O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Der Jazzchor Freiburg bei seinem Fernsehauftritt - Foto © Interkultur/Studi43

Hintergründe

Europas Beste

Eurovision Choir of the Year – Neun Chöre, neun unterschiedliche Auftritte, doch ein Signal: Aufbruch aus der starren Tradition in einen Prozess der Öffnung und Globalisierung. Alles live und in Farbe im Fernsehen. In Deutschland allerdings erst später.

Elīna Garanča, Nicolas Fink und John Rutter bilden die Jury. – Foto © Interkultur/Studi43

Riga am 22. Juli, 22.40 Uhr Ortszeit. Die Arena vor den Toren der lettischen Hauptstadt. Riesenjubel im Parkett und auf den Rängen einer der modernsten Hallen des Baltikums. Auf der Showbühne fallen sich die jungen Sängerinnen des Frauenchors Carmen Manet aus dem slowenischen Kranj unter gleißenden Scheinwerfern und den flackernden Blitzlichtern hunderter Digitalkameras verzückt in die Arme. Umgeben von Akteuren und Fans hüpfen und tanzen die Mädchen. Unbeschreibliche Freude. Wäre Primož Kerštanj, der Chordirigent, nicht ein Hüne, würde er in dem Tumult wohl glatt untergehen. So ansteckend das Treiben ist, es dürfte erst recht verständlich sein. Carmen Manet, gerade 2011 gegründet, hat den Lorbeer „Europas Chor des Jahres 2017“ erobert. Allein das eine wahre Erfolgsgeschichte.

Mit seiner Präsentation der Titel Scarf und And so we dance in Resia hat sich der Kammerchor bei der Premiere der TV-Show Eurovision Choir of the Year (ECY) gegen Laienchöre aus acht weiteren europäischen Ländern durchgesetzt und die dreiköpfige Jury beeindruckt. Die jüngste Erweiterung von Veranstaltungen der Eurovision ist der Zusammenarbeit der Partner European Broadcasting Union (EBU), der deutschen Institution Interkultur, Veranstalter der World Choir Games (WCG) und der Stadt Riga zu verdanken. Gewiss, dem Anreiz, vor Tausenden in der Halle und Millionen TV-Zuschauern in Europa in den vorgegebenen sechs Minuten a cappella eine einmalige musikalische Visitenkarte abzugeben und mit einem Schlag populär zu werden, vermag sich niemand zu entziehen. Formationen aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Lettland, Österreich, Slowenien, Ungarn und Wales geben alles, die Gunst des Abends zu nutzen und ihr mutmaßlich größtes musikalisches Chor-Erlebnis mit der Palme des Wettbewerbssiegers zu krönen.

Neun Chöre – neun Sieger

Diese Motivation ist speziell bei den Chören aus Belgien, Dänemark und Wales unmittelbar spürbar, die eher im Schatten der europäischen Chorszene existieren. Doch wird die Ergänzung des seit Jahrzehnten eingespielten Eurovision Song Contests (ESC) wesentlich vom olympischen Geist geprägt. Die Teilnahme an sich und die Begegnung mit anderen Ensembles unterschiedlicher regionaler und kultureller Herkunft stehen im Vordergrund. Die reine Rangliste ist sekundär. Die lettische Mezzosopranistin Elīna Garanča, Sprecherin der Jury, findet dazu in perfektem Englisch eine kluge Formulierung. Jeder der neun Chöre sei ein Sieger, sagt sie. „Aber wir haben nur eine Trophäe.“ Es ist der Abend von Europas Besten.

SENDETERMINE

WDR Fernsehen 30. Juli 2017,
7.40 Uhr
SWR Fernsehen 5. August 2017, 21.50 Uhr
Arte Mediathek
YouTube Suchbegriff: Eurovision
Choir of the Year

Von der Trophäe haben natürlich auch die 29 Sängerinnen und Sänger des Jazzchors Freiburg, ihr Dirigent Bertrand Gröger, die Managerin Nina Ruckhaber und eine weitgestreute Chorgemeinschaft in Deutschland geträumt, die vom Breisgau über Frankfurt bis nach Berlin reicht. Ganz verdrängen lässt sich der Ehrgeiz ja nicht, den Wettbewerbe in den meisten Menschen auslösen. Ihre Stücke African Call aus dem Repertoire, dann Palettes, ein neu einstudierter Titel aus dem Genre Weltmusik, verlangen dem „besten Jazzchor Deutschlands“, wie ihn Martin Seiler bezeichnet, ein sehr hohes Maß an Akkuratesse ab. Es geht um Intonation, die exakte Wiedergabe der Partituren, homogene Bewegung und Rhythmus, mitreißende Choreografie. „Ihr habt mich mit eurer Musik wirklich mit in den afrikanischen Dschungel und beim zweiten Stück in eine verrauchte Bar genommen“, bringt Garanča ihre Eindrücke auf den Punkt.

