O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Wenn‘s im Kopf singt und klingt

Auch wenn die Erstauflage dieses Buches schon seit 2002 und die Zweitauflage seit 2014 vorliegt, lohnt sich heute noch eine Besprechung, zumal der Autor selbst überrascht ist von der positiven Aufnahme seiner Arbeit, die sich mit den spannenden, aber auch höchst komplexen Zusammenhängen zwischen Musik, Psychologie und Neurobiologie befasst. Im  Vorwort zur zweiten Auflage unterstreicht Spitzer, dass dieses Buch ihm „beim Schreiben am meisten Spaß gemacht hat“.

Entsprechend dem Untertitel gliedert Spitzer nach einer kurzen historischen Einleitung sein Buch in die vier Teile Musik hören, Musik erleben, Musik machen und Musik verstehen,  die er auf gut 400 Seiten „harten Stoff“ verteilt. Sie muss der Leser erst einmal schlucken und kann sich dabei durchaus einige Male verschlucken. In insgesamt 17 Kapiteln breitet Spitzer unterschiedlichste Themen wie „Vom Ohr zum Gehirn“, „Zeitstruktur und Gedächtnis“ oder „Absolutes und relatives Gehör“ und „Gesundheit, Medizin und Therapie“ aus. Fast weitere 40 Seiten umfassen das Literaturverzeichnis und ein Sach- und Personenregister. Dem Leser wird schnell klar, dass die Lektüre kein leichtfüßiger Spaziergang wird, obwohl der Text an vielen Stellen durchaus Unterhaltungswert hat. Das beginnt mit einer Reihe von zunächst verwirrenden Widersprüchen, wenn  Spitzer  beispielsweise versucht, die Grundfrage „Was ist Musik?“ zu beantworten: „Musik hat etwas mit Ton und Melodie, Klang und Klangfarbe, Harmonie und Rhythmus sowie mit komplexen hieraus gebildeten akustischen Strukturen zu tun.“ – Ist also John Cages berühmte Komposition von 4`33 Minuten Pause Musik?  Ist der „Klang einer verbrennenden Geige auf der Bühne“ Musik? Nochmals in Kurzfassung: „Musik ist Melodie, Harmonie, Rhythmus und Struktur“.

Manfred Spitzer, Professor für Psychiatrie an der Universität Ulm, hat sich aufgrund zahlreicher Publikationen und Vorträge national wie international einen Namen gemacht, viel Reputation erworben und an der Universität Ulm an der Entwicklung der Neurowissenschaften maßgeblich mitgewirkt. Neben seiner Tätigkeit  als ausgewiesener und publizistisch breit vertretener Wissenschaftler, der bei aller Anschaulichkeit seiner Texte und einer häufig lockeren Sprache zunächst nach den Fakten fragt, ist Spitzer aktiver Musiker, der in der Verbindung von Neurowissenschaften und der Musikwissenschaft  neue inhaltliche Akzente gesetzt hat. Auch wenn nach seiner Einschätzung „neurologische Untersuchungen zur Musik überhaupt erst … so richtig spannend“ machen, bleibt er selbst als Schlagzeuger ein begeisterter Musiker. Er betrachtet Musik als einen „Spezialfall von Wahrnehmen, Denken, Lernen und Handeln“, quasi als eine Art Brennpunkt,  in der Beschäftigung mit Musik kann man die „Effekte des Lernens auf das Gehirn des Menschen“ besonders gut studieren.

Spitzer beginnt seine umfassende Arbeit mit einem historischen Abriss über die Entwicklung der Musik und der Instrumente,  von China bis zum westlichen Abendland, von „Engelsharfen“ bis zur „Teufelsgeige“, von der „niederen Kunst“ bis zur „hohen Kunst“. Knapp stellt er fest: “Der Stand der Zauberer und Priester stellt die ersten Berufsmusiker“. Neue Techniken wie der Transistor, die CD oder die MP3-Technik brachten die „Musik ohne Musikanten“ hervor. Andererseits habe die Anthropologie bisher keine menschliche Gesellschaft angetroffen, „ in der es Musik nicht gibt“. Dies spiegelt sich unter anderem in Redensarten wie diesen wider: Die erste Geige spielen – Den Ton angeben – Jemandem den Marsch blasen – oder „Auf dem letzten Loch pfeifen“.

