O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Das Festspielhaus in Bayreuth um 1900 - Foto © N.N.

Hintergründe

Vor dem nächsten Quantensprung

Aus ersten Oper-TV-Übertragungen und experimentellen Kinofilmen vor mehr als 30 Jahren haben sich eigenständige Formate der medialen Vermittlung des Geschehens auf der Bühne oder im Studio entwickelt. Lässt sich von den einstigen Pionieren heute lernen? Ein Blick zurück lohnt, insbesondere jetzt.

Tannhäuser-Inszenierung 1978 – Bildschirmfoto

Für die Verschmelzung von Bühne und Fernsehen sind TV-Übertragungen aus Bayreuth eine wegweisende Etappe.1978 öffnet sich das Haus auf dem Grünen Hügel erstmals TV-Kameras für die Aufzeichnung der Tannhäuser-Inszenierung von Götz Friedrich durch das ZDF. Lohengrin, ebenfalls in Friedrichs Inszenierung, Tristan und Isolde, Parsifal erleben ihre TV-Präsenz in den Folgejahren. 1,1 Millionen Zuschauer sind laut TV-Forschung 1982 auf die ZDF-Ausstrahlung des Parsifal zugeschaltet. 1983 präsentiert die ARD im Zusammenspiel des Ersten mit den Dritten Programmen über eine ganze Kette von Sendeterminen die komplette Aufzeichnung der Tetralogie Der Ring des Nibelungen. Anlass ist der 100. Todestags Richard Wagners. Die Adaption des „Jahrhundert“-Rings durch den französischen Regisseur Patrice Chéreau aus dem Jahr 1976, aufgezeichnet 1980, ist nichts weniger als tele-total bei einer Gesamtspieldauer von mehr als 15 Stunden. Und die Erfüllung des Traums „Bayreuth für alle“, wie manche es sehen.

Der Bayerische Rundfunk kooperiert bei dieser Sternstunde des frühen TV-Debüts vom Grünen Hügel wie bei zahlreichen anderen mit der Unitel. Die Münchner Firma, Produzent klassischer Musikprogramme für das Fernsehen, ist Teil der Firmengruppe des Filmhändlers Leo Kirch. TV-Regisseur des spätkapitalistischen Untergangsspektakels mit Göttern im Gehrock und Siegfried als Gründerzeit-Revolutionär ist der Engländer Brian Large, der bis heute einige hundert Opernaufführungen in aller Welt für den Bildschirm eingerichtet hat. Der Pionier des Genres sieht Mitte der 1980-er Jahre die Adaption der Bühne durch die TV-Kamera auf dem Weg zu einer „eigenen Kunstform“. „Ganz sicher“, unterstreicht Large 1985 anlässlich der Aufzeichnung von Wolfgang Wagners Meistersinger-Inszenierung, „geht es nicht mehr um die Kamera, die ein Fußballspiel überträgt.“ Large spricht von einer Aneignung mit „Eigenleben“. Es handele sich um sehr viel mehr als „die Aneinanderreihung von Weitwinkeln, Halbtotalen oder auch Großaufnahmen“.

„Bayreuther Schule“

1986 passt die ARD den Film über Leonard Bernsteins Studio-Schallplattenproduktion seiner West Side Story in ihr Weihnachtsprogramm ein. Der Komponist und Dirigent formuliert bei der Vorstellung des Films in München seine Medienphilosophie so: „Wir machen Musik, und gleichzeitig entsteht die Kunst des Mediums durch den Bildregisseur.“

Large beschränkt sich bei der TV-Vermittlung der Meistersinger auf Wunsch Wolfgang Wagners auf eine semi-dokumentarische Wiedergabe, eine Art simulierter Direktübertragung ohne Publikum. Bühnen-fremde Kamerafahrten oder verspielte Überblendungen unterbleiben. Die akustische und die optische Produktion erfolgen zwar synchron. Doch erlaubt diese Vorgehensweise vorab Stellproben auf der Bühne mit Klavier getrennt von den Orchester- und den Bühenorchesterproben und die Zusammenführung der besten Passagen aus zwei bis drei Durchläufen.

