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Hintergründe
Am 13. Mai 2023 hält der Dirigent und Musikwissenschaftler Peter Gülke beim Nürnberger Richard-Wagner-Verband einen bemerkenswerten Vortrag über Richard Wagners prägende Zeit in Dresden und seine Rolle als Revolutionär.
Zu einem ganz besonderen Vortrag lud der Richard-Wagner-Verband Nürnberg am 13. Mai 2023 ein. Peter Gülke, Musikwissenschaftler, Autor und Dirigent, ist aus Weimar angereist, um über Richard Wagners Dresdener Jahre zu referieren. Es ist sein zweiter Auftritt beim RWV Nürnberg, im Oktober 2020 sorgte er bereits beim großen Beethoven-Symposium mit seinem tiefen musikalischen Wissen und seiner, mit stets leicht süffisantem Humor garnierten Rhetorik für große Begeisterung im Auditorium. Der mittlerweile 89-jährige Gülke weiß auch bei diesem Vortrag mit seinem enormen Wissen, seiner stringenten Einordnung historischer Fakten und seiner jahrzehntelangen Tätigkeit als Musikpragmatiker und Wissenschaftler die über 50 Zuhörer im Spiegelsaal des Nürnberger Loew’s Hotel Merkur zu begeistern. Peter Gülke war nach Tätigkeit an den Opernhäusern in Stendal, Potsdam, Stralsund, Dresden und Weimar von 1985 bis 1996 Generalmusikdirektor in Wuppertal. Zuletzt war er von 2015 bis 2020 Chefdirigent der Brandenburger Symphoniker. Von 1996 bis 2000 war Gülke Professor für Dirigieren an der Staatlichen Hochschule für Musik Freiburg und von 1999 bis 2002 Professor für Musikwissenschaft an der Universität Basel. Von Juni 2011 bis Juni 2014 war er Präsident der Sächsischen Akademie der Künste. Von Gülke gibt es zahlreiche Veröffentlichungen zur Musik der deutschen Klassik und Romantik. Für sein Lebenswerk wurde Gülke im Jahr 2014 mit dem Ernst-von-Siemens-Musikpreis, dem „Nobelpreis der Musik“ ausgezeichnet, und 2022 wurde er Mitglied im Orden Pour le mérite, der zu den höchsten Auszeichnungen für besondere Leistungen in Kunst und Wissenschaft in Deutschland gehört.
Im Mittelpunkt des über 75 Minuten dauernden und freigehaltenen Vortrages stehen dabei die für Wagner so prägenden sieben Jahre von 1842 bis hin zur Dresdner Mairevolution 1849. Insgesamt 20 Jahre seines Lebens – in zwei großen Lebensabschnitten – verbrachte Wagner in Dresden, mehr als an jedem anderen Ort. Und er nahm hier musikalische Einflüsse auf, die für sein Schaffen bestimmend wurden. Tiefen Eindruck bei dem jungen Wagner hinterließ Carl Maria von Weber als Mensch, Dirigent und Komponist. Prägende Bedeutung für das Musikschaffen Wagners gewann die Königliche musikalische Kapelle während der Jahre, in denen er einer ihrer Kapellmeister war. Von der herausragenden Dresdner Hofkapelle lernte Wagner außerordentlich viel, vor allem bezüglich des Dirigierens, aber auch des Instrumentierens. In Dresden fand Wagner die Ideen zu den Stoffen seines Lebenswerks – die empfangenen Inspirationen gingen also über das hochrangige praktische Musizieren noch hinaus. Davon legt nicht zuletzt der für Dresden geschriebene Lohengrin Zeugnis ab. Die erfolgreichen Dresdner Uraufführungen seiner frühen Meisterwerke – Rienzi und Der Fliegende Holländer – bahnten diesen den Weg auf die Bühnen der Welt. Wagner wurde aufgrund seiner Beteiligung an den Mai-Aufständen in Dresden 1849 per Steckbrief gesucht, musste Hals über Kopf aus Dresden fliehen, zunächst über Umwege nach Weimar, wo Franz Liszt ihn mit Geld und falschen Papieren ausstattete, anschließend durch die Hilfe Liszts in die Schweiz, nach Zürich.
