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Buch

Die Ausgestoßene

Das Interesse an Richard Wagner und seiner Familie ist ungebrochen, in regelmäßiger Reihenfolge erscheinen Bücher, die sich mit Wagners Leben, seinen Werken und dem bis heute umstrittenen Familienclan der Wagners beschäftigen. Vor einem halben Jahr erschien eine neue und sehr lesenswerte Biografie von Sabine Zurmühl über Cosima Wagner, und Laurence Dreyfus erzählt in seinem kürzlich erschienen Roman Parsifals Verführung über das schwierige Verhältnis von Hermann Levi, dem jüdischen Dirigenten der Uraufführung des Parsifal in Bayreuth 1882 zu Richard und insbesondere Cosima Wagner.

Nun hat die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger ein Buch über Isolde Beidler vorgelegt, Cosima Wagners dritte Tochter und das erste gemeinsame Kind mit Richard Wagner. Der Makel der damaligen Zeit: Cosima, Tochter von Franz Liszt, war zum Zeitpunkt der Geburt Isoldes 1865 noch mit dem Dirigenten Hans von Bülow verheiratet, und auch Richard Wagner war noch mit Minna Planer verheiratet, von der er aber schon seit Jahren getrennt lebte und die 1866 verstarb. Nun also eine Biografie über eine uneheliche Wagner-Tochter. Was ist das Besondere an Isoldes Leben, dass Rieger ihr eine eigene Biografie widmet? Der Untertitel des Buches lautet „Eine unversöhnliche Familiengeschichte“. Damit ist schnell klar, es geht hier nicht nur um Isolde, sondern um den ganzen Familienclan mit Cosima Wagner in der Hauptrolle. Das ist einerseits die Stärke des Buches, die unterschiedlichen Verflechtungen des Clans und seine zum Teil toxischen Auswirkungen auf einzelne Familienmitglieder zu beleuchten, andererseits aber auch die Schwäche, denn eine auf Isolde Beidler geborene von Bülow reduzierte Biografie wäre deutlich kürzer und kompakter gewesen. Rieger hat sich als Wissenschaftlerin mit Friedenserziehung, Musikerziehung, Filmmusik und vor allem mit dem Themenkreis „Frau und Musik“ beschäftigt, ist Autorin zahlreicher Bücher und bezeichnet sich noch immer als Feministin. Sie studierte Schulmusik, Musikwissenschaft und Anglistik an der Hochschule für Musik, der Technischen Universität und der Freien Universität Berlin. Von 1978 bis 1991 lehrte sie an den Universitäten Göttingen und Hildesheim, und von 1991 bis 2000 war sie Professorin für Historische Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialgeschichte der Musik an der Universität Bremen. Ähnlich wie Sabine Zurmühl in ihrer Biografie Cosima wirft Rieger den weiblichen Blick auf den Wagner-Clan, mit einem eher zwiespältigen Resümee der „Herrin des Hügels“ und teilweise schonungsloser Analyse der männlichen Protagonisten, unter denen Richard  Wagner als liebender und fürsorglicher Vater trotz aller menschlicher Defizite noch ganz positiv wegkommt.

Es ist nicht das erste Buch, dass Eva Rieger über Frauen im Schatten oder Dunstkreis von Richard Wagner schreibt. Stationen einer Liebe ist ein Buch über Minna Planer, Wagners erste Frau. Im Buch Leuchtende Liebe, lachender Tod schreibt Rieger über Richard Wagners Bild der Frau im Spiegel seiner Musik. Auch über Friedelind Wagner, Wagner-Enkelin und ebenfalls eine Verstoßene des Clans, weil sie sich gegen die Vereinnahmung von Bayreuth und der Festspiele durch Hitler und das NS-Regime gewandt hatte, hat die Autorin eine Biografie verfasst, genauso wie über Frida Leider, einer „Sängerin im Zwiespalt ihrer Zeit“, die als herausragende Darstellerin von Brünnhilde und Isolde in Bayreuth zwischen 1928 und 1938 auch von den Nazi-Größen vergöttert wurde. Insofern steht die neue Biografie Isolde schon in einer gewissen Tradition ihrer bisher veröffentlichten Bücher.

