O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Hintergründe

Tradition der Moderne

Anlässlich des 211. Geburtstags des Komponisten Franz Liszt spricht Nike Wagner, Ur-Enkelin von Richard Wagner, beim Richard-Wagner-Verband Nürnberg über ihren Vater Wieland Wagner im Kontext der Klassischen Moderne. Bemerkenswert dabei ist der Verzicht auf die biografisch-chronologische Erzählung. Vielmehr wählt Wagner einen kulturwissenschaftlichen Ansatz, der über das Leben ihres Vaters hinausreicht.

Zu einem ganz besonderen Vortrag lud der Richard-Wagner-Verband Nürnberg am 22. Oktober 2022. Am 211. Geburtstag des Komponisten Franz Liszt hielt Nike Wagner, Ur-Ur-Enkelin von Franz Liszt und Ur-Enkelin von Richard Wagner einen bemerkenswerten Vortrag über Ihren Vater Wieland Wagner, Opernregisseur, Bühnenbildner und Mitbegründer von Neubayreuth. Schwerpunkt ihres Vortrages Raum und Handwerk. Wieland Wagner im Kontext der Klassischen Moderne ist die künstlerische Entwicklung des jungen Wagner-Enkels in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts sowie seine bahnbrechenden Inszenierungen in Bayreuth ab 1951.

Nike Wagner, Jahrgang 1945 und aufgewachsen in Bayreuth, studierte Musik-, Theater- und Literaturwissenschaft in Berlin, Chicago, Paris und Wien. Seit 1975 arbeitet Nike Wagner als freiberufliche Kulturwissenschaftlerin. Als Autorin wurde sie bekannt durch ihre Arbeiten zur Kultur- und Geistesgeschichte der europäischen Jahrhundertwende, als Kritikerin und Essayistin durch ihre Auseinandersetzung mit Richard Wagner und Bayreuth. Von 2004 bis 2013 war Nike Wagner künstlerische Leiterin des Kunstfestes Weimar, und von 2014 bis 2021 leitete sie die Internationalen Beethovenfeste in Bonn. Den Vortrag, den Nike Wagner den gut 50 Zuhörern präsentiert, hat sie schon einmal zehn Jahre zuvor in Dessau gehalten, anlässlich der damaligen Neuinszenierung von Wagners Ring des Nibelungen.

Klassische Moderne

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Beim Stichwort Dessau liegt es für Nike Wagner nahe, über Wieland Wagner im Kontext der „Klassischen Moderne“, wozu die Bauhaus-Moderne in Dessau als Exemplar gehört, nachzudenken. Die „Klassische Moderne“ war vornehmlich eine bildkünstlerische, immer auf ein Zusammenwirken aller Kunstbereiche ausgerichtet, von Musik und Raum, Farbe und Material, Bewegung und Licht. Wieland Wagner hatte als Maler und Fotograf angefangen und seine Begabungen auf dem bildnerischen Sektor hat er – als Erbe und Enkel – im Rahmen des Wagnerschen Musikdramas ausleben können. Den Theater-Reformbewegungen der frühen Moderne um Adolphe Appia und Gordon Craig hatte seine Großmutter Cosima weitgehend abgelehnt, mit Isidora Duncan kamen aber schon Elemente des neuen Ausdruckstanzes nach Bayreuth. Nike Wagner tastet sich in ihrem Vortrag langsam an die Person Wieland Wagner heran, sie spricht vor allem über den Maler, Fotografen, Bühnenbildner und Regisseur, den Privatmenschen lässt sie fast vollständig außen vor. Wieviel Wieland Wagner gibt es heute noch? Wo kann man sein Erbe noch sehen? Theaterkunst ist vergängliche Kunst, das weiß auch Nike Wagner, und anhand einiger Fotos versucht sie die künstlerische Entwicklung von Wieland Wagner aufzuzeigen, streift dabei auch kurz die Zeit des Nationalsozialismus, die Wieland Wagner als junger Mann erlebte, und über die Kunst im Zeichen der Diktatur. Nike Wagner spricht von einem „Enthüllen von verschütteten Traditionen, in denen der Bühnenrevolutionär Wieland Wagner stand, von denen aber er aber wenig preiszugeben pflegte“. Die sezessionistischen Bewegungen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre, darunter das Bauhaus, wurden allerdings vom Haus Wahnfried, also in erster Linie von Cosima und Siegfried Wagner, abgelehnt. Bis überraschenderweise der Mitbegründer der Wiener Sezession und enge Mitarbeiter Gustav Mahlers in Wien, Alfred Roller, 1943 einen neuen Parsifal in Bayreuth inszenieren durfte. Von hier aus taten sich Einflüsse und Anregungen für Wieland Wagner auf, die wichtig sind für das Verständnis der überwältigenden Erfolge der neuen Bayreuther Stilepoche zwischen 1951 und 1966, denn Wieland Wagner blieben gerade mal fünfzehn Jahre bis zu seinem frühen Tod.

