O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Buch

Einzigartige Spurensuche

Zum 250. Geburtstag von Ludwig van Beethoven in diesem Jahr, das allgemein zum „Beethoven-Jahr“ ausgerufen wurde, sind zahlreiche Bücher und CD neu erschienen, bekanntes und weniger bekanntes Material. Fast alle großen Opernhäuser haben seine Freiheitsoper Fidelio oder ihre Vorversion Leonore im Spielplan, in den großen Konzertsälen stehen seine neun Symphonien, die großen Klavierkonzerte und vieles mehr auf dem Programm. Fast schien es so, als ob eine mediale Beethovenflut über uns hereinbricht. Doch ein anfangs etwas belächeltes Virus namens „SARS-CoV-2“, auch als neuartiges Coronavirus bezeichnet, stoppte dieses ambitionierte weltweite Gedenken, die Kultur- und Klassikszene befindet sich in einem unabsehbaren Stillstand, und in vielen Ländern herrschen Ausgangsbeschränkungen, um die Pandemie einzudämmen. Diese so dramatische wie auch bis vor kurzem undenkbare Situation bietet aber auch die Chance, sich wieder einmal mit Dingen zu beschäftigen, die sonst in unserer schnelllebigen und hektischen Zeit weniger beachtet werden.

Ein Moment des Innehaltens, des Nachdenkens, aber auch des optischen und haptischen Genusses bietet der Bildband Beethoven in Wien von Andreas J. Hirsch, der im November des vergangenen Jahres anlässlich des bevorstehenden Beethoven-Jahres im Verlag Lammerhuber erschienen ist, der insbesondere für seine hochqualitativen Bildbände bekannt ist. Dieser Bildband widmet sich Beethovens Zeit und seinem künstlerischem Schaffen in Wien und führt den Leser mit stilvollen aktuellen Fotografien und historischem Material zu den wichtigsten Schaffenspunkten Beethovens, versucht aber auch der schwierigen Persönlichkeit des großen Komponisten gerecht zu werden und zeigt auf, welchen Einfluss das Wien der damaligen Zeit  auf Beethoven hatte, und wie wichtig wiederum Beethoven für diese führende Musikstadt zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte. Der Leser begibt sich beim Betrachten dieser Bilder auf eine einzigartige Spurensuche, und viele Spuren, die Beethoven zu Lebzeiten in Wien hinterlassen hat, sind heute noch sichtbar und atmen den Geist eines der größten Komponisten der Geschichte, dem auf dem Wiener Zentralfriedhof ein beeindruckendes Ehrengrab gegeben wurde.

Fünfunddreißig Jahre lang war Wien Lebensmittelpunkt von Ludwig van Beethoven. Die Spuren des Komponisten sind vielfältig: ein großes Beethoven-Museum, Wohn- und Gedenkstätten, Orte seiner Triumphe und Verzweiflung, Denkmäler und Klimts Beethovenfries – bis hin zum Beethoven-Heurigen. Der 1770 in Bonn geborene Beethoven war mit siebzehn Jahren zum ersten Mal nach Wien gereist, um hier bei Mozart Unterricht zu nehmen.

Doch kaum angekommen musste er wieder zurück, ans Sterbebett seiner Mutter. Mit zweiundzwanzig Jahren kam er als Schüler Joseph Haydns – Mozart war inzwischen verstorben – abermals nach Wien. Diesmal blieb er für immer: Fünfunddreißig Jahre bis zu seinem Tod 1827.

Beethoven wechselte oft den Wohnort. Das Theater an der Wien, in dem er für einige Zeit auch eine Wohnung hatte, war für ihn ein wesentlicher Fixpunkt. Hier dirigierte er die Uraufführung seiner einzigen Oper Fidelio und weitere seiner Schlüsselwerke. Ausgehend vom Theater an der Wien folgt der Autor und Fotograf Andreas J. Hirsch den Spuren des Komponisten und erforscht die Magie der Beethoven-Orte. Das Buch darf durchaus als Versuch einer Annäherung an Beethoven mit fotografischen Mitteln bezeichnet werden. Es ist ein visueller und gedanklicher Begleiter zur Begegnung mit Beethovens Musik. Die Spurensuche durch das Wien aus Beethovens Zeit wird mit Zitaten und Gedanken von renommierten Künstlern wie dem Pianisten und Beethoven-Experten Rudolf Buchbinder, den Beethoven-Forschern und Biografen Jan Caeyers und William Kinderman, den Dirigenten John Eliot Gardiner und Christian Thielemann, dem Geiger Daniel Hope, dem Intendanten des Theaters an der Wien, Roland Geyer, und dem Opernregisseur Stefan Herheim ergänzt.

„Musik ist höhere Offenbarung als alle Weisheit und Philosophie. Wem sich meine Musik auftut, der muss frei werden von all dem Elend.“ Diese Worte Ludwig van Beethovens stehen quasi als Einleitung und als Leitmotiv für das Buch. In neun Kapiteln beschäftigt es sich in chronologischer Reihenfolge von den Wegen zu Beethoven in Wien, seine enge Verbundenheit zum Theater an der Wien, seine Zeit in Heiligenstadt und die Verfassung seines berühmten Testamentes bis hin zu seinen späten Jahren und Tod am 26. März 1827. Die Erzähltexte, in deutscher und englischer Sprache, sind spannend formuliert, und manches liest sich wie ein Roman, insbesondere wenn Hirsch auf die Umstände der Komposition der Symphonie Nr. 3, der Eroica, zu sprechen kommt, die Beethoven ursprünglich Napoleon gewidmet hat. Spannend auch die Erzählung an der Komposition von Beethovens einziger Oper Fidelio, wie sie aus den Vorgängerversionen der Leonore entstanden ist. Es gibt viele Bücher und Biografien über Beethoven, die das alles zum Inhalt haben, aber nun kommen die ausgewählten Bilder von Andreas J. Hirsch hinzu, die diesem Buch das Besondere verleihen. Es ist einerseits ein Eintauchen in den Kosmos Beethoven, manchmal aber auch ein Entschleunigen, wenn Hirsch Beethovens Liebe zur Natur und seine Spaziergänge beschreibt und dazu die entsprechenden Fotos zeigt, als wäre er im Schatten Beethovens gewandelt.