Die „Bayreuther Schule“ ist ein eigener Standard im Spektrum an Live-Übertragungen, Studio-Produktionen und medial anspruchsvollen Aufzeichnungen, die sich im technisch-künstlerischen Prozess der Entdeckung des Bildschirms durch die Bühne und umgekehrt entwickelt haben. Eine vielseitige Allianz zwischen der intimen Kunst des Theaters und der breiten Öffentlichkeit eines Massenmediums. Eine Annäherung parallel zur Eroberung der Oper durch das Kino. Höhepunkte dieser Phase sind Joseph Loseys Verfilmung des Don Giovanni von 1979, Franco Zeffirellis Filmversion von La Traviata 1983, Francesco Rosis Carmen 1984 sowie Hans Jürgen Sybergbergs Parsifal-Deutung 1982.

Oper als kinematographische Entschlüsselung

Wegbereiter der Annäherung von Kunst und Medium in der Tradition der frühen Bemühungen Herbert von Karajans, Oper und Konzert für das Fernsehen und die damals zukunftsträchtige Bildplatte attraktiv zu machen, sind vor allem zwei Regisseure. Einmal Jean-Pierre Ponnelle, der seine Inszenierungen auch als Bühnen- und Kostümbildner betreut. Seine Studioproduktionen von Mozart- und Rossini-Aufführungen finden noch heute ihr (DVD-)Publikum. Zum anderen der Felsenstein-Schüler Götz Friedrich, von 1981 bis 2000 Generalintendant der Deutschen Oper Berlin, der eine aufwändige Verfilmung der Strauss-Oper Elektra realisiert und den SFB ungeachtet hoher Rechtekosten dazu bringt, „ein so selten gespieltes und unbekanntes Stück aus der Peripherie“, nämlich Korngolds Tote Stadt aufzuzeichnen. Beide Produktionen atmen geradezu die Vision, die der Regisseur Friedrich auf einem Medienseminar der Deutschen Oper mit dem Unternehmen Sony formuliert. Gerade Kompositionen vom Beginn des 20. Jahrhunderts, etwa Puccinis Verismo-Stücke Tosca und Madama Butterfly seien bestimmt von Psychologien, „die aufregend werden, wenn man ihre Bühnenexistenz auf der einen Seite und die Möglichkeiten ihrer kinematographischen Entschlüsselung auf der anderen Seite sieht“.

Friedrich und weitere Visionäre wie Alexander Kluge und Herbert Kloiber, anfänglich Filmeinkäufer in Leo Kirchs Firmengruppe Beta/Taurus sowie Geschäftsführer von Unitel, sehen voraus, dass mit der expandierenden Satelliten- und Kabeltechnik sowie dem Privatfernsehen neue Optionen entstehen, auch für die breite Erschließung der Klassik. Neue Sendeplätze, neue Budgets, neue Projekte und Vermittlungsweisen. Opern-Aficionado Kloiber sorgt dafür, dass im Spartensender Tele 5, an dem er phasenweise Anteile hält, gelegentlich Opernproduktionen ausgestrahlt werden, zumeist nach der Primetime. Seit 2007 bringt im Übrigen das von ihm gegründete Unternehmen Clasart Classic Live-Übertragungen in HD aus der New Yorker Met in deutsche und österreichische Kinos.

„Provinzinszenierungen“ ohne Chance?