Neubayreuth

Ende Juli 1951 konnten die Bayreuther Festspiele nach siebenjähriger Pause wiederaufgenommen werden. Zu diesem Zeitpunkt waren die Brüder Wieland und Wolfgang Wagner gleichberechtigt als Festspielleiter und Regisseure tätig. Mit Wieland Wagners Neuinszenierung des Parsifal begann eine Epoche, die heute als „Neubayreuth“ bezeichnet wird. Sie war vor allem von Wielands revolutionären Neudeutungen der Wagnerschen Werke geprägt, die weltweit zum Vorbild wurden. Für die erste Aufführung des Parsifal zeichnete Wieland Wagner für Regie und Bühnenbild verantwortlich, und der Dirigent Hans Knappertsbusch gab sein Debüt bei den Bayreuther Festspielen. Gespielt wurde auf nahezu leerer Bühne, fast ohne Requisiten und ohne jeden Bezug zu historischer Realität. Das Zitat von Gurnemanz „Zum Raum wird hier die Zeit“ schien Wirklichkeit geworden zu sein. Für die Altvorderen, die Anhänger des „alten Bayreuth“, muss es ein Kulturschock gewesen sein. Dennoch – der Wielandsche Parsifal markierte den Beginn einer neuen Epoche der Bayreuther Festspiele. Wieland Wagners Theaterarbeit beruhte auf den Prinzipien Deuten, Klären, Sichten und Sichtbarmachung tieferer Strukturen jenseits der Szenenanweisungen. So schuf er ein neuartiges Inszenierungsmodell zwischen Mythos und Moderne, zwischen dem alten Griechentum und Freuds Psychoanalyse, zwischen Brecht und Aischylos, zwischen Naturalismus und Spiritualismus, Konkretheit und Abstraktion. Wieland Wagner inszenierte meist auf einer kreisförmigen Spielfläche, seiner „Weltenscheibe“, die gerne scherzhaft auch „Wielands Kochplatte“ genannt wurde. Auf dieser das ewige All symbolisierenden Bühne kreierte er seine tiefenpsychologisch-abstrakten Inszenierungen mit einer ganz eigenen Körpersprache. Seine wichtigsten Dirigenten in dieser Zeit waren Hans Knappertsbusch und Karl Böhm. „Hier gilt’s der Kunst“ ist das Motto des Neuanfangs. Damit war Wieland Wagner quasi der Begründer des modernen Regietheaters, obwohl es diesen Begriff zu seiner Zeit noch gar nicht gab. „Walhall war Wallstreet“, so Nike Wagner über die Ideen ihres Vaters. Auch war er der erste Regisseur, der eine konkrete „Lichtregie“ einführte und sie als Teil seiner Inszenierungen verstand, ausgehend von seinen beiden bodenständigen Säulen, der Malerei und des Fotografierens.

Denkmalschutz für Wagner

Wieland Wagners revolutionäre Ideen, seine nihilistischen Inszenierungen und sparsamen Bühnenbilder, die den Fokus auf das Psychologische in der Musik legten, stießen bei dem konservativen Bayreuther Publikum der Nachkriegszeit nicht auf ungeteilte Gegenliebe, es wurde gar ein „Denkmalschutz für Wagner“ gefordert. Wer schützt Wagner in Bayreuth, fragte damals die „Zeit“. Wenn man an die aktuellen Ring-Inszenierungen in Bayreuth und Berlin denkt, dann besitzt diese bald siebzig Jahre alte Forderung fast schon einen historischen Charakter wie aus längst vergangenen Zeiten. Wieland Wagner war tatsächlich der Erste, der insofern gegen einen Text inszenierte, weil der Subtext einer Handlung für ihn wichtiger war als die äußeren Handlungsvorschriften, führt Nike Wagner aus. Sie erläutert im weiteren Verlauf ihres Vortrages die künstlerische Entwicklung Wieland Wagners zu einem „Raum- und Lichtkünstler“. Dabei war er am Anfang seiner Karriere eher rückwärtsgewandt, das Bühnenbild des Parsifal von Alfred Roller aus dem Jahre 1934, bei dem Roller bei der Darstellung des Gralstempels auf die obligatorischen Kuppelwölbungen verzichtet hatte, wurde im Folgejahr von Wieland Wagner ersetzt, mit einer Rückkehr von der Moderne. Erst mit der Zäsur des Krieges und des Neubeginns 1951 kam die erneute Kehrtwende, sein Parsifal wird zum psychologischen Seelentheater.