Eine der zentralen Fragen Spitzers ist die einfache, ja, banale Frage: „Warum … bereitet uns das Erzeugen und Wahrnehmen von Schwingungen der Luft so großes Vergnügen?“ Seine unterschiedlichen Antworten auf die Frage „Was ist Musik?“ fasst er anthropologisch knapp zusammen: „Musik ist Gestalt in der Zeit“. Er mutet dem Leser zu, Musik als einen Sachverhalt zu begreifen, „der sich nur verstehen lässt, wenn man das Hören (Wahrnehmen), das Musizieren (als komplexes Verhalten) und das Verstehen und Erleben von Musik genauer analysiert“, um zu erkennen, was „Musik“ vom „Rauschen“, also von ungeordneten Luftbewegungen unterscheidet.

Im Kapitel vier beschreibt und diskutiert Spitzer die gegensätzlichen Thesen, wonach die verschiedenen Musiken, die Stile und Eigenheiten als gleichberechtigte „kulturelle Produkte“ nebeneinander stehen, andere sehen in der Musik „physikalische und mathematisch beschreibbare Gesetzmäßigkeiten“, die keineswegs beliebig sind, und nach der die abendländisch-westlichen Musik „das Produkt einer zwangsläufigen Entwicklung“ ist. Sie sei keineswegs dem schöpferischen und kulturell gebundenen Geist eines Komponisten entsprungen. Spitzer bereitet seine Leser auf einen komplizierten Weg vor, der mit viel Mühe und „vielen interessanten Einsichten aus Musik, Mathematik, Physik und Physiologie“ gespickt ist. – Sie machen einerseits den Reiz und Gewinn dieses Buches aus, offenbaren an mehreren Stellen aber auch Schwächen der Darstellung. Auf diesem Weg wandert Spitzer durch die Grundbegriffe der Musikwissenschaft, erläutert – auch für Nichtlateiner – „Intervalle“, den Unterschied zwischen „Oktave“ und „Quinte“, beschreibt den Unterschied zwischen „Melodie“ und „Tonleiter“, die unterschiedlichen Eigenschaften von gesungenen und gespielten Tönen. Er erklärt „Klangfarben“ verschiedener Instrumente und die Bedeutung der „Obertöne“, die beim Spielen eines Instrumentes unvermeidlich mitklingen und mit denen eine „Tonleiter“ festgelegt wird – eine physikalisch-mathematische Funktion – kaum nachzuvollziehen für einen mathematischen Laien.

Die in den folgenden Kapiteln ausgebreiteten Grundlagen der Akustik und des Hörens verlangen vom Leser physikalisch-musikalisches Mitdenken und eine gehörige Portion Anstrengung. Spitzer nennt das Gehirn das „Organ der Musik“ und betont immer wieder, dass Musik hören nicht nur Schallwellen aufnehmen ist, sondern in sehr komplexem Maße die Verarbeitung der Wahrnehmung. Die Ausführungen reichen vom Erleben der Musik schon im Mutterleib bis zur Befähigung zum absoluten Gehör. Bei all seinen umfangreichen Darstellungen gewinnt der Leser den Eindruck, dass Spitzer sich Zeit lässt und oft sehr persönlich argumentiert, was dem Text zusätzliche Authentizität verleiht. Viele seiner Beispiele stammen aus dem Alltag und sind lebensnah, wie beispielsweise die „Bierglas“-Methode beim Stimmen eines E-Basses. Die dabei zugemuteten theoretisch-wissenschaftlichen Grundkenntnisse sind beachtlich. Spitzer bringt ohne zu zögern „Helmholtz, Schwebung und Harmonie“ in einen Zusammenhang.