Herbert Kloiber – Foto © Paul Katzenberger

„Wir bedienen nicht nur die Eliten“, lautet das Credo von August Everding. Der Vollblutmann des Theaters aus dem Ruhrgebiet ist von 1982 bis 1993 Generalintendant der Bayerischen Staatstheater in München. Der Regisseur von Opern in Hamburg, München, New York und Chicago engagiert sich in der Vorbereitung eines Kulturkanals auf RTL plus. Zwar erleben Theateraufführungen Mitte der 1980-er Jahre bei den öffentlich-rechtlichen TV-Anbietern einen Zuwachs. Doch sieht Everding die Bühnen nicht als preiswerte Partner für das Fernsehen. Viele Redakteure, meint er 1987 im Interview mit dem Branchendienst Neue Medien, sähen sich als heimliche Intendanten. „Sie wollen selbst besetzen und nur möglichst hochkarätige Inszenierungen aus den Metropolen produzieren.“ Die guten „Provinzinszenierungen“ hätten so keine Chance. Die zum Teil selbstherrlichen Fernsehredakteure seien das Problem. Die Skepsis Everdings ist mehr als berechtigt. Nach und nach lagern ARD und ZDF Opernübertragungen in Spezialkanäle aus, heute insbesondere auf 3sat, ARD Alpha, arte. Die Übertragung des Freischütz in der Inszenierung von Joachim Herz anlässlich der Neueröffnung der Dresdner Semperoper im ZDF und in DDR I im Februar 1985 – man entschied sich aus politischen Gründen für die Übernahme der Generalprobe – avanciert alsbald zu einem Ausnahmeerlebnis.

Tief beeindruckt ist Everding von der Reichweite eines Gastspiels der Bayerischen Staatsoper mit seiner Zauberflöte in China. Dort wird sie vom staatlichen TV übertragen und hat rund 100 Millionen Zuschauer. „In München“, schwärmt der einstige Assistent von Fritz Kortner,  „müsste ich 173 Jahre lang die Produktion vor ausverkauftem Haus spielen, um diese Zuschauer zu erreichen.“ Das seien für ihn die wirklichen neuen Dimensionen.

Mehr als Guckkasten-Kino

Unter seiner Führung denken die deutschen Opernintendanten derweil über das Fernsehen und die Bildplatte neu nach, allerdings unter dem Aspekt potenzieller lukrativer Vertriebswege. Interessiert schauen sie erst einmal nach Wien. Hier gründen die Österreichischen Bundestheater eine eigene Vermarktungsgesellschaft, die Teletheater GmbH. Die Staatsoper Wien übernimmt mit diesem Rückenwind die Position eines Branchenführers im neuen Terrain der Opern-Vermarktung.  In den Videokassetten-Vertrieb einer Turandot-Produktion aus der Ära Lorin Maazel steigt die Metro-Goldwyn-Mayer ein. Die Idee eines eigenen Pools der Häuser zwischen Kiel und München zur Verwertung von TV-Aufzeichnungen bleibt letztlich eine Idee.

Es kann offenbleiben, ob die Nachfahren der medialen Pioniere von den damaligen Anstößen heute profitieren. Zumindest überdenken, vielleicht auch lernen ließe sich einiges. „Mir schwebt für das Musiktheater eine Kameraführung vor, die nicht den sprechenden Köpfen hinterherläuft“, beschreibt Everding vor gut 30 Jahren seine Erwartung an eine TV-Vermittlung von Oper, die mehr als Guckkasten-Kino sein will und muss. Übertragen in das heutige digitale Instrumentarium kann eine neue Generation neuer Medien und digital-affiner Künstler unendlich viel erreichen. Kann sie die Narrative, die psychologischen Beziehungskonstellationen einer Salome, eines Don Carlos, Idomeneo oder Wozzeck besser einsichtig, verständlich und auch für breitere Publikumsschichten plausibler machen. Und womöglich das Ganze zukunftsfest machen.

Kreativität und Experimentierfreude sind gefragt, nicht zuletzt die profunde Liebe zum Metier, zum „Kraftwerk der Gefühle“, wie Kluge die Oper versteht. „Jede Aufführung von Musik“, lautet Bernsteins Devise „ist ein musikalisches Drama mit Menschen von Fleisch und Blut, und dass muss auch im Medium zum Ausdruck kommen.“ Ein Satz, der nicht verlieren kann, weder an Substanz, noch an Aktualität.

Ralf Siepmann