O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Musik im Jahr 1923

Das Jahr 1923 wurde und wird in vielen Büchern thematisiert. Auch im Geschichtsunterricht ist die Zeit ein wichtiger Lehrstoff. Denn im Laufe dieser zwölf Monate war auf der Welt unglaublich viel los. Nur ein paar Beispiele: Großbritannien bildete im Mandatsgebiet Palästina ein selbstständiges Emirat, woraus später das Königreich Jordanien entstand. General Miguel Primo de Rivera errichtete in Spanien eine Militärdiktatur. Ägypten bekam eine Verfassung: Der Staat war nun eine konstitutionelle Monarchie. Der spätere Schah Reza Pahlavi wurde zum Premierminister Irans gewählt, die internationale Polizeiliche Kommission, Vorläufer der Interpol, gegründet, Die Brüder Walt und Roy Disney riefen das Unternehmen Disney Brothers Cartoon Studio ins Leben. Das Grabmal des Pharaos Tutanchamun wurde geöffnet. Edwin Hubble bewies, dass es auch jenseits der Milchstraße Himmelskörper gibt. Das Wembley-Stadion in London öffnete erstmalig seine Tore. Das erste 24-Stunden-Rennen von Le Mans fand statt.

Oper und Operette standen ganz hoch im Kurs. Etliche Werke dieser Gattungen wurden aus der Taufe gehoben. Die Uraufführung von Bertold Brechts Drama Baal in Leipzig löste einen Skandal aus. Ellenlang ist die Liste berühmter Personen, die das Licht der Welt erblickten und starben. Auch Deutschland hatte etliches zu vermelden: Im August wurde Gustav Stresemann neuer Reichskanzler. Im November folgte ihm Wilhelm Marx. Die Preußischen Bergwerks- und Hütten-Aktiengesellschaft – kurz: Preussag AG – wurde gegründet, in München das weltweit erste Projektionsplanetarium vorgestellt. In Weimar fand die erste Bauhaus-Ausstellung statt. Die Firma MAN entwickelte das erste Straßenfahrzeug mit Dieselmotor. Der Flughafen Berlin-Tempelhof durfte in Betrieb gehen. Aus politischer und wirtschaftlicher Sicht war es gerade wegen der Ruhrkrise, der Hyperinflation und des gescheiterten Hitler-Putschs das Krisenjahr der Weimarer Republik. Deswegen entstanden langfristige Schäden für die Demokratie.

Auf dieses Jahr hatte das diesjährige Klavier-Festival Ruhr einen seiner Schwerpunkte gelegt. Passend dazu ist das Buch Im Taumel der Zwanziger mit dem Untertitel 1923: Musik in einem Jahr der Extreme erschienen. Darin konzentriert sich Autor Tobias Bleek auf einige wichtige musikalische Ereignisse in der turbulenten Zeit.

Selbstredend richtet der Musikwissenschaftler, Honorarprofessor an der Folkwang-Universität der Künste und Leiter des Education-Programms des Klavier-Festivals Ruhr intensiv einen Blick auf die Musikszene in Deutschland. Als am 11. Januar französische und belgische Truppen in das Ruhrgebiet einmarschierten, gingen nicht nur die Einwohner der Region, sondern ganz Deutschland auf die Straße und leistete passiven Widerstand. Überall wurde aus vollen Kehlen Liedgut gepflegt, mit dem die Menschen gegen die Okkupation demonstrierten. Hauptsächlich auf Protestversammlungen und den Straßen wogte die Welle des Nationalismus. Hoffmann von Fallerslebens drei Strophen Lied der Deutschen, die Wacht am Rhein oder der Kampfgesang O Deutschland hoch in Ehren schallten aus jedem Winkel. Ruckzuck wurde der 14. Januar zum Trauertag erklärt, an dem die Fahnen auf Halbmast standen und nur Veranstaltungen ernsten Charakters stattfinden durften. Tanzveranstaltungen oder Bälle waren strikt verboten.

Die Hyperinflation machte auch dem Kulturleben sehr zu schaffen. Etwa stiegen die Preise der Eintrittskarten ins Unermessliche: Kurz vor Einführung der Rentenmark kostete am 20. November ein Platz in der Proszeniumsloge des Münchner Nationaltheaters vier Billionen Papiermark. Bereits im Februar betrug das Stundenhonorar für den Musikunterricht 1000 Mark. Auf dem Sektor der Laienmusik wurden mit Naturalien Instrumente angeschafft und Dirigenten bezahlt. Professionelle Musiker und Orchester gingen verstärkt im Ausland auf Tournee, um an Devisen zu kommen. Auch Kulturhäuser und Institutionen hatten extrem ums Überleben zu kämpfen. Die Bevölkerung fand mit Musik Ablenkung von den existenziellen Nöten. Beispielsweise ging man in Konzerte, die in den letzten Monaten des Jahres oft sehr gut besucht bis ausverkauft waren. Tanzveranstaltungen standen ganz hoch im Kurs. Tanzlieder und populäre Musikstücke erschienen en masse auf dem Markt. Die Jugendmusikbewegung fand großen Zuspruch. Musikalische Laien nahmen an Singwochen teil. Und es gab sogar eine bedeutende Firmengründung: In dieser großen wirtschaftlichen Krise gründete Karl Vötterle den bedeutenden Bärenreiter-Verlag. Bis heute ist er auf dem Gebiet der klassischen Musik in aller Munde.

