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Magischer Ort

Wer als Opernfreund an Dresden denkt, dem fällt natürlich als allererstes die Semperoper ein, eines der berühmtesten Opernhäuser der Welt mit einer sehr wechselvollen Geschichte. Denn die heutige Semperoper hat einen großen Vorgängerbau, nämlich das Königliche Hoftheater Dresden, das zwischen 1841 und 1869 als Haus für Oper und Schauspiel in der königlich sächsischen Residenzstadt Dresden diente. Von 1838 bis 1841 errichtete der Architekt Gottfried Semper als Nachfolgebau des bisherigen Morettischen Hoftheaters ein repräsentatives Opernhaus, das neue Königliche Hoftheater. Die Eröffnung erfolgte am 12. April 1841 mit Carl Maria von Webers Jubelouvertüre und Johann Wolfgang von Goethes Drama Torquato Tasso. In den folgenden Jahren war hier Richard Wagner Kapellmeister und brachte an diesem Haus, unter anderem mit Wilhelmine Schröder-Devrient und Joseph Tichatscheck, verschiedene Uraufführungen seiner Musikdramen heraus: Rienzi, Der fliegende Holländer und Tannhäuser. Der Rundbau in den Formen der italienischen Frührenaissance wurde als eines der schönsten europäischen Theater gerühmt. Der erste Theaterbau Sempers lag erheblich näher zum Schloss als sein heute noch bestehendes zweites Opernhaus; vor der Oper wurde 1840 der Vorläufer des heutigen Theaterplatzes angelegt. Am 21. September 1869 wurde dieses Theatergebäude bei einem Brand auf Grund einer Unvorsichtigkeit bei Reparaturarbeiten völlig zerstört. Nach der Katastrophe wurde der Spielbetrieb einige Jahre lang in einem Interimstheater, der sogenannten „Bretterbude“, fortgesetzt. Unterdessen arbeitete Semper an neuen Bauplänen für das zweite Königliche Hoftheater, der heutigen Dresdner Semperoper.

In dieser Zeit, genauer gesagt im Jahr 1841, spielt Anne Sterns neuer Roman Dunkel der Himmel, goldhell die Melodie. Anne Stern, Jahrgang 1982, wuchs in Berlin auf. Sie studierte in Potsdam Germanistik und Geschichte auf Lehramt und promovierte anschließend in deutscher Literaturwissenschaft. Nach dem Referendariat unterrichtete sie an verschiedenen Berliner Schulen. Heute ist sie freiberufliche Schriftstellerin. In ihren Werken stehen Frauen im Mittelpunkt. Die Handlungen spielten bisher im historischen Berlin mit einem Schwerpunkt auf den 1920-er und 1930-er Jahren. Stern begann ihre schriftstellerische Karriere zunächst nebenberuflich im Selbstverlag, wo sie die Reihen Die Familie-Pauly-Saga und Die Frauen vom Karlsplatz zunächst als E-Book veröffentlichte. Dann wechselte sie zu einem Buchverlag. Die Reihe Fräulein Gold über eine Hebamme in den 1920-er Jahren erschien im Rowohlt Verlag und erreichte die Bestseller-Listen. Die vorherige Reihe Die Frauen vom Karlsplatz wurde daraufhin zusätzlich als rororo-Taschenbuch veröffentlicht. Anschließend schrieb sie eine fiktive Romanbiografie über die Freundschaft zwischen der Malerin Lotte Laserstein und ihrem Modell Traute Rose.

2022 erschien mit Drei Tage im August im Aufbau-Verlag ein Roman über eine Chocolaterie in der Straße Unter den Linden, der 1936 angesiedelt ist. Nun hat sie mit Dunkel der Himmel, goldhell die Melodie einen Ausflug in das historische Dresden unternommen.

Es ist das Jahr 184.1 Das feierlich eröffnete Königliche Hoftheater Dresden wirkt in seiner Pracht wie ein Palast für die Musik. Doch hinter den Kulissen geht es genauso dramatisch zu wie auf der Bühne. Die Primaballerina hütet ein tragisches Geheimnis, sie ist ungewollt schwanger geworden, und das von einem verheirateten Mann, der von seiner Verantwortung nichts wissen will. Der soziale Abstieg, die gesellschaftliche Ächtung mit allen Konsequenzen ist die Folge. Und so gibt es viele Protagonistinnen, die um ihre Träume und Wünsche kämpfen, oft leider vergeblich. Da ist die Requisiteurin, die ihrer Vergangenheit entfliehen will, und da ist die Kostümschneiderin, die den Glauben an wahre Leidenschaft verloren hat. Dennoch ist das Königliche Hoftheater für sie alle ein magischer Ort. Und dann gibt es die Hauptfigur in diesem Roman, die junge Elise Spielmann. Schon bei ihrem ersten Besuch in der Oper ist sie von der Musik und der Dramatik auf der Bühne verzaubert. Kein Wunder, handelt es sich dabei doch um eine Aufführung der Oper Der Freischütz von Carl Maria von Weber mit der legendären Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient als Agathe. Elise Spielmann entstammt einer Musikerfamilie und träumt davon, eine gefeierte Violinistin zu werden. Die Musik ist das Wichtigste in ihrem Leben. Doch die gesellschaftlichen Konventionen zu dieser Zeit sahen für eine Frau aus bürgerlichen Verhältnissen keine Karriere im Musikgeschäft vor, schon gar nicht als Violinistin. Auch wenn es mit der fast gleichaltrigen Clara Schumann tatsächlich eine Frau zu dieser Zeit gibt, die als Klaviervirtuosin und Komponistin Erfolge feiert, bleibt diese Zukunft für Elise verschlossen. Auf Drängen ihrer Eltern soll sie den weitaus älteren Adam Jacobi heiraten, einen erfolgreichen und einflussreichen Musikkritiker. Ihn und Elises Vater verbindet ein dunkles Geheimnis einer gemeinsamen Vergangenheit, und die Verbindung von Elise mit Jacobi soll eine alte Schuld ihres Vaters tilgen. Doch Elise ist für eine derartig konventionell arrangierte Hochzeit nicht bereit, ihre Liebe gilt der Musik. Dann lernt sie, am Abend der Aufführung des Freischütz, den talentierten Malergehilfen Christian Hildebrand kennen. Es entwickelt sich eine zarte, aber verbotene Beziehung zwischen ihnen, in größter Heimlichkeit und gegen alle Konventionen.