In den Kapiteln sechs bis acht befasst sich der Musikwissenschaftler ausführlich mit dem Entstehen, den Eigenschaften und den theoretischen Voraussetzungen von Tönen und Tonerzeugung.  Dabei wird er zum Teil sehr abstrakt: „… durch Addieren von Sinusschwingungen der Obertonreihe zu einem Grundton Töne unterschiedlicher Klangfarbe erzeugen …“. Geradezu spannend sind seine Ausführungen zu den Möglichkeiten der Tonerzeugung, der Tonwahrnehmung und der Erfindung neuer Töne, auch wenn sie viel Physik und Mathematik voraussetzen. Mit neuen, etwa künstlich durch Elektronik generierten Tönen „könnte also alles auch ganz anders sein“, wie er mit Bezug auf indonesische Musik belegt.

Spitzer liebt überraschende, provokante Formulierungen: „Gäbe es kein Gedächtnis, so gäbe es auch keine Musik. Musik ist eine Struktur in der Zeit“. Ohne Gedächtnis wären wir nicht in der Lage, eine Melodie überhaupt als Melodie zu hören. Wir selbst sind es, unser Gehirn, das aus dem Bündel von Schallwellen, die unser Ohr erreichen, die Geräusche zu Ereignissen formen – darunter besonders: die Ereignisse der Sprache und der Musik. Bei ihrer Wahrnehmung und Entschlüsselung bedienen sich unsere Sinne sowohl physiologischer Bedingungen wie vorheriger Erfahrungen. Im Hinblick auf die Musik betont Spitzer, „der wichtigste Gesichtspunkt des Gedächtnisses“ sei die Zeit. Das ist auch in Verbindung mit der Ereignisbildung erkennbar, wie er am Beispiel des Feuerwehr-Signals anschaulich darstellt. „Was der Sprache das Wort, ist der Musik das Motiv“. Nach vielen Beispielen kommt Spitzer zu dem nicht mehr überraschenden Ergebnis, dass es Musik nur gibt, „weil es Gedächtnisleistungen gibt“. Allerdings muss er mit dem in den 1990-er Jahren populären „Mozart-Effekt“ aufräumen und alle diejenigen Eltern und Musikpädagogen enttäuschen, die sich von der Mozart-Berieselung ihrer Kinder eine Zunahme der Intelligenz versprechen. „Nach den vorliegenden Daten gibt es keinen Mozart-Effekt.“

In Teil zwei seines Buches geht Spitzer ausführlich auf den subjektiven Charakter des Musik-Erlebens ein, das er vorwiegend psychologisch und mit Bezug zu den ihm zugrunde liegenden neurobiologischen Mechanismen interpretiert. Überraschend und bisweilen amüsant sind die zahlreichen Ergebnisse aus Untersuchungen, die über das Hörvermögen von Säuglingen vor und nach der Geburt berichten. Sie laufen letztlich darauf hinaus, dass „Säuglinge schon im Mutterleib Musik“ erleben und frühe akustische oder optische Reize ihre Hör- wie die Sehfähigkeiten messbar fördern.

Quasi anekdotisch geht Spitzer auf das Hör-Schicksal bekannter Komponisten ein. Neben der bekannten Schwerhörigkeit von Beethoven zeigt auch die Geschichte Maurice Ravels die Folgen einer Amusie. Einem Freund gegenüber gesteht Ravel, der sich mit dem Entwurf der Oper Jeanne d‘Arc befasste: „Es ist vorbei; ich kann meine Musik nicht mehr schreiben.“ Selbst eigene Stücke kann er weder aus dem Gedächtnis noch vom Blatt spielen. Aus den vielen von ihm analysierten Untersuchungen kommt Spitzer zu dem Schluss, dass es weder das Musikzentrum noch ein Rhythmuszentrum oder das Sprachzentrum im Gehirn gibt.

