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Kulturmagazin mit Charakter

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Der Impresario

Wer sich mit der Rezeptionsgeschichte der Werke Richard Wagners beschäftigt, wird im Laufe des Studiums allgemeiner Literatur auf viele bedeutsame Namen stoßen. Dirigenten, Sänger, Regisseure, Familienmitglieder und befreundete Komponisten, die alle einen großen Anteil daran haben, dass die Werke Wagners schon zu seinen Lebzeiten populär wurden und er und sein Schaffen bis heute auf der ganzen Welt zum Kulturgut gehören. Einen Namen wird man dabei eher nicht finden, und wenn, dann nur als Randnotiz.  Josef „Angelo“ Neumann, geboren am 18. August 1838 in Stampfen und am 20. Dezember 1910 in Prag gestorben, war ein deutscher Opernsänger im Stimmfach Bariton und Theaterintendant. Früh entwickelte Neumann sein Interesse am Gesang und erhielt eine Ausbildung zum Opernsänger. Nach Engagements in Berlin, Köln, Krakau, Ödenburg, Preßburg und Danzig kam er 1862 an die Wiener Opernbühnen, wo er bis 1876 tätig blieb. Während dieser Jahre machte er erste Bekanntschaft mit Richard Wagner und dessen Werk. 1876, im Jahr der ersten Festspiele in Bayreuth und der zyklischen Uraufführung von Wagners Ring des Nibelungen wurde er Operndirektor in Leipzig. Seine Ägide begann mit einer Inszenierung des Lohengrin, es folgten weitere Wagner-Opern sowie Aufführungen von Verdis Aida und Bizets Carmen. Im April 1878 erfolgte in Leipzig die erste externe Aufführung des gesamten Rings des Nibelungen nach dessen Uraufführung 1876 in Bayreuth. 1881 organisierte er weitere Aufführungen des Rings in Berlin. Nach Erwerb der originalen Bühnenbilder sowie auch der Kostüme der Bayreuther Uraufführung unternahm Neumann eine Art Europatournee mit Gesamtaufführungen des Rings des Nibelungen durch ein reisendes Ensemble. Zwischen September 1882 und Juni 1883 erfolgten insgesamt heute unvorstellbare 135 Ring-Vorstellungen und über 50 Wagner-Konzerte, unter anderem im April 1883, zwei Monate nach Wagners Tod, im Teatro La Fenice in Venedig.1885 wurde Angelo Neumann Intendant des Ständetheaters in Prag, dessen Neubau als Neues Deutsches Theater er organisierte. Ein Prunksaal in der heutigen Prager Staatsoper, der Státní Opera erinnert an seinen Namen. An seinem Begräbnis im Dezember 1910 nahm noch das kulturelle und politische deutsche Prag teil, doch bald gerieten Neumann und auch sein Grab in Vergessenheit. Anlässlich seines 100. Todestages wurde es gesucht, gefunden und restauriert.

Das Josef „Angelo“ Neumann wieder in das Bewusstsein der Opernfreunde, vor allem der Anhänger der Werke Richard Wagners gedrungen ist, ist vor allem dem Wiener Autor Heinz Irrgeher zu verdanken. Vor knapp 80 Jahren in der Stadt an der schönen blauen Donau geboren, hat er an der Universität Wien Jura studiert und promoviert. Sein berufliches Leben verbrachte er in leitenden Funktionen im Bankgewerbe. Doch seine wahre Berufung und Leidenschaft war und ist die Musik, vor allem die Oper. So war Heinz Irrgeher von 1981 bis 1994 Präsident des einflussreichen Vereins der Freunde der Wiener Staatsoper.                          Nach Beendigung seiner beruflichen Tätigkeit in der Privatwirtschaft gründete und leitete er die Stretta, das Magazin der Freunde der Wiener Staatsoper, für das Heinz Irrgeher auch regelmäßig Artikel schrieb. Zudem widmete er sich ab 2006 dem Studium der Musikwissenschaft und beendete es im Jahr 2011 mit einer Diplomarbeit über Josef „Angelo“ Neumann. Über Neumann, Wagners vergessenen Propheten, hat er ein eigenes Buch verfasst.