Wenn man sich der mit 344 Seiten durchaus umfangreichen Biografie nähert, dann wird sehr schnell klar, dass man das Buch in zwei Teile aufsplitten muss. Der Verlag hat es angekündigt als „Die Biografie eines Frauenlebens im Kaiserreich – mit neuen Erkenntnissen über Richard Wagner“. Das mit den neuen Erkenntnissen ist allerdings so eine Sache. Zwar heißt es in dem Buch, dass Rieger Zugang zu bisher unveröffentlichten Quellen hatte und ihre Darstellung „ein neues Licht auf die damaligen Machenschaften in Bayreuth“ werfe. Diese Aussage impliziert, dass man nach diesem Buch ein komplett neues Verständnis von Wagner und Bayreuth habe. Das mag vielleicht für Leser gelten, die sich bisher noch nicht intensiv mit dem „Mythos Wagner“ oder „Mythos Bayreuth“ beschäftigt haben. Das Bild von Richard und Cosima Wagner wird durch diese Biografie nicht wirklich neu beleuchtet, denn für interessierte und belesene Wagnerianer gibt es wenig neue Erkenntnisse. Das Wagner ein Familienmensch war, ein liebender und fürsorglicher Vater, das ist nicht wirklich neu. Und dass Cosima, die in ihrer Kindheit unter der schwierigen und unnahbaren Beziehung zu ihrem Vater Franz Liszt zu leiden hatte und mit dem Dirigenten Hans von Bülow eine unglückliche Ehe führte, dass alles ist in vielen Biografien über Cosima schon erfasst worden, sowohl von Oliver Hilmes als auch von Sabine Zurmühl, nur um zwei der wichtigsten Veröffentlichungen der letzten zehn Jahre zu nennen, neben den Tagebüchern von Richard und Cosima Wagner. So sind die ersten 100 Seiten des Buches mehr dem Leben und Tod Richard Wagners und Cosimas Umgang und Unterordnung mit demselben gewidmet, über Isoldes durchaus glückliche Kindheit in Tribschen und Bayreuth wird hier mehr im Kontext gesprochen. Neue Erkenntnisse gibt es erst seit einigen Jahren durch Isoldes Enkelin Dagny Beidler, Jahrgang 1942, die persönliche Notizen und Bilder aus dem Nachlass der begabten Malerin und des Dirigenten Franz Beidler öffentlich zugänglich machte und viele Quellen Rieger zur Verfügung stellte, wie die in ihrer Danksagung vermerkt.

In der Einleitung zur Biografie schreibt Rieger:  „Man kann sich Isolde, dem ersten Kind Richard Wagners und der dritten Tochter Cosima von Bülows, von zwei Seiten nähern: zum einen als Tochter eines der wichtigsten Komponisten des 19. Jahrhunderts, der sich mit dem Festspielhaus in Bayreuth sowie mit der Schaffung eines viertägigen Opernverbundes in die Musikgeschichte eingeschrieben hat, zum anderen als einer Frau, die zwischen der wilhelminischen Welt mit der sich anpassenden Ehefrau einerseits und dem emanzipatorischen Feld der dem Mann ebenbürtigen Frau andererseits stand.“ Isolde war Cosimas Lieblingstochter, obgleich sie ihr eine „dämonische Natur“ attestierte, wie sie in einem Brief an Mary Fiedler formulierte, für Richard Wagner war sie Loldi. Obwohl das Kind von Richard Wagner war, erkannte Hans von Bülow es als sein Kind an. Und Wagner wurde Pate bei der Taufe. Unter dieser Identitätskrise sollte Isolde ihr ganzes Leben leiden. Auch ihre zwei Jahre jüngere Schwester Eva, wie Isolde ein Kind Richard Wagners, war noch offiziell eine von Bülow. Das dritte Kind Wagner, Siegfried, der männliche Erbe und Thronfolger in Bayreuth, wurde geboren, da war Cosima ebenfalls noch mit von Bülow verheiratet. Sie zögerten die Taufe jedoch so lange hinaus, bis Cosima von Hans geschieden und mit Richard verheiratet war, so dass Siegfried de jure ein „echter“ Wagner war. Diese besondere Stellung Siegfrieds sollte die Kindheit und das ganze weitere Leben Isoldes nachhaltig beeinflussen. Für Isolde war Richard Wagner der Vater, und zu dessen 67. Geburtstag zeichnete sie die 65 „Rosenstöcke-Bilder“ mit Szenen aus seinem Leben.