Werkstatt versus Weihestätte

Mit dem neuen „Werkstattcharakter“ Bayreuths, der kontinuierlichen Auseinandersetzung mit den Werken Wagners und der ständigen Weiterentwicklung laufender Inszenierungen war auch ein Bruch mit der „Weihestätte“ erfolgt. Cosima Wagner hatte über dreißig Jahre nach dem Tode Richard Wagners an einer kultähnlichen Bewahrung der Inszenierungen des Rings und des Parsifals gearbeitet, weil hier „das Auge des Meisters“ noch auf Bühnenbilder und Kostümen geruht hatte, erzählt Nike Wagner. Auch ihr Sohn Siegfried sah sich in dieser Tradition, obwohl er als eigenständiger Komponist, Dirigent und Regisseur wahrgenommen werden wollte, was aber zu Lebzeiten Cosimas Wagner nicht möglich war.

Bühnenbild der Bayreuther „Meistersinger“-Inszenierung von 1956 mit dem sinnreichen Titel „Die Meistersinger ohne Nürnberg“ – Foto © O-Ton

Nike Wagner kommt dann im weiteren Verlauf des Vortrages auf die Tristan-Inszenierungen Wieland Wagners in den 60-er Jahren in Bayreuth zu sprechen und auf den Einfluss, den Wieland Wagners Inszenierungen auf spätere Generationen von Regisseuren gehabt hat. Robert Wilson wird hier von Nike Wagner explizit genannt, denn Wilson steht mit seinen choreografierten Inszenierungen, den schon fast zeitlupenmäßig anmutenden, sparsamen Bewegungen weg vom Realismus für eine Fortführung der Ideen Wieland Wagners, was kaum jemand heute noch weiß. Nike Wagner streift mit ihrem Vortrag auch alle weiteren relevanten Themen der Kunstgeschichte der neueren Zeit, spricht über die Synthese der „Wiener Moderne und der Bauhaus-Ästhetik“, über die Bühnenbilder von Adolphe Appia und die „Hellerauer Schule“, seine Zusammenarbeit mit dem Komponisten Émile Jaques-Dalcroze und dem Bühnenbildner und Regisseur Edward Gordon Craig sowie deren Einfluss auf die künstlerische Entwicklung von Wieland Wagner. Zum Ende ihres fast einstündigen Vortrages spricht Nike Wagner dann über die „Emanzipation von der Verhaftung der Väter.“ Ihr Vortrag ist keine Aneinanderreihung biografischer Fakten, sondern eine kunst- und kulturwissenschaftliche Abhandlung über eine ganze Kunstepoche und deren Einfluss auf ihren Vater Wieland Wagner.

Am Schluss gibt es noch eine lebhafte Diskussion zum Thema „Regietheater“ und auf die hypothetische Frage, wie sich Bayreuth vielleicht entwickelt hätte, wäre Wieland Wagner nicht schon 1966 im Alter von 49 Jahren gestorben, weiß Nike Wagner eine überraschende Antwort. Sie hätte sich vorstellen können, dass Wieland vielleicht Leiter eines Opernhauses geworden wäre, auch um der Qual der Zusammenarbeit mit seinem Bruder Wolfgang zu entfliehen, und Bayreuth hätte er vielleicht für zeitgenössische Komponisten wie Claude Debussy oder Alban Berg versucht zu öffnen. Zumindest das Konzept Bayreuth, gegen das Testament seines Vaters Siegfried, hätte er versucht aufzubrechen. Auch die musikalische Interpretation war ihm wichtig, so der Wechsel der Dirigenten des Parsifal vom altkonservativen Hans Knappertsbusch zum jungen Pierre Boulez, der mit einem modernen und straffen Dirigat für Durchsichtigkeit und Transparenz stand und weg wollte vom althergebrachten Pathos. Für die Zuschauer im Saal, die durchweg mit den Werken Wagners vertraut sind, sind diese Ausführungen aus berufenem Munde erhellend und haben sicher zu einem neuen Grundverständnis über die wichtige Rolle Wieland Wagners in der Wagnerrezeption ab 1951 geführt.

Andreas H. Hölscher