O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Sehen lernen

Da helfen alle Ratgeber auf Videoplattformen im Internet nicht. Wer fotografieren lernen will, startet häufig mit kapitalen Fehlern. Der Frust ist vorprogrammiert. Am Anfang steht die Frage nach der richtigen Kamera? So scheint es. Da werden Datenblätter gewälzt, nächtelang Videos von erfahrenen Fotografen abgespielt, um den Fotoapparat zu finden, der ins Budget passt und ganz nebenbei die ultimative Lösung darstellt. Spätestens nach den ersten Probeschüssen und weiteren unzähligen Videos reift die Erkenntnis, dass man nicht den Zauberapparat gefunden hat, der die perfekten Fotos liefert. Und es dauert erfahrungsgemäß noch einige Zeit, bis man begreift, dass nicht die Kamera die Ergebnisse liefert, sondern allein der Mensch hinter der Linse für abgeschnittene Köpfe und langweilige Urlaubsfotos verantwortlich ist.

Es lohnt sich also, einen anderen Ansatz zu finden. Zum Beispiel, indem man zuerst – zugegebenermaßen viel zu viel – Geld für ein Buch ausgibt. Vor zwei Jahren erschien bei SchirmerMosel die deutschsprachige Ausgabe eines Werkes, das Clément Chéroux und Julie Jones herausgegeben haben. In Henri Cartier-Bresson – Man redet immer zu viel haben sie auf gut 200 Seiten „Gespräche über das Leben, die Kunst und die Photographie“ zusammengestellt. Unter formalen Aspekten darf man sich erst einmal richtig ärgern. Für knappe 25 Euro gibt es sehr viel weiße Fläche auf dem Papier und unzählige Redundanzen im Text. Ein Porträt des Protagonisten oder gar Beispiele seiner Arbeit sucht man hingegen vergebens.

Henri Cartier-Bresson wurde 1908 in Chanteloup-en-Brie als Sohn eines Textilfabrikanten geboren. Das Abitur blieb er seinen Eltern schuldig. Trotzdem durfte er eine künstlerische Laufbahn einschlagen. Nach einem kurzen Studium der Malerei bei André Lhote widmete er sich der Fotografie. Erst später würde ihm bewusst werden, dass sein Lehrer ihm die wichtigsten Grundlagen seiner fotografischen Arbeit vermittelte. Der Einstieg in die Fotografie war denkbar kurz. Cartier-Bresson kaufte sich eine Leica G und las die Bedienungsanleitung. Damit begründete er eine Karriere, die so wohl heute kaum noch denkbar wäre. Als Mitbegründer der Agentur Magnum entledigte er sich für ihn lästiger Arbeiten wie die Entwicklung der Fotos. So konnte er sich auf zahlreichen Reisen ganz seiner Aufgabe widmen. Er selbst bezeichnete sich als hypernervösen Menschen, was ihm nach eigenen Angaben die Arbeit erleichterte. Zu Lebzeiten wurde er einer der berühmtesten Fotografen der Welt. Und einer, der nicht gern über sein Werk sprach. 1977 beendete er die Fotografie und verlegte sich auf Zeichnungen. Ende 2004 starb er in Montjustin.

Seine Unlust, sich über den Entstehungsprozess seiner Fotos zu äußern, sorgte dafür, dass die wenigen, sich stets wiederholenden Aussagen essentiell wurden. Seine Botschaft, in die Gegenwart übertragen, könnte lauten: Kümmere dich nicht um die Technik, sondern um die Bildkomposition. Er wurde nicht müde zu beteuern, dass wirklich gute Fotos nur entstehen, wenn man zu sehen gelernt hat. Es stimmt bis heute. Egal, wie weit die Technik voranschreitet, wird niemand ein gutes Foto zustande bekommen, der sich nicht mit dem Sehen, also der Bildkomposition auseinandersetzt.

Gleichwohl war ihm sein Fotoapparat, der so groß wie seine Handfläche war, lieb und teuer. Auf der Jagd nach dem „entscheidenden Moment“ trug er die Kamera stets am Handgelenk. Nicht die große Ausstattung war ihm wichtig. Tatsächlich beschäftigte ihn die Entscheidung intensiv, von einem 35- auf ein 50-mm-Objektiv zu wechseln. Und damit tritt ein weiterer Aspekt des Werks in den Vordergrund, der das Buch dann nicht nur für Leute lesenswert macht, die nach simplen Ratschlägen suchen. Denn selbstverständlich wäre Fotografie sinnlos, wenn ihr nicht eine Haltung innewohnte. Da gibt es zum einen den Respekt gegenüber dem Fotografierten. Cartier-Bresson betont ihn immer wieder, wenn er vom entscheidenden Moment spricht. Von der einen Sekunde, in der beispielsweise der Gesichtsausdruck „genau richtig“ ist. Aber natürlich geht das weiter. Respekt heißt nicht, sich an „moralische“ Aspekte zu halten. Als Cartier-Bresson beispielsweise Lesben beim Liebesakt fotografierte, ging es nicht um den Akt, sondern um die Ästhetik, die das Bild zum wertvollen Ereignis geraten ließ.

Letztlich wird in den zusammengetragenen Gesprächen auch deutlich, dass man um eine politische Haltung im weitesten Sinne nicht herumkommt, wenn man sich ernsthaft mit der Fotografie beschäftigen will. Und dann wird in der Tat plötzlich ziemlich egal, mit welchen Instrumenten die Fotos angefertigt werden. Dass Henri Cartier-Bresson sich außerdem über die Ästhetik der Schwarzweiß-Fotografie äußert, ist ein Bonbon, den man genüsslich auf der Zunge zergehen lassen kann. Und so obsiegt nach und nach die Begeisterung über die formalen Aspekte. Hier kann man viel über Fotografie und das richtige Material lernen, ehe man auch nur einen Euro für die nächste Kamera ausgegeben hat. Was Henri Cartier-Bresson angeht, bekommt man hier einen leichten Zugang zu seinem Leben und Denken in kürzester Zeit. Und damit stellt das Werk einen großartigen Einstieg in seine Biografie dar, ehe man sich mit seinen Werken beschäftigt. Und danach traut der Leser sich auch, mit einem Mobiltelefon loszuziehen, um eine einmalige Schwarzweiß-Fotografie zu „schießen“.

Michael S. Zerban