Gülke, der sich zu Beginn seines Vortrages für die „einschüchternde Begrüßung“ seiner Person durch Günther Neumann in der Vertretung der Vorsitzenden Agnes Sires ganz herzlich bedankt, bekennt freimütig, dass er kein typischer „Wagnerianer“ sei, obwohl er den Ring des Nibelungen an drei Theatern dirigiert habe. Aber da er sich dann auch als „Mozartianer, Schubertianer oder Brahmsianer“ bezeichnen müsste, verzichte er daher auf diese Form der Charakterisierung. Die Ballung des musikalischen und politischen Wirkens Wagner in diesen sieben Dresdner Jahren von 1842 bis zur Dresdner Mairevolution 1849 bezeichnet Gülke als Wagners „Achsenzeit“, auch wenn der Begriff unter Historikern umstritten sei. Er begründet das als „eine Zeit, in der eine Konzentration von geistigen, historischen oder biografischen Ereignissen stattfindet, die auf die weitere Zeit sehr ausgestrahlt haben.“ Doch um diese „Achsenzeit“ genauer verstehen und sie im historischen Kontext besser einordnen zu können, erläutert Gülke zunächst die Zeit vor Dresden und die Verhältnisse, aus denen Wagner kam.
Pariser Notjahre
Wagner arbeitete 1835 an der Oper Das Liebesverbot und leitete die zweite Magdeburger Spielzeit. Über Berlin reiste Wagner nach Königsberg, wo er am 24. November Minna Planer heiratete, die dort als Schauspielerin engagiert war. Am 1. April 1837 wurde er Musikdirektor in Königsberg. Der Theaterbetrieb brach allerdings kurz darauf wegen Bankrotts der Direktion zusammen. Wagner war es gewohnt, über seine Verhältnisse zu leben und ansässige Bürger um Darlehen zu bitten, die er nicht zurückzahlen konnte, daher von Gülke etwas ironisch auch als „Pumpgenie“ bezeichnet, ein Begriff, der auf Thomas Mann zurückgeht. Im Juni 1837 erlangte er eine Kapellmeisterstelle in Riga, wo er sich zunächst vor seinen preußischen Gläubigern in Sicherheit brachte. Hier entstanden der Text und der Beginn der Partitur seiner ersten Erfolgsoper Rienzi. Wagner lernte hier auch Wilhelm Hauffs Märchen vom Gespensterschiff mit dem Holländer-Stoff kennen, den er mit dem 1834 erschienenen Fragment Memoiren des Herren von Schnabelewopski von Heinrich Heine erweiterte.
Bereits 1839 verlor Wagner seine Stellung in Riga wieder. Aus Furcht vor seinen Gläubigern überschritten seine Frau und er heimlich die russisch-ostpreußische Grenze und fuhren auf dem kleinen Segelschiff Thetis nach London. Die stürmisch verlaufende, mehrfach in norwegischen Häfen unterbrochene und schließlich über vier Wochen dauernde Seefahrt, bei der das Schiff beinahe kenterte, inspirierte ihn erneut für den Stoff des Fliegenden Holländer. Nach kurzem Aufenthalt in London reiste das Paar über Boulogne-sur-Mer, wo Wagner den führenden Pariser Opernkomponisten Giacomo Meyerbeer persönlich kennenlernte, weiter nach Paris.