Als im Herbst Arnold Schönbergs Opus 23 für Soloklavier uraufgeführt wurde, erklang mit dem finalen Walzer sein erstes Stück, dem eine Zwölf-Ton-Reihe zugrunde lag. Doch er war nicht der erste Komponist, der dodekaphone Werke schuf. Schon vier Jahre zuvor schrieb der österreichische Komponist Joseph Matthias Hauer unabhängig von Schönbergs Kompositionsverfahren mit dem kurzen Klavierstück Nomos die erste Zwölftonkomposition überhaupt. Ausführlich wird der Zwist um Prioritätsfragen und Urheberrechte zwischen ihnen geschildert und weshalb Hauer in Vergessenheit geriet.

Ziemlich spät ging der deutsche Rundfunk am 29. Oktober erstmals auf Sendung. Länder wie die USA schickten ihre Hörprogramme viel früher in den Äther. Bereits im Jahr 1909 war „14 Watt“ aus Kalifornien weltweit der erste Nachrichtensender, der seinen Betrieb mit regelmäßigen Programmen aufnahm. Von Anfang an konnte man viel Musik hören, wenn das Radio eingeschaltet wurde. Detailliert beschreibt der Autor die Entwicklung dieser Technik im In- und Ausland und wie sie zum Massenmedium wurde.

Weitere Blicke richtet der Autor ins Ausland: nach Frankreich, Ungarn und in die USA. Seit 1920 lebte der russische Komponist Igor Strawinsky in der Grande Nation, deren Staatsbürger er vierzehn Jahre später wurde. Detailliert wird beschrieben, wie und warum er in seinem dritten Jahr seines Frankreichaufenthaltes mit dem im Oktober uraufgeführten Oktett für Blasinstrumente seinen Kompositionsstil radikal hin zum Neoklassizismus änderte. Dieser Schritt weg von seinem renommierten Ruf als russischer Modernisierer, der im Juni mit dem Ballett Les Noces sein Ende fand, kam selbst in Fachkreisen völlig überraschend. Am 17. November wurde der 50. Geburtstag der ungarischen Hauptstadt Budapest ganz groß gefeiert. Beim Festkonzert wurden zwar zwei Kassenschlager von Franz Liszt und Hector Berlioz gespielt. Doch man ließ sich nicht lumpen und hatte vorab drei Kompositionsaufträge in Auftrag gegeben, die im Mittelpunkt standen: Zum einen waren es die Festouvertüre Ernst von Dohnányis und Zoltán Kodálys Psalmus Hungaricus. Zum anderen war es Béla Bartóks wegweisende Tanz-Suite. Latent setzte er damit ein musikalisches Zeichen gegen den grassierenden Nationalismus. Wie es dazu kam, wie es weiterging und die Beweggründe des Komponisten werden klar dargelegt.

In den Vereinigten Staaten revolutionierte seit Ende des 19. Jahrhunderts der Blues die Musikwelt. In aller Munde war in diesem Zusammenhang die Sängerin Bessie Smith, die gerade in den 1920-er Jahren ganz groß herauskam. Ihren Werdegang, ihre Erfolge als gefeierte Bühnendarstellerin und erfolgreicher Schallplattenstar anno 1923 und danach werden ausführlich geschildert. In diesem Jahr war Louis Armstrong mit seinen 22 Jahren noch jung und unerfahren. Als Teenager spielte er auf einem Mississippi-Dampfer. 1922 ging er schließlich nach Chicago und war dort Zweiter Trompeter in King Oliver’s Creole Jazz Band. Wie ein Jahr später die steile Karriere des Trompeters und Sängers mit dem Spitznamen Satchmo begann, er danach schnell zum Star – dessen zahlreiche Aufnahmen als Meilensteine der Jazzgeschichte gelten – wurde, steht in einem weiteren eingehenden Kapitel geschrieben.

Tobias Bleek hat diese belangvollen Ereignisse und wegweisenden Innovationen sorgfältig und gründlich untersucht und bis aufs Einzelne zu Papier gebracht. Doch damit nicht genug. Denn darüber hinaus setzt er sie in einen Kontext zu den politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Geschehnissen als da sind etwa Migration, Antisemitismus, Rassismus und Militarismus. Des Weiteren zeigt er auf, welche Wirkung sie auf die Musiker, Komponisten und deren Kompositionen ausübten. Als Belege sind viele Zeitdokumente wie Briefwechsel und Zeitungsberichte in die Texte eingebaut. Flüssig und allgemeinverständlich ist der Band verfasst und ist somit eine fesselnde Lektüre.

Hartmut Sassenhausen