O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Hintergründe

Auf der Schwelle in eine neue Ära

Ein würdiger Schlusspunkt der 33-jährigen Amtszeit von Harry Vogt, ein verheißungsvoller Auftakt für eine neue Ära der Wittener Tage für neue Kammermusik unter Leitung von Patrick Hahn. Die 55. Ausgabe des traditionsreichen, vom WDR und der Stadt Witten ausgerichteten Festivals bündelte alle Vorzüge, denen es in der internationalen Musikszene sein hohes Ansehen verdankt und deutet darüber hinaus einige Änderungen an, mit denen Hahn die Tage für breitere Publikumsschichten „zugänglicher“ aufstellen will. Dafür plant Hahn auch Berührungen mit der Pop-Musik und migrantischen Kulturen.

Foto © Claus Langer

An der Bedeutung als Plattform für experimentierfreudige Kammermusik auf der Höhe der Zeit, die auch in diesem Jahr die Räume des Saalbaus, des Ruhr-Gymnasiums und der Blote-Vogel-Schule erfüllte, will Hahn nicht rütteln. Durch Konzeptionen wie die des Schalt.Punkts in und um den Saalbau, einem „szenischen Hörspiel in Stationen für Moderationen, Performance, Gesang, Instrumente, Rundfunktechnik und Video“ auf der Grundlage kompositorischer Beiträge von Manos Tsangaris soll jedoch das Publikum stärker eingebunden werden als in Outdoor-Projekten der letzten Jahrzehnte.

Thematisch um den 100. Geburtstag des Radios gereiht, führt Michael Struck-Schloen in einer Studiobox auf dem Vorplatz Gespräche mit verschiedenen Gästen. Simultan tönen aus einem benachbarten Container in einem nostalgischen Küchen-Szenario Live-Gesänge der Sopranistin Elisabeth Holmer und Klänge aus einem musealen Radio. Und in einer Performance im Restaurationsbereich kommunizieren gleich alte und neue Rundfunkgeräte mit einer Moderatorin und einem Bariton. Drei von acht Stationen des Schalt.Punkts, bei denen künstlerische Substanz und immenser organisatorischer und technischer Aufwand zwar mitunter auseinanderklaffen, die aber eine Weiterentwicklung lohnen.

Geschlossener präsentiert sich Christian Masons Performance Invisible Threads für mobile Stimmen, Bassklarinette, Akkordeon und Streichquartett im Märkischen Museum. Die Sänger und Instrumentalisten wechseln im Verlauf des 70-minütigen Events ihre Positionen, während das Publikum ebenfalls die Räume durchwandern kann, so dass sich eine Unzahl an verschiedenen Klangmischungen und -eindrücken einstellen. Die zugrundeliegenden Texte von Paul Griffiths spielen semantisch keine Rolle, wohl aber akustisch, so dass sich immer wieder Klänge von kosmisch-ätherischer Schönheit ergeben. All das ausgeführt von ausgepichten Könnern und Kennern der Avantgarde wie den Neuen Vocalsolisten aus Stuttgart und dem Arditti String Quartet.

Märkisches Museum – Foto © Claus Langer

Dem Arditti Quartett, seit seiner Gründung 1974 quasi ein Stammgast an der Ruhr, haben nicht nur die Wittener Tage eine Unzahl an neuen Streichquartetten zu verdanken. In diesem Jahr setzte mit dem Quatuor Diotima auch ein jüngeres Ensemble bei der Pflege der kammermusikalischen Königsdisziplin starke Akzente. Unter anderem mit Bird des jungen französischen Komponisten Bastien David, der, inspiriert von diversen Vogelstimmen, den Streichinstrumenten faszinierend neue Klangwirkungen entlocken kann. Ein Werk von erfreulicher Sensibilität, das sich von vielen Versuchen abgrenzt, sich mit der Demonstration möglichst vieler abenteuerlicher, letztlich aber hinreichend bekannter Spieltechniken zu begnügen.

Zeitweise geradezu verpönte ästhetische Begriffe wie „Klangschönheit“ fristen in der aktuellen Szene mittlerweile kein Mauerblümchendasein mehr. Das belegen nicht zuletzt effektvolle Auftritte des Klangforums Wien am Eröffnungstag und des WDR-Sinfonieorchesters im Schlusskonzert. Selbst Carola Bauckholt, die als „Portraitkomponistin“ besonders aufmerksam bedacht wird, hat zwar ihre Faszination für Alltagsgeräusche von Staubsaugern und Bohrmaschinen nicht verloren, kleidet sie aber mittlerweile wesentlich milder ein.

Man darf auf das nächste Jahr gespannt sein, wenn Patrick Hahn sein erstes selbstgestricktes Programm präsentieren darf.

Pedro Obiera