POINTS OF HONOR

Buchidee
Stil
Erkenntnis
Preis/Leistung
Verarbeitung
Chat-Faktor

Besonders plastisch schildert Hirsch Beethovens Lebenskrise und seine heroische Zeit während seines Aufenthaltes in Heiligenstadt, wo er schmerzhaft erkennen musste, dass seine fortschreitende Taubheit irreversibel war. „Ich will dem Schicksal in den Rachen greifen, niederzwingen soll es mich gewiss nicht“, hat Beethoven selbst über diese Zeit gesagt. Dazu sind aktuelle und historische Bilder von dem Haus in Heiligenstadt sowie diverse Inneneinsichten aufgeführt. Die bestehende Beethoven-Wohnung Heiligenstadt in der Probusgasse 6 im 19. Bezirk wurde 2017 von einer 40 m² umfassenden Gedenkstätte zu einem 265 m² großen Beethoven-Museum erweitert. Es ist ein faszinierender, moderner Ausstellungsparcours, der durch vierzehn Räume führt und die Geschichte des Hauses, Beethovens Übersiedlung von Bonn nach Wien, seinen Aufenthalt hier – im damaligen angesagten Kurort Heiligenstadt – die Natur, das Komponieren, das Geldverdienen, die damalige Aufführungspraxis und sein Vermächtnis dokumentiert. In diesem Haus verfasste der 32-jährige Beethoven in tiefster Verzweiflung sein Heiligenstädter Testament. Diesen nie abgesandten Brief an seine Brüder schrieb er, als er erfahren hatte, dass es für seine Taubheit keine Heilung geben sollte. Gleichzeitig arbeitete er in der Probusgasse an großen Werken, darunter die drei Klaviersonaten Opus 31, das Oratorium Christus am Ölberge und die Eroica-Symphonie. „Das Beethoven-Haus im 19. Bezirk strahlt eindeutig etwas aus. Ich denke an die kleinen Gassen in Heiligenstadt, wo er bis in die frühen Morgenstunden umherging. Bezeichnend ist da auch Beethovens Tempoangabe im 3. Satz des Klavierkonzertes Nr. 5 ligato, schwankend“, sagt der Pianist Rudolf Buchbinder über dieses Haus.

Besonders beeindruckende Bilder gibt es vom Palais des Fürsten Lobkowitz, einem Förderer und Gönner Beethovens, hier hat er seine Eroica voraufgeführt und sie später dem Fürsten gewidmet. Ein weiteres Domizil Beethovens in Wien war die Wohnung im vierten Stock des nach dem Besitzer benannten Pasqualatihauses im Zentrum Wiens, wo er einen herrlichen Ausblick über Wien gehabt hat und wo er zwischen 1804 und 1815 mehrmals wohnte. Die beiden ersten Fassungen der Leonore sowie Teile der 5. und 6. Symphonie komponierte er hier.  „Nur in Deiner Kunst leben! So beschränkt du auch jetzt deiner Sinne halber bist, so ist dieses das einzige Dasein für Dich.“ Das Zitat Beethovens steht für diesen Lebensabschnitt, und der Geiger Daniel Hope ergänzt es mit den Worten: „Ich würde alles dafür geben, Beethoven beim Klavierspielen zu hören. Am liebsten im Café Frauenhuber in der Himmelpfortgasse, mit obligatorischem Weintrinken im Anschluss …“

Triumphale Beethoven-Uraufführungen fanden vielerorts in Wien statt: im Eroica-Saal des Österreichischen Theatermuseums, im Großen Redouten-Saal der Spanischen Hofreitschule und im Festsaal der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Das Theater an der Wien war Bühne für die Premiere der Oper Fidelio, Beethoven wohnte sogar zeitweise dort. Für Roland Geyer, dem Intendanten des Theater an der Wien, ist Fidelio „nicht nur ein Markstein der Opernliteratur nach Mozart per se, sondern auch ein Meilenstein in der (Ur-)Aufführungsgeschichte des Theaters an der Wien“. Und der Regisseur und designierte Theater-Intendant Stefan Herheim ergänzt: „Für mich können Mut und Hoffnung der Menschheit erhabener nicht gemacht werden, als wenn Leonore in Fidelio ein ‚Farbenbogen‘ leuchtet, der ‚hell auf dunklen Wolken ruht‘.“

Mit diesem Buch ist Andreas J. Hirsch und dem Verlag Lammerhuber ein reichhaltig bebildertes, poetisches Kleinod gelungen, das in der Masse der vielen Neuerscheinungen zum Beethoven-Jahr 2020 herausragt und für 30 Euro schon vergleichsweise günstig zu erhalten ist. Es ist nicht nur für Beethovenfreunde ein schönes Geschenk, man lernt zudem viel neues (und altes) über die große Kunst- und Kulturstadt Wien kennen, wo auch heute noch der Geist Beethovens sicht- und hörbar ist.

Andreas H. Hölscher