Nicolas Fink, ein erfahrener Chorleiter und Dirigent, komplettiert zusammen mit dem britischen Komponisten John Rutter die Jury. „Mich interessieren über die technischen und musikalischen Aspekte hinaus“, sagt der Chorleiter im Gespräch mit O-Ton, „ganz besonders die Botschaften, die von jedem Chor ausgehen.“ Mit einer Mission, erklärtermaßen oder auch nicht, sind in der Tat die meisten der neun Formationen in die Show gegangen. Ausgangspunkt, so auch bei Carmen Manet, ist die Geschichte, die (Chor-)Tradition und die Kultur des jeweiligen Landes. Aus der heraus entwickeln zumeist im zweiten Teil Aufbruch, Bewegung, der Aufschluss auf die Moderne, letztlich die globale Welt. Nimmt man diese Signale zum Maßstab, muss niemandem um Europa wirklich bange sein. Die neue Chorszene, geprägt überwiegend von jungen Menschen, ist lebendiger und aktiver, als die vielen Populisten und Miesmacher glauben machen wollen. „In politisch unruhigen Zeiten wie den heutigen ist es wichtiger denn je zu zeigen, dass Musik und Gesang Menschen zusammenbringen können“, ist Rutter überzeugt.

Lichtjahre jenseits der Stereotype

Die kühnste Botschaft auf dieser brandneuen europäischen Plattform grenzüberschreitender Verständigung stammt bemerkenswerterweise aus dem Südschwarzwald. Mit den vom Jazzchor Freiburg präsentierten Titeln konturieren sie das Bild eines weltoffenen Deutschlands. Geradezu Lichtjahre liegt dieser Auftritt von den Stereotypen und Vorurteilen entfernt, die immer noch in bestimmten Schichten unserer Gesellschaft eine angemessene Wahrnehmung des Laienchorwesens erschweren. Die Liste der Sendezeiten der zwölf beteiligten Fernseh-Anstalten spricht dabei eine beredte Sprache. Elf der Stationen haben live oder zeitversetzt am Tage übertragen. Der EBU-Partner ARD hingegen räumt dem Newcomer gerade einmal Sendezeiten in zwei Dritten Programmen ein (s. Kasten), eine, gar zwei Wochen nach der Show. Einziger Vorteil: Es bleibt genügend Zeit, eine professionelle deutschsprachige Moderation, unterlegt dem englischsprachigen Original, zu erarbeiten.

Im Vorfeld von Riga dokumentiert die Webseite von Interkultur Stimmen aus der deutschen Chorszene, die sich an eine Einschätzung des Stellenwerts des ECY wagen. „Die Chormusik findet zurzeit in Deutschland zu einer neuen Blüte. Aus dem verstaubten Image von Kirchenchören und Gesangsvereinen stechen immer mehr fantastische junge Ensembles hervor, die mit unglaublicher Energie und Lebensfreude zeitgemäßes Repertoire singen“, sagt da beispielsweise Präsentationscoach Felix Powroslo. Unter diesem Vorzeichen liefert Chordirigent Gröger mit seinem Ensemble nichts weniger als eine Bestätigung.

Direkt nach der Show und dann auch in den nächsten Tagen werten die Partner der Eurovision die Premiere als „Erfolg“, wie Jon Ola Sand als EBU-Direktor für Live Events urteilt. „Sehr erfolgreich“, lautet die Bilanz von Lothar Mattner, verantwortlich für die Klassik beim WDR Fernsehen und EBU-Chairman der Music and Dance Group. Dazu  habe insbesondere die gute Zusammenarbeit der Partner beigetragen, „nicht zuletzt die Professionalität des lettischen Fernsehens“. Interkultur-Präsident Günter Titsch spricht von „einem Meilenstein für das Chorwesen in Europa“, Nicol Matt von einer produktiven Arbeitsatmosphäre. Matt, künstlerischer Direktor des Chorprogramms, ist derjenige, der das jüngste EBU-Kind mit Bravour über alle Hürden und Tücken hinweg zum Laufen gebracht hat. Er führt das Gelingen nicht zuletzt auf die „intensive Arbeit mit den Chören“ in den Tagen vor der Show zurück. Für ihn, im Übrigen auch Chorleiter des European Chamber Choir hat sich ein Traum erfüllt. „In meiner Jugendzeit wollte ich immer mal eine Veranstaltung mit der Eurovisionshymne mitgestalten. Als ich jetzt Charpentier gehört habe, war ich richtig glücklich“, sagt er.

Im Sog der Quote

TV-Shows wie der ECY haben mit einer strukturellen Problematik zu kämpfen, die aus dem Zusammenprall des gefräßigen Mediums und der reinen Kunst resultiert. Einerseits das auf Quote und Reichweite erpichte Fernsehen, auch dort wie in Deutschland, wo es öffentlich finanziert ist. Andererseits die unaufgeregte, bisweilen subtile Form aus dem Nukleus einer Jahrhunderte umspannenden Kultur ohne mediale Zwänge. An der Entwicklung des ESC über die Jahrzehnte lässt sich ja aufzeigen, wie stark das Fernsehen auf die Integration von Glamourwelten in das Eigentliche gedrängt hat. Auch der ECS wird sich, so das Format Zukunft hat und sich zu einer Marke entwickeln kann, Ansprüchen des Mediums im Hinblick auf Auswahl der Chöre und Ablauf der Veranstaltung öffnen müssen. „Es gibt bei TV-Shows gewisse Gesetzmäßigkeiten“, gibt Mattner die Richtung vor. „Darüber werden wir mit allen Beteiligten reden.“ Eine Vorentscheidung wird bereits Ende September fallen. Dann treffen sich in Prag die EBU-Verantwortlichen. Wahrscheinlich ist, dass der jüngste Sprössling der Eurovision weiter laufen lernt, vielleicht künftig in zweijährigem Rhythmus. Die Chorwelt in Europa sei sehr breit angelegt und habe viele Liebhaber, unterstreicht der WDR-Emissär. „Daher ist es ratsam, über die weitere Zukunft der Sendung nachzudenken.“

Ralf Siepmann