Wagner verbrachte mit Minna die Jahre 1840 und 1841 bis April 1842 unter ärmlichen wirtschaftlichen Bedingungen in Paris. Laut Gülke habe Wagner diese Zeit später etwas zu sehr als „Notjahre“ dargestellt, was zu der nachfolgenden Stilisierung durch Cosima Wagner gut passte. Wagner vollendete dort 1840 den Rienzi und schrieb und komponierte 1841 den Fliegenden Holländer. Um sich und seine Frau ernähren zu können, verfasste er Artikel für diverse Journale und erledigte musikalische Lohnarbeiten. Er lernte Heinrich Heine und Franz Liszt kennen. Aus Geldnot musste er sogar den Prosaentwurf zum Fliegenden Holländer unter dem Titel Le vaisseau fantôme für 500 Francs an die Pariser Oper verkaufen, die den Kompositionsauftrag an ihren Hauskomponisten Pierre-Louis Dietsch vergab – was Wagner indes nicht davon abhielt, seine Idee selbst auszuführen und in Musik zu setzen. Gülke bezeichnet das als Wagners „wunderbare Unfähigkeit, mit Geld umzugehen.“ Ein Umstand, der Wagner sein ganzes Leben begleiten sollte. In Paris setzte er sich mehr und mehr mit den politischen Vorgängen in Frankreich auseinander. Während ihn in jungen Jahren die Gräuel der Französischen Revolution „mit aufrichtigem Abscheu gegen ihre Helden“ erfüllt hatten, wie er in Mein Leben schrieb, reagierte er ganz anders, als Lafayette die liberale Opposition in Paris anführte. „Die geschichtliche Welt begann für mich von diesem Tage an; und natürlich nahm ich volle Partei für die Revolution, die sich mir nun unter der Form eines mutigen und siegreichen Volkskampfes, frei von allen den Flecken der schrecklichen Auswüchse der ersten französischen Revolution darstellte.“ Für Gülke ist Wagner ein echter Revolutionär, da „gäbe es keine Zweifel“. In diese Zeit fiel auch neben der Beschäftigung mit der Literatur Heines und den kommunistischen Thesen Weitlings die Auseinandersetzung mit Ludwig Feuerbachs religionskritischer Philosophie und den Theorien des französischen Frühsozialisten und frühen Theoretikers des modernen Anarchismus Pierre-Joseph Proudhon. Vor allem die Formulierung Proudhons zur Frage: „Was ist Eigentum?“ beschäftigte Wagner zeitlebens: „Solange Eigentum Privilegien birgt, solange bedeutet privilegiertes – also erpresserisches – Eigentum Diebstahl.“ Diese Einstellung wurde vor allem in seinem Ring des Nibelungen ein roter Faden, hervorragend im „Jahrhundertring“ von Patrice Chereau auf die Bühne gebracht.
Achsenzeit
Im Frühjahr 1842 erhielt Wagner von der Dresdner Hofoper die Nachricht, dass man seine neue Oper Rienzi aufführen wolle. Nachdem es ihm in Paris nicht gelungen war, seine künstlerischen Pläne voranzubringen und dort Erfolg zu haben, verließ er die Stadt im April 1842 und zog nach Dresden um. Die Uraufführung des Rienzi fand am 20. Oktober in Dresden statt. Sie war ein großer Erfolg und bedeutete den künstlerischen Durchbruch des jungen Wagner. Etwa zur gleichen Zeit wurde Franz Liszt Hofkapellmeister in Weimar. Wagner konnte in Dresden dann am 2. Januar 1843 auch seine Oper Der Fliegende Holländer zur Uraufführung bringen. Am 2. Februar wurde er zum Königlich-Sächsischen Kapellmeister an der Dresdner Hofoper ernannt, allerdings war er dort nicht der einzige Kapellmeister. August Röckel, mit dem ihn eine tiefer gehende Freundschaft verband, und der mit ihm gemeinsam in Dresden 1849 auf die Barrikaden gehen sollte, war zu dieser Zeit ebenfalls