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Buch
Im Laufe der Operngeschichte der letzten 100 Jahre gab es viele Sängerinnen, die als Operndiva, also eine „Göttin der Oper“, bezeichnet wurden. Doch keine sollte so viel Glanz und gleichzeitig Tragik in ihrem Leben und künstlerischem Dasein vereinen wie eine gewisse Maria Anna Cecilia Sofia Kalogeropoulos, deren Geburtsname heute nur noch Experten bekannt ist. Sie sollte nach dem Ende des zweiten Weltkrieges die Dimensionen in der Opernwelt neu definieren. Die Rede ist von Maria Callas, La Divina, der Operngöttin des 20. Jahrhunderts schlechthin. Die Ausnahmesängerin würde am 2. Dezember dieses Jahres ihren 100. Geburtstag feiern. Pünktlich zum runden Geburtstag erscheint im Mosel/Schirmer-Verlag, München, eine Neuauflage des Bildbandes Callas – Gesichter eines Mediums, mit einem Essay von Attila Csampai und dem legendären Callas-Entwurf von Ingeborg Bachmann. Dieser Band ist gleichzeitig Teil einer Jubiläumsedition zum 50. Bestehen des Schirmer/Mosel-Verlags im kommenden Jahr.
Callas – Gesichter eines Mediums, das Fotografien legendärer Bühnenauftritte, Portraits, Stills, Pressebilder und private Aufnahmen vereint, ist keine Künstlerbiografie im herkömmlichen Sinn, sondern wird vom Verlag als „kritisches Kultbuch“ bezeichnet, das in Bildern und Worten die „Annäherung an ein einzigartiges Phänomen der Opern- und Zeitgeschichte sucht, als Studie über ein unvergleichliches musikalisches Genie und seinen Umgang mit allen Schattierungen der künstlerischen und nichtkünstlerischen Öffentlichkeit.“ Es sind berühmte und weniger bekannte Fotos von Cecil Beaton bis Mario Tursi, die dem Mythos, der Künstlerin und der Frau Maria Callas gewidmet ist. Die Bilder sind Ausdruck ihrer „überwältigenden Präsenz und darstellerischen Energie“, die ihre Auftritte auf allen öffentlichen und privaten Bühnen zum Ereignis werden ließen. 1993 erstmals erschienen, ist der Band zum Klassiker der Callas-Literatur avanciert und zugleich auch ein Zeugnis seiner Entstehungszeit. Csampai, Autor des Essays, war einer der ersten Musikwissenschaftler, der Kunst und Karriere, Leben und Werk der Jahrhundertsängerin auch unter „feministischen“ Aspekten analysiert, die Zwänge einer überragenden Künstlerin und verletzlichen Frau in der von Männern beherrschten Welt der 1950-er und 1960-er Jahre beleuchtet.
Wer war diese Maria Anna Cecilia Sofia Kalogeropoulos wirklich? Maria Callas wird am 2. Dezember 1923 im New Yorker Washington Heights als Tochter der griechischen Einwanderer George Kalogeropoulos und Evangelina Dimitriadis geboren. Der Vater ändert 1929 den Namen in Callas. Im griechischen Viertel von Manhattan eröffnet George kurz darauf eine Apotheke. Callas besucht die Schule in Brooklyn und beginnt im Alter von acht Jahren ihre erste Gesangsausbildung. 1936 zieht sie, nach der Scheidung der Eltern, mit ihrer Mutter nach Griechenland.
In Athen absolviert sie ab 1938 ein Gesangsstudium am Konservatorium. Marias Lehrerin ist die berühmte Koloratursopranistin Elvira de Hidalgo, die ihrer neuen Schülerin gegenüber anfänglich sehr skeptisch ist. Aber Maria singt, zwar noch unkontrolliert, aber voller Dramatik. Und sie erweist sich als ausgesprochen fleißig und ernsthaft. Folgerichtig erhält sie schon ein Jahr später ihre ersten Rollen an der Athener Oper. Mit nur 15 Jahren vollzieht sie ihr Gesangsdebüt in einer Aufführung der Cavalleria Rusticana am Athener Opernhaus. Infolge des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs verzögern sich die weiteren künstlerischen Engagements der Sängerin. Es folgen knapp zehn Jahre intensiven Rollenstudiums und gewissenhafter Ausbildung, bis Maria 1947 in Italien an der Arena di Verona engagiert wird. Der Dirigent der Aufführung, Tullio Serafin, wird auf ihr außergewöhnliches Talent aufmerksam, während sie mit der Titelrolle in La Gioconda selbst noch nicht beeindrucken kann. Serafin wird einer der großen Förderer der jungen Callas.