Als Richard Wagner starb, war Isolde 17 Jahre alt, und die Kontinuität, die das junge, rebellische Mädchen in seinem Leben brauchte, war auf einmal dahin, alles sollte sich ändern. Cosima übernahm die Leitung der Festspiele in Bayreuth, und ihr einziges Ziel war, das Erbe Richard Wagners zu bewahren und den gemeinsamen Sohn Siegfried auf seine Aufgaben als künftigen Leiter der Bayreuther Festspiele vorzubereiten. Ihre eigene unglückliche Kindheit, ihr zeitlebens angespanntes Verhältnis zu ihrem Vater Franz Liszt, ihre unglückliche Ehe mit Hans von Bülow und ihr fast schon devotes Verhalten gegenüber Richard Wagner und seine Verherrlichung nach dessen Tod waren keine guten Ratgeber für ihr Verhältnis zu ihren Kindern. Siegfried wurde auf einen Sockel gehoben, Eva auf eine unterstützende Rolle im Hause Bayreuth eingeschworen. Nur bei Isolde funktionierte das alles nicht. Sie sah sich als Richard Wagners legitime Tochter und wollte als solche auch anerkannt werden.

Als sie den um sieben Jahre jüngeren Schweizer Dirigenten Franz Beidler kennenlernt, scheint Isolde anzukommen. Auch Cosima gibt der Verbindung zunächst ihren Segen, im Dezember 1900 heiraten Isolde und Franz.  Cosima wollte für ihre Tochter nur das Beste – nämlich eine gute Partie. Die war der Musiker und Dirigent Franz Beidler aber im Cosimaschen Sinne nicht. Ihm fehle die „vornehme Gesinnung“, so die Herrin des Hügels, die ihn nach guter Zusammenarbeit vom Bayreuther Hügel verbannte, als er sich weigerte, einen Dirigiertermin zu übernehmen.