Kapellmeister. Röckels Vater wirkte übrigens als Sänger des Florestan in der Uraufführung der zweiten Fassung von Beethovens Fidelio mit. In dieser Zeit beschäftigte sich Wagner nun intensiv mit den deutschen Sagen, vor allem dem Nibelungen- und dem Gral-Mythos, und begann mit der Konzeption seiner Oper Lohengrin. Aber auch mit Tristan beschäftigt sich Wagner schon zu dieser Zeit, wie laut Gülke neuste wissenschaftliche Erkenntnisse belegen. In Dresden leitete er am 19. Oktober die Uraufführung seines Tannhäuser. Wagner dirigierte 1846 Beethovens 9. Symphonie, die schon in seiner Pariser Zeit für ihn sehr bedeutungsvoll war. Dann begann er im Sommer, während eines dreimonatigen Urlaubs in Graupa nahe Dresden, mit der Komposition des Lohengrin. Um sich Anregungen für eine Theaterreform zu holen, reiste Wagner im Sommer 1848 nach Wien, doch dieser Aufenthalt war nicht von nachhaltigem Erfolg geprägt. Anschließend schloss er sich in Dresden den im Zuge der Märzrevolution verstärkten republikanischen Reformbestrebungen in Sachsen an und lernte dabei auch den russischen Anarchisten Michail Bakunin kennen. Wagner bemühte sich um eine Theaterreform am Hoftheater und entwickelte seine Idealvorstellungen über den Stellenwert der Kunst in der Gesellschaft. Er veröffentlichte einige Beiträge in den Volksblättern seines Freundes August Röckel, unter anderem die Schrift Die Revolution. Zur gleichen Zeit entstand seine Abhandlung Die Wibelungen, Weltgeschichte aus der Sage, eine Vorstufe zu seinem Hauptwerk Der Ring des Nibelungen, dessen Konzeption mit dem Siegfried gleichzeitig entstand.
Wort und Musik
Ein weiterer Schwerpunkt in Gülkes Vortrag ist das Nebeneinander von Musik und Text bei Wagner. In Bezug auf seine Frühwerke attestiert Gülke, dass er in der literarischen Disziplin besser als im Kompositorischen gewesen sei. Sein Schaffen sei aber ein lebenslanger Lernprozess bin hin zum Parsifal gewesen. Die „Dialektik zwischen szenischer Vorstellung und musikalischer Imagination ist eine ständig wechselseitige,“ sagt Gülke. Darunter falle auch die Überlegung, die „Senta-Ballade“ im Fliegenden Holländer noch einmal neu zu schreiben. Zu dieser Zeit war es unüblich, dass ein Komponist auch sein eigener Librettist war, dementsprechend wurden die Texte Wagners oft kritisch beäugt, und das gilt bis in die heutige Zeit. Gülke führt da als Beispiel den Beginn des Rheingold an, wenn Woglinde singt: „Weia! Waga! Woge, du Welle, walle zur Wiege! Wagala weia! Wallala, weiala weia!“ Diese von Gülke als „kindtümlich“ bezeichnete Stelle ist aber die prosaische Umsetzung der Musik. Dazu passt ein Ausspruch Wagners, den Gülke zitiert: „Ehe ich daran gehe, einen Vers zu machen, ja eine Szene zu entwerfen, bin ich bereits vom musikalischen Dufte meiner Schöpfung berauscht. Ich habe alle Töne, alle charakteristischen Motive im Kopfe, so dass, wenn da die Verse fertig und die Szenen geordnet sind, für mich die eigentliche Oper ebenfalls schon fertig ist, und die musikalische Behandlung mehr eine ruhige und besonnene Nacharbeit ist, der der Moment des eigentlichen Produzierens schon vorangegangen ist.“ Für Gülke ist die Formulierung eine allerdings etwas übertriebene Darstellung. Bevor Gülke auf Wagners Rolle als Revolutionär während des Dresdner Maiaufstandes zu sprechen kommt, gibt es eine musikalische Darbietung von einem Überraschungsgast.