Im selben Jahr hat sie ihren Auftritt an der Mailänder Scala. 1949 heiratet sie den erfolgreichen, 27 Jahre älteren Unternehmer Giovanni Battista Meneghini, den sie in Verona kennengelernt hat und der fortan ihre Karriere als Sängerin unterstützt und organisiert. Auch nimmt sie die italienische Staatsbürgerschaft an. In den folgenden Jahren wird ihre Stimme immer besser, werden ihre Auftritte immer dramatischer und packender, bis sie sich bei den Florentiner Mai-Festspielen und im Dezember 1951 an der Mailänder Scala endgültig durchsetzen kann. Jetzt reißen sich die großen Bühnen der Welt förmlich um sie, sie ist eine Diva geworden.
Die 1950-er Jahre sind das Jahrzehnt der Callas. An der Scala ist sie jetzt die Hauptattraktion. Sie nimmt eine Reihe von Schallplatten auf und singt überall auf der Welt: Die tragischen Heldinnen Verdis und Puccinis werden zu ihren Markenzeichen. Doch zwei Rollen sollen ihr Leben und ihre Karriere prägen: die Priesterinnen Norma und Medea in den gleichnamigen Opern von Vincenzo Bellini und Luigi Cherubini. Insbesondere mit der Rolle der Medea identifizierte sich Callas wie mit keiner anderen. Sie sang und spielte die Medea nicht, sie war Medea. Der Regisseur Franco Zeffirelli sprach nach einer Vorstellung der Callas als Medea an der Mailänder Scala von einer neuen Zeitrechnung: „Die Welt der Oper hat sich verändert. Es gibt nun so etwas wie eine neue Zeitzählung: v. C. und n. C. – vor Callas und nach Callas.“ Sie schafft es, ein Repertoire wiederzubeleben, das fast in Vergessenheit geraten war. Den Opern von Donizetti, Bellini und Rossini kann sie dank ihrer enorm beweglichen, agilen Stimme und ihrer dramatischen Ausdruckskraft wieder Leben einhauchen. Durch zahlreiche Konzerte an den bedeutendsten Häusern der Welt entwickelt sich Callas in den folgenden Jahren zu einem der begehrtesten Soprane der Welt. 1954 tritt sie in der Rolle der Norma erstmals in den USA auf. Ihr Debüt an der Metropolitan Oper in New York feiert sie 1956. Ihr weit gefächertes Repertoire und die dramatische Dichte ihrer Rollengestaltung machen sie weltberühmt. Ihre Stimme lebt vor allem vom dramatischen Ausdruck.
1957 lernt sie den griechischen Reeder Aristoteles Onassis kennen – ein Skandal, heißt es damals, denn beide sind noch verheiratet und zeigen sich trotzdem ungeniert in aller Öffentlichkeit. Ab jetzt beherrscht sie eher die Klatschspalten als die Feuilletons. Sie sei hysterisch, egozentrisch, unberechenbar. Das ist in etwa das Bild, das in der Presse von Maria Callas gezeichnet wurde. So wurde sie zu einer Diva stilisiert, die man auch hassen durfte. Es gibt einen Schnappschuss, der sie mit gefletschten Zähnen zeigt. Das Bild geht um die Welt und formt die öffentliche Meinung. Die Callas ist keine normale Frau, sondern eine gefährliche Tigerin. Zum großen Skandal weitet sich eine abgesagte Vorstellung 1958 in Rom aus. Sie soll vor glanzvollem Publikum die Saison eröffnen. Alles, was Rang und Namen hat, ist präsent einschließlich des italienischen Staatspräsidenten. Callas aber ist erkältet, will eigentlich ganz absagen, möchte aber auch das Publikum nicht enttäuschen. Mitten in der Vorführung muss sie dann doch abbrechen. In der Presse wird sie dafür diffamiert. „Das sei typisch für diese Diva“ hieß es damals. Auch als Jahre später ihre Liaison mit Onassis zerbrach, weidet sich die Öffentlichkeit noch an ihrem Schicksal, obwohl sie sich lange von der Bühne zurückgezogen hatte. Im Jahr 1971 wird ihre Ehe mit Meneghini aufgelöst. Die Diva beweist indes auch ein beachtliches schauspielerisches Können, als sie 1969 in dem Film Medea in der Regie von Pier Paolo Pasolini auftritt. Zu ihren letzten Konzerten tritt die Callas nochmals 1974 auf die Bühne. Am 16. September 1977 stirbt Maria Callas im Alter von nur 53 Jahren in Paris vermutlich an den Folgen eines Herzinfarktes.
