O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Thilo Beu

Hintergründe

Bedingt innovativ

Zwei Auftragsproduktionen, ein reaktiviertes Oratorium, drei Auseinandersetzungen mit dem Fidelio/Leonore-Sujet –  Beethovens überschaubares Vokalwerk für die Bühne und das Konzerthaus reizt die Szene der Kreativen. Wie weit diese Ambitionen reichen werden, ist derzeit völlig offen.

Opernchor Theater Bonn – Foto © Thilo Beu

Ein solches Kompliment haben Marco Medved und seine Schützlinge vermutlich lange nicht mehr vernommen. Es sei erfreulich zu sehen, schreibt Herbert Hiess unter dem Eindruck der Wiener Aufführung des Beethoven-Oratoriums Christus am Ölberge im Onlineportal klassik-begeistert.at, wie der Chor des Theaters Bonn „das Vorurteil Lügen strafte, dass nur jüngere Leute gut singen“. Größtenteils habe man „ältere Herrschaften“ gesehen, notiert der Kritiker, „die mit Inbrunst und guten Stimmen den gewaltigen Chorpart“ bravourös bewältigt hätten.

Wertschätzungen, insbesondere begründete, dürfte das Theater Bonn, wichtiger Faktor im Opern- und Konzertprogramm von bthvn2020, gewiss gern einsammeln. Insbesondere solche Wiener Provenienz. Und sicherlich umso lieber, selbst wenn die Vorstellung einer Art Visitenkarte in eigener Sache in der zweiten der beiden wichtigsten Beethoven-Städte nicht unter einem guten Stern steht. Am 8. Februar erfahren die Uraufführung der Auftragskomposition Ein Brief von Manfred Trojahn sowie die Quasi-Wiederentdeckung des Beethoven-Oratoriums von 1803, jeweils in szenischen Inszenierungen, eine viel beachtete Premiere im Bonner Opernhaus. Exakt drei Wochen danach steht das Premierendoppel als Gastspiel des Bonner Theaters auf dem Spielplan des Theaters an der Wien. Das Theater war 1803 die Stätte der Uraufführung des Oratoriums, das Gastspiel der Bonner so gesehen ein Heimspiel.

Ausfall der Novität

Doch ausgerechnet die Novität, Trojahns Auftragskomposition nach Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief für Orchester und einen Sänger, muss wegen Erkrankung des Baritons Holger Falk – Titelfigur und einziger Solo-Protagonist – ausfallen. Das Beethoven-Orchester Bonn (BOB) unter seinem musikalischen Leiter Dirk Kaftan versucht sein Bestes, sich aus der unwillkommenen Situation zu befreien. Es spielt die Fidelio-Ouvertüre, zudem Sätze aus der Pastorale und der Fünften Beethovens. So ist das verwöhnte Wiener Publikum natürlich nicht sonderlich zu beeindrucken.

Auch mit der Jubiläums-Trouvaille, dem selten aufgeführten Oratorium, kann das nur bedingt gelingen. In Bonn begeistert die von Reinhild Hoffmann ersonnene choreografische Konzeption für das naturgemäß statische Werk das Publikum. Im Haus an der Wien wird die Komposition konzertant gegeben, bleibt der Erregungslevel von vornherein flacher. Dazu gibt es einen Wechsel in der Titelpartie, was nie gern gesehen wird. Statt Kai Kluge aus Bonn agiert Rainer Trost in der Tenorrolle des Christus. So schlägt in der Stunde der Not die Stunde des Bonner Chores, 44 Sängerinnen und Sänger stark. Medved weiß um die plötzliche Verantwortung, das Konzert an der Donau zu retten. Er hält vor der Vorstellung eine Rede: „Ich habe meinem Chor bewusst gemacht, wie toll sie singen und wie gut sie vorbereitet sind.“ Er habe sie gebeten, berichtet der Chorleiter, ihr Bestes zu geben, „um auch in Wien zeigen zu können, wie gut wir in Bonn arbeiten und mit welcher besonderen Liebe wir unser Kind Ludwig pflegen“.

Die Ansprache zeigt Wirkung, wie Medved nicht zuletzt am Beifall des Publikums für den Chor feststellen darf. „Alle Sänger haben diese Herausforderung fantastisch angenommen und eine Leistung geliefert, die mich noch jetzt stolz macht“, sagt er. Von Vorteil sei zudem der Vorlauf der Proben und der Aufführungen am Rhein gewesen. „Die Tatsache, dass der Chor die gesamte Partie auswendig kennt“, erläutert Medved, „hat natürlich geholfen, noch einen engeren Kontakt mit Dirk Kaftan in Wien haben zu können.“

„Brücke zwischen Bonn und Wien“

Christian Jost – Foto © privat

Auch in der Musikmetropole Österreichs gibt es positive Stimmen. „Dieses Gastspiel“, unterstreicht Susanne Stricker, die Koordinatorin von WIENBEETHOVEN2020, „stellt eine Brücke zwischen den beiden Beethovenstädten Bonn und Wien dar.“ Hier zeige sich die Chance des Beethovenjahrs, „dass auch selten gespielte Werke für das Wiener Publikum greifbar werden“.

Das im Vergleich mit der Staatsoper kleinere Wiener Haus wartet im Februar ebenfalls mit einer Auftragskomposition auf. Der Komponist Christian Jost und sein Librettist Christoph Klimke rücken eine Figur ins Zentrum, die Beethoven als einen Wegbereiter von Frieden und Freiheit in Europa schätzt und mit der er sich viele Jahre befasst hat. Es ist der niederländische Freiheitskämpfer Graf Egmont, der 1567 den spanischen Besatzern widersteht. Beethoven widmet ihm auf der Grundlage von Goethes Trauerspiel eine Schauspielmusik, die 1810 uraufgeführt wird.

