O-Ton

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Peter Wäch - Foto © privat

Kommentar

Perlenfischer gesucht

Die Forderung nach mehr zeitgenössischen Opern ist alt und gern genutzt, wenn Intendanten erklären sollen, warum es immer nur die gleichen Opern an ihren Häusern gibt. Bleiben neue Opern erfolglos, wird gern dem Publikum die Schuld gegeben. Aber neue Opern sind nicht der einzige Weg, das Repertoire aufregend zu gestalten.

Andreas Homoki braucht mehr neue Opern. – Foto © intermusica

Andreas Homoki, Intendant des Opernhauses Zürich, wurde in der 50. Jubiläumsausgabe der Hauszeitung MAG gefragt, ob er es nicht als Problem sehe, dass Häuser die ewig gleichen erfolgreichen Repertoiretitel auf die Bühne bringen? „Das ist in der Tat ein Dilemma, es gibt zu wenig neue Stücke“, antwortete er. Damit provoziert Homoki diejenigen, die von Figaro, Carmen und Konsorten genug brillante, aber auch fragwürdige Interpretationen gesehen haben und des Weiteren mit der zeitgenössischen Oper weit weniger warm werden als gehofft. Die Diskussion rund ums Repertoire-Karussell müsste denn auch woanders hinführen, nämlich zu selten gespielten Perlen bekannter Komponisten. Auch wenn diesbezüglich andere Ansichten dominieren: Es gibt deren mehr als genug.

Opern-Aficionados werden betrogen. Nein, ich spreche nicht über die intellektuell überhöhten Sichtweisen reformwütiger Regisseurinnen und Regisseure, die klassische Werke mit ihrer Lesart oft derart verstümmeln, dass man als Zuschauer mit geschlossenen Augen im Saal sitzt und das finale Addio herbeisehnt. Ob es sich nun um Filme, Lieblingssongs oder eben Opern handelt: Auch der größte Fan will sein Sinnesspektrum von Zeit zu Zeit erweitern. Mit der Oper ist das aber so eine Sache nach der ersten Wiener Schule. Spätestens seit Arnold Schönberg und Alban Berg stellen Kompositionstechniken unsere Hörgewohnheiten auf den Kopf. Wem aber bei Mozart, Verdi und Puccini das Herz aufgeht, der hat nicht selten Mühe, den expressiven Tonmalereien eifriger Modernisten zu folgen. Obschon der Geist die Kunst erkennt und vielleicht sogar schätzt, bleiben bei einigen die Emotionen auf der Strecke.

Worin aber liegt nun der Betrug? Man findet ihn in der Vernachlässigung kaum gespielter Opernhits und somit im „verstaubten“ Repertoire, das seit gut 100 Jahren mit La Traviata, Faust und Lohengrin die Kassen weltweit klingeln lässt. Es ist tatsächlich so, wie eingangs erwähnt: Es werden die gleichen erfolgreichen Titel gebetsmühlenartig wiederholt, und so kann es vorkommen, dass man sich in seiner Heimatregion mit drei verschiedenen Lesarten von Don Giovanni konfrontiert sieht. Global betrachtet gilt hier noch zu konstatieren, dass Mozarts Meisterwerk und andere Repertoiretitel geradezu im Stakkato-Takt präsentiert werden. Natürlich ist es eine Herausforderung, das Bekannte so umzusetzen, dass man neue Perspektiven und Impressionen gewinnt und sich die vertrauten Weisen neu erschließen. Wenn aber die Kanzone La donna è mobile aus Verdis Rigoletto in einem das Gefühl weckt, der Leierkasten wäre angesprungen, ist man wahrscheinlich Repertoire-müde.

Die Frage sei ferner erlaubt, ob heute Kunst vorwiegend für die Künstler gemacht wird. Geht es nach Impresario oder Intendant, sollte jeder Tenor oder Bariton die Möglichkeit erhalten, mit dem Herzog von Mantua oder mit dem Grafen Almaviva zu debütieren. Das gleiche gilt für Frauenpartien wie die einer Violetta oder Tosca. Und das jeweils ohne Rücksicht auf das Publikum, das die Gassenhauer schon auf den Bühnen dieser Welt, bei Festivals, im Kino und im Fernsehen dargeboten bekommt. Oft sind es gerade die Künstler, wie seinerzeit eine Maria Callas, die lieber in der Schmuckschatulle wühlen und dann dafür sorgen, dass im Fall der berühmten Diva eine Norma von Vincenzo Bellini wieder auf den Spielplänen steht.

„Selbst eine Carmen kann Kassengift sein“, sagt Ralf Tiedemann völlig richtig. Warum also nicht das Unbekannte aus dem Oeuvre der bekannten Komponisten wagen? Auf die Frage, ob es einen Auftrag gäbe, alte Stücke aus der Versenkung zu holen, wird der Schweizer Regisseur und Theaterleiter Dieter Kaegi noch deutlicher. „Sicher, auch für das bekommen wir Subventionen. Wir dürfen und müssen Risiken eingehen.“ Kaegi ist unter anderem Intendant von Theater Orchester Biel Solothurn, kurz TOBS. Er bringt in seinen beiden Häusern regelmäßig selten gespielte Stücke auf die Bühne und erreicht gerade mit dieser Programmierung viel Zuspruch. Ähnlich wie Kaegi argumentiert Eric Vigié, Direktor der Opéra de Lausanne. „Das Publikum liebt es nicht, wenn es von verschollenen oder neuen Werken entwöhnt werden soll“, sagt er.