Der Bildband geht nicht ins Detail der Lebensbiografie der Callas, dafür gibt es zahlreiche andere und umfangreiche Werke. Er will in erster Linie die verschiedenen Gesichter der Callas zeigen, und das im wörtlichen Sinne. Dennoch gibt es zum Gesamtverständnis zwei bedeutsame Textpassagen, die hilfreich sind zum Verständnis des „Gesamtkunstwerks Maria Callas“. Eingeleitet wird der Band von Ingeborg Bachmanns berühmter Hommage à Maria Callas. Dieser „Entwurf“ aus Ingeborg Bachmanns Werken, Band 4, Seite 342f., erschienen 1978 im R. Piper Verlag München, ist schon für sich genommen ein literarisches Meisterwerk einer ebenfalls großen Künstlerin, die genau vor 50 Jahren an den Folgen eines tragischen Unfalls mit nur 47 Jahren verstorben ist. Da spürt man in den Worten schon eine gewisse Seelenverwandtschaft der beiden Frauen.
Bachmann beschreibt die Callas unter anderem mit diesen Worten: „Sie ist kein ‚Stimmwunder‘, sie ist weit davon entfernt, oder sehr nah davon, denn sie ist die einzige Kreatur, die je eine Opernbühne betreten hat. Ein Geschöpf, über das die Boulevardpresse zu schweigen hat, weil jedes seiner Sätze, sein Atemholen, sein Weinen, seine Freude, seine Präzision, seine Lust daran, Kunst zu machen, eine Tragödie, die zu kennen im üblichen Sinn nicht nötig ist, evident sind. Nicht ihre Koloraturen, und sie sind überwältigend, nicht ihre Arien, nicht ihre Partnerschaft allein ist außerordentlich, sondern allein ihr Atemholen, ihr Aussprechen.“
Dieser Hommage folgt das Essay von Csampai in drei Kapiteln. Diese musikwissenschaftliche Abhandlung über die Callas ist keine Kurzbiografie, dafür würde der Umfang auch nicht ausreichen. Csampai selbst, Jahrgang 1949, ist ein deutscher Musikwissenschaftler und -kritiker, Journalist, Autor und Herausgeber. Sein knapp 20 Seiten umfassendes Essay, in drei Kapitel unterteilt, fasst das Leben der Callas knapp zusammen, ohne dass es chronologisch in die Lebensbiografie eintaucht. Im ersten Kapitel Augenblicke der Ewigkeit spricht Csampai, ausgehend vom Tod der Diva am 16. September 1977 in Paris, über den „Mythos Callas“, über ihre tiefen Ängste und psychologischen Verflechtungen, mit denen sie sich ihr ganzes Leben auseinandersetzen musste.
Elegisch wird das Essay im zweiten Kapitel Die Kunst. Das Medium. Die Botschaft. Hier zeigt Csampai ein verklärendes Bild der Callas, mit einer für unsere heutige Zeit nicht immer mehr verständlichen Wortwahl. So schreibt er: „Callas – das ist der zivilisierteste künstlerischste, humanste und keuscheste Ausdruck des Menschseins, des erfüllten Menschseins, die jede Vorstellungskraft übertreffende Schönheit und Geformtheit des Ausdrucks: denn so einfach vorstellen, imaginieren lässt sich diese Gestalthaftigkeit nicht. Das ein menschliches, ein sterbliches Wesen zu einem solchen Zauberton fähig sei, hätte sich kein Mensch, der sie nicht gehört hat, vorstellen können. Kein anderer Mensch ist je soweit eingedrungen ins Götterreich der absoluten Kunst, des absoluten Ausdrucks. Insofern war die Callas wirklich der erste Mensch, der rechtmäßig die Bühne betreten hat.“ Das sind wunderschöne und überhöhende Worte, die die Sängerin, die Callas, in ihrem Ausdruck und in ihrer Bühnenpräsenz gut charakterisieren, aber den Menschen, die Maria, nicht im Entferntesten betreffen. Wer die Callas verstehen will in all ihren Schattierungen, der muss erst die Maria kennenlernen.
