im Alter von mittlerweile 70 Jahren ein sehr ungewöhnliches Romandebüt vorlegt. Dreyfus, 1952 in Boston geboren, hat jahrzehntelang eine ungewöhnliche Doppelkarriere als Musikwissenschaftler und Musiker verfolgt. Er war Professor in Yale, Chicago, Stanford, an der Royal Academy of Music und am King‘s College London, bevor er an die Oxford University wechselte. Dreyfus ist aber auch bekannt als Gambist und künstlerischer Leiter des Gamben-Consorts Phantasm, das er 1994 gründete. Als Solist und mit seinem Ensemble gastiert der US-Amerikaner auf Festivals und Konzertbühnen in Europa, den USA und Fernost. Dreyfus ist sowohl Politologe als auch Musikwissenschaftler. Er hat viel über Bach geforscht und veröffentlicht und 2010 das bemerkenswerte Buch Wagner and the Erotic Impulse veröffentlicht, heute ein Standardwerk der musikwissenschaftlichen Literatur über Wagner. Dreyfus lebt seit 2013 in Berlin und nahm 2021 die deutsche Staatsbürgerschaft an. Sein Debütroman Parsifals Verführung wurde nun in der deutschen Übersetzung von Wolfgang Schlüter veröffentlicht. Er führt uns in das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, in eine an musikalischen Erlebnissen ungemein reiche Zeit, in der Brahms, Bruckner, Mahler, Puccini, Tschaikowski, Strauss, Verdi und Wagner wirkten.

Wer nun erwartet, einen reinen Wagner-Roman vorgesetzt zu bekommen, mit möglichst intimen Einblicken in den Wagner-Clan, der wird vielleicht enttäuscht sein, denn so billig macht es Dreyfus dem Leser nicht. Der Roman ist einerseits ein Stück musikwissenschaftlicher Zeitgeschichte, bei dem der Parsifal zwar thematisch im Mittelpunkt steht, inhaltlich aber eher eine untergeordnete Rolle spielt. Vielmehr ist es eine Art Lebensrückblick des Dirigenten, den er seiner alten Freundin Anna Ettlinger in einem Zeitraum von acht Tagen im März 1899 offenbart. Ettlinger war eine renommierte deutsche Literaturdozentin, Kritikerin und Schriftstellerin. 1882 schrieb sie eine vielbeachtete Rezension über Wagners Parsifal. Während sie die Musik bewunderte, distanzierte sie sich zugleich von Wagners Antisemitismus und verurteilte dessen Schwiegersohn H. S. Chamberlain als Wegbereiter „geistiger Pogrome“. Dieser Lebensrückblick mündet in die schon angesprochene einzige und einmalige Liebesszene in diesem Buch. Wie poetisch und schön Dreyfus schreibt und Schlüter entsprechend übersetzt, beweist genau diese Stelle: „Zart küsste sie ihn erst auf die Stirn, dann auf jedes seiner feuchten Augen, und dann legte sie sich, während sie ihn zum Sofa hinzog, seinen Arm um ihre Schulter. Er hatte einen anderen gefunden: den Bayreuther Meister, der die Macht seiner Sehnsüchte anspornte. Dieweil er ihm mit der Schönheit seiner verstörenden Ideen umgarnte. Allein, mit diesem Wissen war auch der Schrecken des Verlangens gekommen, seine Versklavung, das Erkennen der Liebesqual. Parsifal hatte ihn verführt.“

Einen weitaus größeren Schwerpunkt als die konfliktbeladene Beziehung zu Wagner und dessen Frau Cosima bildet die langjährige enge Freundschaft Levis zu Johannes Brahms, der von ihm vertraulich als Hannes angesprochen wird. Diese Freundschaft zerbirst unter Levis Einstehen für die Werke Wagners, die Brahms vordergründig strikt ablehnt und sich damit auch eins weiß mit Clara Schumann, die nach einer Vorstellung des Tristan in München, die Levi dirigiert, nur Abscheu für die Musik und insbesondere die Handlung empfindet. Levis zunächst sehr enge Freundschaft mit Brahms, die in einer homoerotischen Traumfantasie ihren Höhepunkt hat, leidet immer mehr unter Levis fast schon devotem Verhalten gegenüber Wagner und seiner Frau Cosima, die Levi bezeichnenderweise als „Meisterin“ tituliert. Gegenüber Anna Ettlinger beschreibt Levi das Paradoxon seiner Dreiecksbeziehung zu Brahms und Wagner wie folgt: „Wagner, berüchtigt für seine Angriffe auf das Judentum, lud mich ein, den Parsifal zu dirigieren, während Brahms, mein guter Kamerad, dem alle Juden lieb und teuer waren, die Uraufführung seines Deutschen Requiems mir nicht anvertraute.“ Vielleicht hatte es Brahms als unpassend gefunden, wenn jemand namens Levi ein Deutsches Requiem dirigiert. Auch wenn diese Worte nur fiktiv sind, so beschreiben sie auf den Punkt gebracht die Ambivalenz der Freundschaften Levis zu Wagner und Brahms.

Dieser über acht Tage dauernde Rückblick umfasst die Jahre von 1855 bis 1899, allerdings nicht in chronologischer Reihenfolge, sondern Dreyfus springt ganz bewusst immer hin und her, manchmal liegen Dekaden zwischen den einzelnen Kapiteln. Das kann den Leser, der nicht so sehr vertraut ist mit den historischen Daten von Wagner, Brahms und Schumann, schon mal etwas ermüden oder verwirren.