Es gehört zu den reizvollen Aspekten der offenen oder latenten Allianz zwischen Bonn und Wien im Zeichen Beethovens, dass Kaftan die damals vom Burgtheater in Auftrag gegebene   Schauspielmusik aufgegriffen und in einer 2019 bei Dabringhaus und Grimm erschienenen Einspielung dokumentiert hat. Das BOB geht so weit über den üblichen Konzertbetrieb hinaus, der sich auf die Wiedergabe der beliebten Ouvertüre beschränkt, unter Ausklammerung des großen Bogens von der Beschreibung der brutalen Herrschaft bis hin zur Beschwörung des Freiheitskampfes. Die Interpretation mit Matthias Brandt als Sprecher und Olga Bezsmertna, Ensemblemitglied der Wiener Staatsoper, in der Sopranpartie macht exemplarisch das Innovationspotential eines wohl verstandenen Beethoven-Jubiläums bewusst.

Der Kritiker Christoph Irrgeher wünscht in der Wiener Zeitung Josts zeitgenössischer Auseinandersetzung mit Beethoven „ein Leben über das Jahr des Jubiläums hinaus“. Womöglich alsbald auch auf deutschen Bühnen? Als eine „Inkarnation der Beethovenschen Freiheitsidee und sicherlich ein besonderes Asset des Wiener Beethovenjahres“ empfindet sie jedenfalls die Wiener Koordinatorin Stricker. Zu den Erfolgsfaktoren der Uraufführung zählt nicht allein die bestechende Klangwelt des Komponisten. Mit Edgaras Montvidas in der Titelpartie, Bo Skovhus als dessen Gegenspieler Herzog Alba, Maria Bengtsson als Clara sowie Angelika Kirchschlager in der Rolle der Margarete von Parma engagiert sich zudem ein hervorragendes Ensemble an Sängerdarstellern.

Opernblut geleckt

Weitet die Neuentdeckung des Oratoriums und die Fokussierung auf Graf Egmont den Blick auf Beethovens Œuvre im Bereich der Vokalmusik, sacer wie säkular, so ist der Rekurs auf seine einzige Oper Fidelio im Jubiläumsnarrativ natürlich unvermeidlich. „Work in Progress“ nennt der Beethoven-Biograf Jan Caeyers die Leonore/Fidelio-Phase des Komponisten zwischen 1804 und 1814. An deren Ende hat der „einsame Revolutionär“ Blut geleckt, Opernblut. Die zentrale Bedeutung des Werks für das Verständnis des Musikers wie des homo politicus Beethoven offenbart allein schon der Umstand, dass in den ersten knapp 100 Tagen des Jubiläums drei Bühnenauseinandersetzungen zu verzeichnen sind.

Im Einzelnen: Die bei O-Ton besprochene Bonner Inszenierung des Fidelio in der vollendeten Fassung von 1814, die der Theaterregisseur Volker Lösch „mit aktuellen Geschichten von politischen Gefangenen in der Türkei und deren Angehörigen“ auflädt. Die Inszenierung der als Leonore geführten Urfassung als erste Premiere des Jahres an der Wiener Staatsoper, mit der auch dank der textlichen Überarbeitung von Moritz Rinke ein besonderer Akzent gesetzt werden soll. Nachzuerleben ist sie auf Arte Concert. Als „verspielte Chance“ bewertet die Kritikerin Miriam Damev auf Falter.at die Produktion, sowohl die musikalische Performance als auch die Regiearbeit von Amélie Niermeyer. Schlicht „misslungen“ nennt sie Thomas Rauchenwald im Opernglas. Eines der Fragezeichen betrifft das Finale. Entgegen Beethovens Idee von der Übermacht der Utopie der Freiheit erschießt Pizarro Leonore, die den Jubel-Schluss folglich nur als Vision erfährt. Schließlich die zweite Fassung von 1806, die Christoph Waltz im Theater an der Wien einrichtet, deren geplante klassische Premiere allerdings von der Corona-Krise verhindert wird und dann nur als Fernsehübertragung ohne Publikum gezeigt wird.

Die von Bildregisseur Felix Breisach besorgte HDTV-Adaption – auch eine Innovation im Jubiläumsjahr – zu erleben am 20. März auf ORF 2 sowie als Livestream im Netz, offeriert textlich wie musikalisch einige Anleihen und Überraschungen. So das irritierende Duett von Leonore und Marzelline über die eheliche Liebe, das mit der finalen Überarbeitung Beethovens wieder eliminiert wird. Immerhin wird so mehr als deutlich, warum sich heute auf den Bühnen der Welt die dritte Fassung etabliert hat, bisweilen durch die Ouvertüre zu Leonore ergänzt.

Bedingt innovativ. So lässt sich ein Fazit der ersten Wochen ziehen. Lassen die beiden präsentierten Auftragskompositionen Vielversprechendes auch für die kommenden Monate erwarten, überzeugen die ersten Auseinandersetzungen mit der Trias Leonore/Fidelio aus ganz unterschiedlichen Gründen nicht. Bis zum Fixpunkt des Beethoven-Jubiläums im Dezember sind zwar noch etliche Monate Zeit. Doch könnte sich dieser scheinbare Vorteil unter den Gegebenheiten der Corona-Krise in sein Gegenteil verwandeln, eine erzwungene Stagnation. In Aufführungen des Fidelio ist das „süße Glück des Augenblicks“, das Florestan besingt, am Ende gewiss. Zeit seines Lebens kennt Beethoven Gewissheit nur als Ausnahme Wie weit das ihn und uns geführt hat, ist bekannt. Auch das kann beflügeln.

Ralf Siepmann