Gleichzeitig ziehen sich im ganzen Land revolutionäre Kräfte zusammen, die Vorboten des Dresdner Maiaufstandes vom Mai 1849, an dem auch Richard Wagner beteiligt war, und in dessen Folge das Königliche Hoftheater einem Brand zum Opfer fiel, sind schon 1841 erkennbar. Das sind die Rahmenbedingungen für Anne Sterns Roman, die in einem wunderbar poetischen Stil die Geschichte der widerspenstigen Elise Spielmann erzählt, die aus den vorherrschenden gesellschaftlichen Zwängen ausbrechen will. Doch ihre zarte Liebe zu Christian Hildebrand scheint aussichtslos zu sein, zu groß ist der gesellschaftliche Abstand zwischen den beiden Charakteren. Kumulationspunkt ist und bleibt daher die Oper und die Musik. Neben der Beschreibung des Freischütz ist es auch Beethovens Fidelio und Adolphe Adams Ballett Giselle, die in dem Roman einen größeren Part einnehmen. Er beginnt mit einem Prolog im Dezember 1820, Georg Spielmann hofft auf die Geburt eines Sohnes, doch es wird ein Mädchen, Elise. Ihm begegnen zwei arme Kinder, die selbstgebastelte Papierlaternen verkaufen. Auf den Laternen sind Leonore und Florestan, die beiden Hauptfiguren aus Beethovens Fidelio, abgebildet. Ihr Vater war Theaterdiener im Morettischen Haus und hatte den Kindern die Geschichte der Oper erzählt. Im Laufe des Romans wird der Leser erkennen, dass die beiden Kinder Christian und seine Schwester Ernestine sind, die zwanzig Jahre später im Königlichen Hoftheater beschäftigt sind. Christian als Hilfsmaler, Ernestine als Requisitenhelferin. Und so beginnt die eigentliche Geschichte in Dresden am 17. April 1841 und entwickelt sich in 39 Kapiteln in einer Art Tagebuchform bis zum 15. Januar 1842. Neun Monate, in denen die verbotene Beziehung von Elise und Christian harten Bewährungsproben unterzogen wird, in der Adam Jacobi sein Recht als Verlobter Elises einfordert, und in denen es viele Theatergeschichten aus dem Königlichen Hoftheater Dresden zu erzählen gibt, unter der historischen Leitung des Generalintendanten Wolf Adolf August von Lüttichau.

Der Epilog ist vom Juli 1844, in der Zwischenzeit ist einiges passiert, was hier natürlich nicht vorweggenommen werden soll. Das Ende ist jedenfalls offen, so dass der Roman eine Fortsetzung fordert. Und da Anne Stern dafür bekannt ist, ihre Romane als Reihen anzulegen, könnte dieser Band der Auftakt für eine neue Familiensaga um Elise Spielmann sein. Und von 1842 bis 1849 wirkte Richard Wagner als Komponist und Hofkapellmeister in Dresden. Wenn da nicht genügend Stoff für mehrere weitere Bände vorhanden ist. Man darf gespannt sein, wie die Geschichte weitergeht im Zeichen der zunehmenden Revolution. Dunkel der Himmel, goldhell die Melodie ist ein liebevoll und poetisch geschriebener Roman über Oper, Liebe, Selbstverwirklichung und schwere Generationenkonflikte.

Im Nachwort fasst Anne Stern die Geschichte der Semperoper zusammen, vom Königlichen Hoftheater bis hin zur Wiedereröffnung des vom Krieg stark zerstörten zweiten Opernhauses im Februar 1985 mit Webers Freischütz und der legendären Inszenierung des Fidelio von Beethoven von Christine Mielitz, kurz vor dem Fall der Mauer 1989.  Nicht nur Freunde der Semperoper Dresden dürften an dem historischen Roman ihre Freude haben.

Andreas H. Hölscher