O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Michael S. Zerban - Foto © Klaus Handner

Kommentar

Die Grenze überschritten

Nach übereinstimmenden Berichten hat der Hannoversche Ballettchef Marco Goecke einer Journalistin im Foyer der Staatsoper Hannover Hundekacke ins Gesicht geschmiert. Anschließend ließ er sich auf der Bühne für seine Premiere feiern. Was wie die Einzeltat eines psychisch gestörten Menschen aussieht, wirft Fragen über das Selbstverständnis von Kulturarbeitern auf.

Wiebke Hüster wurde von Marco Goecke angegriffen und mit Scheiße im Gesicht beschmiert. – Foto © privat

Marco Goecke gehört zu den bekannten Choreografen der Republik. Nachdem sein Vertrag als Hauschoreograf am Stuttgarter Ballett 2018 nicht verlängert worden war, berief ihn Opernintendantin Laura Berman zum Ballettdirektor und Chefchoreografen der Staatsoper Hannover, wo er seit 2019 wirkt. Am 9. Februar fand die Uraufführung seines 70-minütigen Stücks In the Dutch Mountains am Nederlands Dans Theater in Den Haag statt. Die Journalistin Wiebke Hüster berichtete für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und fand deutliche Worte. Hier werde „das Publikum abwechselnd irre und von Langeweile umgebracht“. Ihr Befund war eindeutig. „Es ist eine Blamage und eine Frechheit“, schrieb sie. Wer sich im Tanztheater auskennt, dürfte die Kritik plausibel finden. Zwei Tage später ist Hüster wieder im Einsatz. Diesmal hat es sie nach Hannover verschlagen, wo die dreiteilige Ballettpremiere Glaube – Liebe – Hoffnung im Opernhaus stattfindet.

In der ersten Pause, so erzählen übereinstimmende Berichte, kam Goecke auf sie zu, attackierte sie verbal, wollte Hausverbot erteilen und schmierte ihr schließlich Hundekot ins Gesicht. Spätestens seit diesem Zeitpunkt war der Vorfall im Opernhaus bekannt. Eine PR-Arbeiterin begleitete die Journalistin zum Waschraum und half ihr, sich zu reinigen. Die Premiere lief weiter und Goecke, dessen Stück als letztes lief, ließ sich auf der Bühne vom Publikum feiern. Zu der Zeit befand sich Hüster auf der Polizeistation, um Strafanzeige zu erstatten. Später lässt Intendantin Berman verlauten, man werde „arbeitsrechtliche Schritte prüfen“. Offensichtlich ist der Führungskraft da entgangen, dass eine solche Aktion vollkommen ausreicht, jemanden, der ein hohes öffentliches Amt bekleidet, fristlos zu entlassen – wenn der nicht ohnehin schon seiner Entlassung zuvorkommt. Immerhin hat die Staatsoper zwei Tage später Goecke suspendiert und ihm Hausverbot erteilt. Reichlich spät.

Der Norddeutsche Rundfunk als öffentlich-rechtliche Sendeanstalt bezeichnet den Täter in seiner Berichterstattung als „renommierten und ausgezeichneten Choreografen“ und lässt ihn auch gleich mal „seine Sicht der Dinge“ vor der Kamera darstellen. „Sie hat mich auch jahrelang mit Scheiße beworfen“, darf Goecke da sagen und das Opfer gleich weiter diffamieren. „Ich weiß von 99 Prozent der Tanzschaffenden in diesem Land, dass sie sich von dieser Frau über Jahre extrem verletzt gefühlt haben“, darf er unkommentiert behaupten. Nichts davon ist belegbar, und plausibel ist es schon gar nicht. Journalistische Sorgfaltspflicht sieht wahrlich anders aus. Der Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen inzwischen aufgenommen hat, werden solche Aussagen in der rechtlichen Würdigung weiterhelfen.

Reflexhaft hat sich inzwischen Frank Rieger, Landesvorsitzender des Deutschen Journalisten-Verbandes Niedersachsen, geäußert. „Der Angriff auf die Journalistin der F.A.Z. ist auch eine Attacke auf die Pressefreiheit“, sagt er. Die F.A.Z. zählt weitere Beispiele für die Haltung von Kulturarbeitern zur Presse auf. Kritiker seien „Scheiße am Ärmel der Kunst“, wird da Karin Beier, Intendantin des Hamburger Schauspielhauses, zitiert. Matthias Lilienthal und Amelie Deuflhard, Vertreter der so genannten Freien Szene, „verfemen die Kritik unbekümmert als obsolet und rückschrittlich“. Nein, diese Haltung, die ihren vorläufigen Höhepunkt im tätlichen und entwürdigenden Angriff Goeckes findet, ist nicht „nur“ eine Attacke auf die Pressefreiheit. Nicht erst, seitdem Kulturarbeiter glauben, sie müssten die gesellschaftlich vereinbarten Regeln der deutschen Sprache missachten, zeigen immer mehr von ihnen ein fehlendes oder schwindendes demokratisches Grundverständnis.

Wer sein Geld von der öffentlichen Hand bekommt, um in der Freiheit der Kunst nicht eingeschränkt zu werden, trägt eine hohe Verantwortung und ist deshalb noch lange nicht von jeder Kontrolle entbunden. Gerade die aktuelle Entwicklung, in der viele Kulturarbeiter die Kunstfreiheit mit dem Versuch, Ideologien durchzusetzen, verwechseln, zeigt, dass sie ganz offenbar ihrer Verantwortung nicht gewachsen sind. Darauf mit überzogener Sensibilität und Verärgerung zu reagieren, mag zwar ein Stück weit verständlich sein, eben so, wie man weiß, dass ein Pubertierender, der sich bei einer Ungezogenheit erwischen lässt, mit den Füßen stampft. Aber nicht, sich der Kontrolle zu entziehen, ist der richtige Weg, sondern wieder die eigene Verantwortung zu reflektieren und wahrzunehmen, kann das verlorengegangene Vertrauen in die Kulturarbeiter wiederherstellen.

Marco Goecke ist bislang ein Einzelfall. Und er wird hoffentlich kein öffentliches Amt mehr bekleiden, sondern sich einer Therapie unterziehen. Aber vielleicht kann sein Fehlverhalten wenigstens dazu führen, Befindlichkeiten zu überdenken.

Michael S. Zerban

Kommentare geben die persönliche Meinung  des Verfassers, aber nicht in jedem Fall die Auffassung von O-Ton wieder.