Mit sehr viel Liebe zum Detail und einer akribischen Recherche zeichnet Irrgeher den beeindruckenden Lebensweg von Neumann nach und zeigt auf, wie wichtig Neumann einerseits für die Stadt Leipzig und ihr kulturelles Leben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, und wie wichtig andererseits Neumann für die Verbreitung der Werke Wagners, vor allem seines Rings des Nibelungen gewesen ist. Der Sänger Josef Neumann hatte, bis eine Erkrankung des Stimmapparates ihn zur Aufgabe des Sängerberufes zwang, etwa 1.000 Aufführungen in mittleren Partien seines Fachs an Wiener Hofoper gesungen, darunter auch den Nachtwächter in der Wiener Erstaufführung der Meistersinger von Nürnberg. Nach Beendigung seiner Sängerlaufbahn wurde Neumann Regieassistent am Burgtheater Wien. Der hiesige Oberregisseur August Förster hatte sich 1875 erfolgreich um die Intendanz der Oper Leipzig beworben und nahm Neumann als Opernchef gleich mit. 1876 begann die erfolgreiche Zeit von Neumann, zu diesem Zeitpunkt gerade mal 38 Jahre alt, in Leipzig, und er setzte mit dem in Leipzig mehrfach durchgefallenen Lohengrin ein Ausrufezeichen. Dank des neuen Dirigenten Josef Sucher wurde die Aufführung ein triumphaler Erfolg. Die Leipziger Tageszeitung schrieb in ihrer Rezension, „dass Leipzig den Lohengrin erst an diesem Tag kennengelernt habe“. Beflügelt von diesem Erfolg verhandelte Neumann mit Bayreuth über die Aufführungsrechte des Rings des Nibelungen, der gerade als Zyklus uraufgeführt wurde und für die meisten europäischen Bühnen der damaligen Zeit als nicht aufführbar galt. Doch Neumann setzte sich gegen viele Widerstände durch und holte den Ring nach Leipzig, der Geburtsstadt Richard Wagners, die mit ihrem so berühmten Sohn zeitlebens fremdelte und erst seit den Feierlichkeiten zum 200. Geburtstag Wagners 2013 nach und nach mit den Aufführungen aller dreizehn fertiggestellten Opern den gebührenden Respekt zollte. Leipzig war tatsächlich die erste Bühne nach Bayreuth, die den Ring 1878 innerhalb von vier Monaten geschlossen aufführte und noch in derselben Saison 1878/79 zu Gesamtaufführungen innerhalb einer Woche überging. Irrgeher vergleicht das Wirken Neumanns an der Oper Leipzig, der neben dem Ring dem Publikum leichtes Repertoire im Alten Leipziger Stadttheater bot, mit anderen großen Häusern, die vor Aufführungen einzelner Ring-Werke wochenlang so genannte „Schließtage“ hatten. Besonders bemerkenswert ist die Tatsache, dass es in Leipzig im Jahre 1879 insgesamt 41 Wagner-Aufführungen gegeben hat, darunter vier komplette Ringe. Eine Zahl, die heute unvorstellbar ist.

Das setzte sich in den folgenden Jahren weiter so fort und kumulierte 1882 mit nochmals 58 Wagner-Aufführungen einschließlich zweier geschlossener Ringe und einem fulminantem Wagner-Fest am Ende von Neumanns Zeit in Leipzig, wo unter Ausnahme der drei Jugendwerke Wagners – Die Feen, Das Liebesverbot und Rienzi – und des Parsifal, der gerade erst in Bayreuth uraufgeführt wurde und für die kommenden 30 Jahre ausschließlich im Festspielhaus gegeben wurde, sämtliche Wagner-Opern in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufgeführt wurden. Es sollte im Übrigen ganze unglaubliche 140 Jahre dauern, bis in diesem Sommer in Leipzig im Rahmen des Festivals Wagner22 alle dreizehn Bühnenwerke Wagners in einem Zeitraum von drei Wochen in chronologischer Reihenfolge zu sehen waren.

Auch über die Grenzen Leipzigs hinaus war Neumann missionarisch für Wagners Ring tätig. So kam es 1881 zu einem erfolgreichen Gastspiel mit vier Gesamtaufführungen am Berliner Victoria-Theater, und der Komponist nebst Gattin Cosima und Tochter besuchte seinerseits den ersten und letzten Zyklus und ließ sich vom Berliner Publikum feiern. Irrgeher hat dazu eine herrliche Anekdote über Hans von Bülow gefunden, dem Dirigenten der Uraufführungen von Tristan und Isolde und Die Meistersinger von Nürnberg sowie in erster Ehe mit Cosima, Wagners zweiter Ehefrau, verheiratet. Von Bülow besuchte das Opernhaus einmal mit schwarzem Anzug, schwarzer Krawatte und Trauerflor und auf die Frage nach dem traurigen Anlass gab er zur Antwort, dass das seine „übliche Kleidung für noble Leichbegängnisse sei.“ Und auf die Frage, warum er nicht in Bayreuth dirigiere, antwortete er angeblich, „er fürchte, Wagner werde ihm auch seine zweite Frau wegnehmen und dafür die erste, nämlich Cosima, zurückgeben.“