Im dritten Kapitel seines Essays Metamorphosen geht Csampai auf die wichtigsten Bühnenrollen mit prägenden Auftritten der Callas ein, von der Lady Macbeth an der Mailänder Scala am 7. Dezember 1952, über die unvergessliche Lucia di Lammermoor an der Berliner Staatsoper am 29. September 1955 unter Herbert von Karajan bis hin zu ihrer Lebensrolle, Bellinis Norma. Csampais Beschreibung der Interpretationen dieser Bühnenfiguren sind so plastisch und lebendig, dass man förmlich ein Bild vor dem Auge hat. Wenn man sich dann diese Musik zusätzlich noch anhört, dann ist es fast so, als ob die Callas im Raume steht. Über das musikalische Timing der Callas schreibt Csampai, dass es „absolut archaisch, griechisch-antik war, aus altem matriarchalischem Unwissen gespeist, und dem gnadenlosen Zeittakt der Chronometrie der spätkapitalistischen Männergesellschaft des 20. Jahrhunderts trotzte.“ Das Essay ist eine elegische Hommage, überhöht und verklärend, und trotzdem wunderbar zu lesen.
Doch der Hauptteil des Bandes sind die 165 meist ganzseitigen Schwarzweiß-Bilder der Callas und lediglich 4 Farbaufnahmen. Es sind einige wenige private Bilder dabei, die sie als Kind zeigen, als Studentin oder mit ihrem Mann Meneghini; die meisten Bilder sind Bühnenfotos und Pressebilder, die über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren das Leben und die Karriere der Callas abbilden. Es sind lebendige Zeitdokumente einer leidensfähigen, aber auch einer leidenden Frau. Wenige Bilder zeigen privates Glück, das ihr kaum beschieden war. Die meisten Rollenfotos sind Spiegelbilder ihrer traurigen Seele. Ein Foto zeigt sie zum Beispiel als Amina in Bellinis Melodrama La Sonnambula in einer Scala-Inszenierung von Luchino Visconti aus dem Jahre 1955. Ihr Gesichtsausdruck, ihre traurigen Augen, sagen mehr aus als alle Worte. Da war die Callas gerade mal Anfang dreißig. Natürlich darf ihr berühmtestes Pressefoto vom 17. November 1955 nicht fehlen, das weltweit ihr schlechtes Image als „keifende Furie“ zementierte. Hintergrund war die Überbringung einer Honorarklage ihres Managers durch einen US-Marshal, der ihr nach einer Vorstellung der Madama Butterfly an der Chicago Lyric Opera die Anklageschrift ins Kostüm steckte. Ihr hasserfüllter, zähnefletschender Gesichtsausdruck zeigt wiederum ihre Verletzlichkeit, und auch ihre Wehrlosigkeit. Einen ähnlichen Ausdruck zeigt sie als Cherubinis Medea an der Civic Opera Dallas im November 1958, während sie gelöst, glücklich und entspannt nach ihrem ersten umjubelten Konzert in der Royal Festival Hall London am 23. September 1959 wirkt, als sie die minutenlangen Ovationen des Publikums tief beseelt entgegennimmt.
Diese Bilder sind mehr als nur historische Zeitdokumente, sie sind Spiegelbilder der Seele der Maria Callas, Ausdruck von Glück und Tragik, von Überlegenheit und tiefstem Fall. Es ist die Zusammenstellung solcher berührenden Bilder, die den Bildband so besonders macht. Am Schluss des Buches gibt es noch eine Chronologie aller Bühnenauftritte und eine aktualisierte Auswahlbibliografie. In der Zeit vom 2. April 1939 bis zum 5. Juli 1965 absolvierte Maria Callas insgesamt mehr als sechshundert Vorstellungen in einundvierzig Opern und zwei Operetten. Interessant dabei, dass sie in ihren jungen Jahren, im Zeitraum von 1947 bis 1950, alleine zwölf Auftritte als Isolde in Wagners Tristan und Isolde, sechs Auftritte als Brünnhilde in Wagners Walküre und fünf Auftritte als Kundry im Parsifal absolvierte. Die drei Rollen gibt es als Tondokumente in italienischer Sprache. Ihre Isolde war dabei von einer betörenden Durchschlagskraft, und die Kundry mit warmer Tiefe und viel Empathie. Aber Wagner war nicht ihr Fach, es sollten die Belcanto-Opern Bellinis, Donizettis und Cherubinis sowie natürlich die Werke Verdis und Puccinis sein, die ihre Unsterblichkeit besiegelten.
Auch in Carl Millöckers herrlicher Operette Der Bettelstudent sang sie 1945 viermal die Laura. Bellinis Norma verkörperte sie neunundachtzigmal, Verdis Violetta in La Traviata dreiundsechzigmal und Puccinis Tosca einundfünfzigmal.
Der Bildband ist eine wunderbare Hommage zu Maria Callas 100. Geburtstag am 2. Dezember 2023. Für Callas-Fans fast schon ein Muss, ist das Werk für das kommende Weihnachtsfest ein perfektes Geschenk für den Gabentisch.
Andreas H. Hölscher