Es ist kaum möglich, den vielen Daten und Beispielen zu folgen, die Spitzer dem Leser präsentiert. Nicht neu, aber eben doch überraschend ist seine Feststellung, dass es auf einem Segelschiff „nicht viel anders zu geht als in einem Sinfonieorchester …“ Sea Shanties sind Lieder, die von Seeleuten zur Arbeit gesungen wurden, um die Aktivität der Gruppe zu koordinieren. Diese „Arbeitsmusik“ der Seeleute sieht Spitzer durchaus in Beziehung zum rhythmischen Beifall-Klatschen nach einer Theater- oder Konzertaufführung.

Besondere Aufmerksamkeit verdient das Kapitel Absolutes und relatives Gehör. Was für wenig musikalische Menschen ein völlig unverständliches Rätsel bleibt, ist für die „Begabten“ ihre „natürliche“  Fähigkeit, aus dem Tonbewusstsein heraus einen Ton zu bestimmen oder ihn ohne Instrumentenhilfe zu singen.  Mit Bezug auf zum Teil über 100 Jahre alte Untersuchungen folgert Spitzer, „dass das absolute Gehör erlernt ist“. Auch das öffentliche Sprechen und Singen ist eine besondere Leistung. „Auf der Bühne zu stehen und zu singen ist die schwierigste Art, öffentlich zu musizieren“. Beim Lachen und Weinen, Flüstern, Ächzen und Stöhnen leisten unsere Sprachorgane Erstaunliches, die beteiligten Organe treiben einen „unglaublich komplizierten Aufwand“. Mit physikalischen,  medizinischen und neurologischen Begriffen und Bildern beschreibt der Autor das komplizierte Zusammenspiel der Organe, die im Kopf, im Hals und Oberkörper an der Klangerzeugung beteiligt sind. „Sprechen gehört zu den Höchstleistungen, die wir täglich vollbringen …“. Trotz seiner kaum noch zu überblickenden Quellen und Untersuchungen weist Spitzer mehrfach darauf hin, dass das Musizieren unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten trotz seiner Verbreitung „wissenschaftlich wenig untersucht“ ist.

Wer sich dem Kapitel zwölf Musizieren lernen intensiv zuwendet, mag wegen des Aufwandes vielleicht gar nicht erst mit dem Üben beginnen. Angesichts zahlreicher digitaler Hilfsmittel für den Musikunterricht betont der Autor, dass eine wesentliche Hilfe beim Musizieren lernen die Motivation ist, die wesentlich von der Beziehung zum Lehrer oder Therapeuten getragen wird. Auch der gemeinschaftsbildende Charakter des Musizierens droht angesichts neuer Techniken wie etwa dem Kopfhörer verloren zu gehen. Mit seinen Überlegungen zum Chorsingen und Orchesterspiel, zur Hausmusik und der Königsdisziplin, dem Improvisieren nähert sich Spitzer wieder dem musikalischen Alltag. Die ständig sich wandelnden Musikstile und -vorlieben belegen, dass Kultur und damit auch die Musik als „lebensbedeutsame Inhalte ständigem Wandel unterliegen“. In seinem letzten Kapitel kommt Psychiater Spitzer auf sein vorrangiges Anliegen zurück, die Musiktherapie. Sie soll dem Menschen helfen, „durch den Einsatz musikbezogener Erfahrungen“ seine Gesundheit zu fördern. Mit einem Appell zum eigenen Musizieren beschließt Spitzer sein fakten- und facettenreiches Buch.

Spitzers Buch ist keine leichte Kost, keine Unterhaltung. Der Leser hat ein Buch in der Hand, das er sowohl als Lexikon wie als Erfahrungsbericht oder als Musik-Fachbuch nutzen kann. Es setzt sowohl Kenntnisse über den Musikbetrieb als auch Grundlagen der Neurologie voraus. Dem Autor gelingt es, schwierige analytische Zusammenhänge ebenso verständlich darzustellen wie konkret-realistische Problemkonstellationen bei Patienten nachvollziehbar zu machen. Zwischen diesen beiden Polen ist eine äußerst spannende, aufklärerische und weiterführende Arbeit  entstanden.

Horst Dichanz