Im Mai 1882 gastierte Neumann mit dem Ring In London und brachte ihn dort viermal zyklisch zur erfolgreichen Aufführung, in Anwesenheit des zukünftigen englischen Königs. In Sachen Missionarsarbeit für Wagner, insbesondere für dessen Ring, war Neumann unermüdlich. Nach seiner Leipziger Zeit gründete Neumann das „Wandernde Wagnertheater“. Zuvor hat er von Wagner die Aufführungsrechte für Europa und die Bayreuther Kulissen erworben. Er chartert einen Sonderzug mit zwölf Waggons voll mit den Kulissen, Technikern, Musikern, zwei Besetzungen, einem Chor und fährt mit diesem fast zwei Jahre quer durch Europa  und führt in dieser Zeit in 55 Städten, von Breslau bis Budapest, von Danzig bis Antwerpen, von Königsberg bis Mailand, von Köln bis Rom den gesamten Ring auf, oft mit Zusatzvorstellungen der Walküre, und Wagner-Konzerten an den „Rasttagen“ zwischen Walküre und Siegfried. Das war eine für die damalige Zeit unvorstellbare logistische Meisterleistung und Organisation, die Josef „Angelo“ Neumann vollbrachte und damit den Ring in dieser kurzen Zeit in ganz Deutschland und halb Europa nicht nur bekannt, sondern auch gesellschaftsfähig gemacht hatte. Ein im wahrsten Sinne des Wortes Prophet Wagners.

Auch erwies sich Neumann als sehr geschäftstüchtig, indem er Aufführungsrechte und Partituren weiterverkaufte, bei finanzieller Beteiligung Wagners, der also in doppelter Hinsicht von Neumann profitieren konnte. Nach einer Kurzintendanz in Bremen geht Neumann dann 1885 nach Prag, wird dort Chef der Deutschen Bühnen und ab 1887 des Neuen Deutschen Theaters, das er bis zu seinem Tode 1910 leitet und auch dort Maßstäbe setzt und insbesondere die Werke Wagners pflegt.

Mit dieser besonderen Lebensgeschichte hat sich Irrgeher im Rahmen seiner Diplomarbeit, die er mit fast 70 Jahren erfolgreich abschloss, eingehend in seinem Buch Josef „Angelo“ Neumann – Wagners vergessener Prophet auf insgesamt 271 Seiten liebevoll und akribisch beschäftigt. Das Geleitwort zu diesem Buch schrieb Ulf Schirmer, bis zu diesem Sommer Intendant und Generalmusikdirektor der Oper Leipzig und Initiator des diesjährigen Festivals Wagner22. Schirmer schreibt über das schwierige Verhältnis der Stadt Leipzig zu Wagner, und über die erste Ring-Aufführung 1878 unter Neumann, die Wagner im Übrigen selbst in einem Telegramm so kommentiert hat: „Heil Leipzig, meiner Vaterstadt, die eine so kühne Theaterdirektion hat.“ Ergänzt wird das Geleitwort von Dominique Meyer, dem ehemaligen Direktor der Wiener Staatsoper und Intendanten der Mailänder Scala, der Irrgehers Verdienste um die Wiedererweckung der Bedeutung Neumanns für das kulturelle Leben des späten 19. Jahrhunderts, insbesondere in Sachen Wagner und dessen Ring hervorhebt.

Diese Biografie Neumanns ist im Übrigen nicht in Wien, Irrgehers Heimatstadt und langjähriger künstlerischer Wirkungsstätte als Präsident des Vereins der Freunde der Wiener Staatsoper erschienen, sondern wie auch sein aktuelles Buch Wiener Operng’schichten im Leipziger Universitätsverlag, eine späte Reminiszenz an das Wirken Neumanns und Wagners in Leipzig. Die Lebensgeschichte Neumanns, von Irrgeher spannend wie ein Roman geschrieben, ist für Wagnerfreunde ein Muss, aber auch Opernliebhaber, die Wagner nicht so in den Vordergrund stellen, werden in diesem Buch viele neue Erkenntnisse und historische Bezüge kennenlernen. Josef „Angelo“ Neumanns Bedeutung für die Verbreitung der Werke Wagners in Europa ist bis heute unumstritten, er ist leider nur für über 100 Jahre in Vergessenheit geraten.

Andreas H. Hölscher