Jetzt beginnt quasi der zweite Teil der Biografie von Eva Rieger. Bisher hat sich das Buch eher zäh gelesen, zu viele chronologisch aneinander gereihte Briefzitate und andere Quellennachweise machen aus dieser Biografie mehr eine wissenschaftlich-historische Abhandlung, die manchmal ermüdend wirkt und wenig Spannung bietet, zumal die Fakten dem Wagner-Kenner durchaus bekannt sein sollten. Doch mit der Emanzipation Isoldes, mit Ihrem Mann Franz Beidler und dem 1901 geborenen Sohn Franz Wilhelm Beidler, Wagners erstem Enkel, nimmt die Biografie Fahrt auf und wird zu dem, was im Vorfeld versprochen wurde, ein Krimi, ein Drama, eine Familientragödie. Auch der Schreibstil Riegers ändert sich, alles liest sich flüssiger, fast scheint es, als ob die Autorin erleichtert sei, die historische Vorgeschichte abgearbeitet zu haben, um sich jetzt mit Feuereifer dem Kernthema der Biografie zu widmen. Zunächst läuft alles in die Richtung, Franz Beidler wird in Bayreuth akzeptiert, er darf erste Dirigate übernehmen, wird umjubelt. Und das ist das Problem, er wird zu einer ernsthaften Konkurrenz für Siegfried Wagner, der als Komponist aus dem übermächtigen Schatten seines Vaters heraustreten möchte, der im Vergleich zu Beidler ein eher mittelmäßiger Dirigent ist, aber von seiner Mutter kontinuierlich auf seine künftige Rolle als Festspielleiter getrimmt wird. Siegfried Wagner ist homosexuell, eine für die damalige gesellschaftliche Situation gefährliche Lage, denn es drohte bei Bekanntwerden Gefängnis und gesellschaftliche Ächtung. Ein schwuler Festspielleiter in Bayreuth: zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Ding der Unmöglichkeit. Und bei einer potenziellen Kinderlosigkeit Siegfrieds wäre Isoldes Sohn Franz-Wilhelm der potenzielle Nachfolger von Siegfried Wagner auf dem Grünen Hügel gewesen. Das war wiederum ganz entgegen aller Pläne Cosimas. Und so entspannte sich ein intrigantes Familiendrama. Mit Hilfe von Schwiegersohn Houston Chamberlain, dem Ehemann von Isoldes Schwester Eva und Siegfried Wagner wird Franz Beidler aus Bayreuth weggeekelt, seine aufstrebende Karriere zerstört, zumal auch Cosima sich öffentlich gegen ihn stellt. Isolde greift zum äußersten, will Siegfrieds Homosexualität öffentlich machen, wenn Franz Beidler nicht wieder nach Bayreuth zurückkehren darf. Gleichzeitig strebt sie einen Erbschaftsprozess an mit dem Ziel, als legitime Tochter Richard Wagners anerkannt zu werden. Doch dieser durchaus erpresserische Versuch geht nach hinten los. Cosima weiß um die Gefahr, die Siegfried, den Festspielen und damit dem Erbe Richard Wagners droht. Cosima verstößt ihre eigene Tochter, sagt im Prozess aus, dass sie die legitime Tochter Hans von Bülows sei, und das Bayreuther Landgericht folgt der Aussage Cosima Wagners und weist am 19. Juni 1914 die Klage zurück. Damit ist Isolde gesellschaftlich erledigt, Franz Beidlers Karriere zerstört und der Anspruch von Franz Wilhelm Beidler, Wagners erstem Enkel, auf eine mögliche Nachfolge in Bayreuth obsolet. Isolde zieht sich daraufhin verbittert zurück, bricht alle Kontakte zum Haus Wahnfried ab, wird depressiv und erkrankt später an einer Tuberkulose, an deren Folgen sie 1919 in München mit gerade einmal 53 Jahren verstirbt.

Siegfried Wagner heiratet aus familiärem Zwang die fast 30 Jahre jüngere Winifred Williams-Klindworth, zeugt mit ihr vier Kinder, darunter die späteren Festspielleiter Wieland und Wolfgang Wagner, und ist damit gesellschaftlich sakrosankt, die Erbfolge Cosimas und die Festspiele sind gerettet. Dieses Familiendrama beschreibt Rieger spannend und lässt den Mythos um den Familienclan der Wagners tatsächlich in einem anderen Licht erscheinen. Was wäre aus Isolde und ihrer Familie geworden, hätte Richard Wagner noch länger gelebt?  Vielleicht wäre einiges anders gekommen, und Isolde wären Schmach und Demütigungen erspart geblieben. So beschreibt dieses Buch eines von vielen dunklen Kapiteln in Bayreuth. Riegers Werk ist für Wagner-Freunde wie auch für Wagner-Gegner ein interessantes Buch mit vielen historischen Fakten, auch wenn es für den Fachmann nur wenig neues zu entdecken gibt. Ein umfangreiches Quellenverzeichnis und Personenregister erleichtern die eine oder andere Recherche.

Andreas H. Hölscher