Das Dreyfus sich aber mit Musik auch aus der wissenschaftlichen Perspektive gut auskennt, dafür ist diese Szene ein profundes Beispiel, in dem er belegt, das Johannes Brahms sich eines Themas beim Bach-Präludium bedient habe, und durch Verschiebung von Taktschwerpunkten seine Spuren verwischt habe. Aufgefallen sei Levi das bei einem Klaviervortrag von Joseph Rubinstein im Hause Wahnfried, einem russisch-jüdischen Klaviervirtuosen und ebenfalls glühenden Verehrer Wagners. Anna Ettlinger fasst diese Erkenntnis zu einem Kettenrund: „Ein Ostjude aus Russland – der Bach spielt für den Antisemiten Wagner – der den erzchristlichen Parsifal komponierte – den sein jüdischer Verehrer Levi dirigierte – der mit seinem wagnerhassenden Kameraden Brahms gebrochen – der ein Fitzelchen Bach entwendet hatte, um daraus ein eigenes Stück zu schneidern – das sie durch Hermann lieben gelernt hatte.“

Der Parsifal selbst und dessen Uraufführung werden in dem Buch allerdings nur am Rande erwähnt. Dreyfus analysiert das Werk und seine Bedeutung für Hermann Levi anhand der Kuss-Szene im zweiten Aufzug: „Und dann war da noch der Kuss. Jener berüchtigte Kuss, den Kundry, die ewige Jüdin, dem reinen Toren aufzwingt im Drang, ihn zu verführen, nach Generationen des Leidens: ihr Fluch als Folge dessen, dass sie über den Heiland am Kreuz gelacht hatte – ihre Flucht in ein obsessives Begehren als ein Mittel, diesem Fluch zu entrinnen, ihre Schuld abzubüßen. Und Parsifal, dem durch diese machtvolle weibliche Umgarnung das Trügerische sinnlichen Verlangens bewusst wird, die Nichtigkeit eines Eros, dem es an Mitleid gebricht. In Parsifals Zurückweisung Kundrys in seinem Begreifen von Amfortas‘ Hinfälligkeit erkannte Hermann sich selbst und zugleich das, was der Meister in ihm sah.“ Es ist müßig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, ob die Bezeichnung Kundrys als „ewige Jüdin“ nun wirklich dem Gedankengut Hermann Levis entsprach, ob Dreyfus es in seiner Wagnerschen Interpretation so sieht und diese Worte Levi in den Mund legt. Fakt ist, dass es neben der Kundry im Parsifal vor allem der Sixtus Beckmesser in den Meistersingern und der Mime im Siegfried ist, in deren Figuren die Musikwissenschaft die von Richard Wagner geschmähten Eigenschaften des Juden wiederzuerkennen vermag.

Die Uraufführung des Parsifal in Bayreuth, wohl der bedeutendste Tag im Leben der Dirigentenkarriere des Hermann Levi, wird im vorliegenden Werk überhaupt nicht beschrieben, vielleicht hat Dreyfus da seinen eigenen Recherchen oder seiner Fantasie nicht getraut. Lediglich ein Brief vom 31. August 1882 Levis an seinen Vater, der für ihn zeitlebens eine ganz wichtige Bezugsperson war, hat die letzte Aufführung des Parsifal der Bayreuther Festspiele von 1882 zum Thema: „Die letzte Parsifal-Vorstellung war herrlich. Während der Verwandlungsmusik kam der Meister ins Orchester, krabbelte bis zu meinem Pult hinauf, nahm mir den Stab aus der Hand und dirigierte die Vorstellung zu Ende.“ Neben der vielen fiktiven Darstellungen sind die zitierten Briefe von und an Levi authentisch.

Der Schluss des Buches beschreibt eine Szene, etwa ein knappes Jahr nach Levis Tod im Mai 1900. In seiner Villa trifft Anna Ettlinger auf dessen Witwe Mary Fiedler und auf die Meisterin aus Bayreuth, Cosima Wagner. Es geht um Dokumente, persönliche Briefe, die Anna haben möchte, um die Biografie Hermann Levis zu vollenden. Doch zu ihrem Erstaunen möchte Levis Witwe, die sich für die Musik zu Lebzeiten Levis augenscheinlich wenig interessiert hat, nun mit Unterstützung aus Bayreuth selbst diese Biografie verfassen. Dieser Schluss, auch wenn prosaisch schön geschrieben, ist nun aber so absurd, dass er den Gesamteindruck des Buches etwas trübt. Dennoch ist Parsifals Verführung von Laurence Dreyfus ein lesenswerter Roman, der nicht nur Wagnerianer anspricht, sondern alle, die an Musikgeschichte und historischen Figuren interessiert sind, wobei Kenntnisse der Werke Wagners und Brahms sowie derer Biografien für Teile des Romans nicht von Nachteil sind. Nicht zu vergessen die prosaische Übersetzung von Wolfgang Schlüter, der auch aus belanglosen Szenen sprachliche Kunstwerke schafft, das ist die eigentliche Stärke des Romans in einer verschwommenen Grauzone zwischen Fiktion und historisch belegbarer Realität.

Andreas H. Hölscher