Dass es sich lohnt, die alten Schätze zu bergen, beweist ein jüngeres Beispiel des Wexford Opera Festivals in Irland. Das Haus hat sich fast ausschließlich auf selten gespielte Werke spezialisiert und ist ein weltweit geschätzter Perlenfischer. In seiner 64. Saison 2015 hob das Festival Pietro Mascagins Guglielmo Ratcliff aus der Versenkung und landete damit einen Coup. Die Medien waren very amused, und so ließ das renommierte Blatt The Spectator klar und deutlich verlauten: „Mascagnis Guglielmo Ratcliff deserves to become a classic …“ Eine extra produzierte Doppel-CD war die logische Folge.

Bleiben wir beim Beispiel Mascagni, das stellvertretend ist für andere berühmte Komponisten mit sogenannten One-Hit-Wonders. Wer heute dem italienischen Komponisten nachsagt, er habe einzig mit seiner Kurzoper Cavalleria Rusticana Geschichte geschrieben, muss längst eines Besseren belehrt werden. In Braunschweig wurde 2011 die deutsche Erstaufführung seines Dreiakters Isabeau von den Kritikern für seine monumentale Orchestrierung gefeiert, die deutliche Anlehnungen an Richard Wagner und Richard Strauss zeigt. Im Sommer vergangenen Jahres sorgte Sopranistin Sonya Yoncheva in Frankreich für Aufsehen, als sie für das Le Festival Radio France Montpellier Mascagnis zu Unrecht verschmähte Japanoper Iris zu neuem und farbigem Leben erweckte. Gerade bei Isabeau oder Iris gilt ein weiteres Augenmerk dem Librettisten Luigi Illica, der für Giacomo Puccini viele Erfolge, darunter La Bohème und Madama Butterfly, schrieb und auch Umberto Giordano mit Andrea Chénier einen Platz im Repertoire sicherte.

Es gäbe noch einige Kostproben zu nennen, wo Kulturschaffende das Vergessene aus einer vergangenen Zeit ins 21. Jahrhundert katapultieren. Die St. Galler Festspiele in der Schweiz gehören zu diesen Pionieren. Am 23. Juni 2017 ist Premiere von Alfredo Catalanis Verismo-Oper Loreley, im kommenden Jahr wird es mit Edgar ein Frühwerk von Maestro Puccini sein.

Aber was ist nun mit der neuen Oper, die man in Zürich so schmerzlich vermisst? Sind die Werke von heute tatsächlich für ein breites Publikum geeignet, dem sich der Klang des Unvorhersehbaren irgendwann auf breiter Ebene erschließen möge? Oder bleiben moderne Opern wie Annas Maske von David Philip Hefti doch nur ein Nischenprodukt für intellektuelle Naseweise, die sich abgrenzen müssen von Verdi-Hymnen wie Va pensiero? Ist es vorstellbar, dass eine neue Generation von Komponisten den Mut hat, im Stil eines Mozart, Verdi oder Wagner zu komponieren?

Hier gehen die Meinungen weit auseinander. Ein Komponist, der sich als Puccini versucht, kann meiner Meinung nach nur scheitern. Es sei denn, er schreibt eine Hit-an-Hit-Folge, die in ihrer Wiedererkennbarkeit an Jukebox-Musicals wie Mamma mia! oder dann an eine Hit-Oper wie Don Giovanni erinnert. Viel eher ist es vorstellbar, dass sich das Musical in einer Parallelrichtung der Opera buffa oder dem Melodrama annähert. Erste Tendenzen dazu konnte man bereits 1986 beobachten, als Andrew Lloyd Webber sein pompös orchestriertes Stück The Phantom of the Opera in London präsentierte. Für sämtliche Solo-Partien braucht es eine klassisch geschulte Stimme. In eine ähnlich dramatische Richtung gingen in der Schweiz die Thunerseespiele mit der Vertonung des Dürrenmatt-Klassikers Der Besuch der alten Dame von Moritz Schneider und Michael Reed. Die Komponisten Robert D. C. Emery und Moritz Schneider wagen sich nun, wieder in der Schweiz, an einen regelrechten Opernstoff. Das Musical Anna Göldi erzählt die tragische Geschichte einer Verfolgten, die 1782 in der Schweiz und somit auch in Europa als eine der letzten Frauen der Hexerei beschuldigt und hingerichtet wurde. Die Premiere findet am 9. September in Neuhausen am Rheinfall statt.

Zum Schluss hat, Fairness muss sein, nochmals Andreas Homoki das Wort. Der Intendant des Opernhauses Zürich macht sich in seiner Antwort auf die eingangs gestellte Frage zu Repertoiretiteln auch für die Oper als solches stark. „Opern hängen nicht wie Gemälde in einem Museum. Man muss sie aufführen, damit es sie gibt. Sie existieren nur, wenn wir sie spielen.“

Peter Wäch

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