Unter die Haut gehender Gesangsvortrag
Thomas Jesatko, geboren in Nürnberg und ehemaliger Stipendiat des hiesigen Richard-Wagner-Verbandes, schaut vorbei. Jesatko studierte in seiner Heimatstadt und in München Gesang. Seit 1997 ist er fest am Nationaltheater Mannheim engagiert und hat dort fast alle Wagner-Partien seines Fachs gesungen. In Bayreuth war er als Biterolf und Klingsor zu erleben, zuletzt hatte er als Gast bei der Nürnberger Premiere Die Frau ohne Schatten von Richard Strauss in der Partie des Barak begeistert, O-Ton berichtete. An diesem Nachmittag präsentiert er die beiden großen Lieder des Wolfram von Eschenbach aus Wagners Tannhäuser, eine Partie, die Jesatko bisher auf der Bühne noch nicht gesungen hat. Er beginnt mit Blick ich umher in diesem edlen Kreise aus dem zweiten Aufzug, das er sehr lyrisch und gefühlvoll interpretiert. Wolframs berückendes Lied an den Abendstern aus dem dritten Aufzug des Tannhäuser Wie Todesahnung, Dämm’rung deckt die Lande – O du mein holder Abendstern gelingt ihm noch inniger, noch intimer, ohne die Dramatik, die in diesem Lied steckt, zu vernachlässigen. Es ist ein unter die Haut gehender gesanglicher Vortrag, gefühlvoll am Flügel begleitet von der Pianistin Nelli Lipkina, und eine Veredlung des ohnehin sich schon auf höchstem Niveau bewegenden Vortrages von Peter Gülke.
Der Theaterpraktiker
Bevor Gülke im letzten Teil seines Vortrags auf den Revolutionär Wagner zusprechen kommt, geht er noch auf den Theaterpraktiker ein und spannt dabei einen Bogen, der weit über das Dresdner Wirken hinausgeht. Gudrun Volkert, auch eine große Wagner-Sängerin, hatte unter Gülke einst die Isolde gesungen und ihn gefragt, warum am Schluss eigentlich Isolde so abrupt stirbt. Und Gülke hatte dafür eine ganz simple Begründung: „Du stirbst in die Musik hinein.“ Gülke spricht dann über die „ersichtlich gewordenen Taten der Musik“ am Beispiel von Wotans Abschied von Brünnhilde und dem Feuerzauber, dem Schluss der Walküre und schließt diesen Abschnitt mit den Worten: „Die Musik will es so!“ Es folgt noch eine Analyse der Gralserzählung und ein Rückblick auf die Kompositionsgeschichte des Lohengrin, den Wagner im Übrigen mit dem dritten Aufzug begonnen hat.
Der Revolutionär
Im Frühjahr 1849 beteiligte sich Wagner aktiv am Dresdner Maiaufstand. Nach der Niederschlagung der Volksunruhen wurde er wie auch seine Freunde Gottfried Semper und August Röckel von der Polizei steckbrieflich gesucht und sah sich gezwungen zu fliehen. Im Freundes- und Mitarbeiterkreis spielte er seine Beteiligung am Dresdner Aufstand allerdings herunter. Gülke betont, dass Wagner ein echter Revolutionär war und im wahrsten Sinne des Wortes auf die Barrikaden kletterte und sich aktiv am Aufstand beteiligte und deshalb auch steckbrieflich gesucht und verfolgt wurde. Während Wagner erfolgreich fliehen und einer Strafe entgehen konnte, verbüßte sein Freund und Kollege August Röckel viele Jahre Haft in einem Dresdner Zuchthaus. Gülke zitiert zu dieser Thematik noch aus einigen Briefen und Schriften Wagners und kommentiert dessen Auffassung als „radikaler als das Kommunistische Manifest.“
Gülke springt noch einmal in der Lebensbiografie Wagners und kommt auf einen ganz dunklen Punkt Wagners zu sprechen, nämlich der Schrift Das Judenthum in der Musik. Dabei handelt es sich um einen antisemitischen Aufsatz Richard Wagners, den er 1850 während seines Aufenthalts in Zürich schrieb. Am 3. und 9. September 1850 erschien er in der von Franz Brendel redigierten Neuen Zeitschrift für Musik unter dem Pseudonym Karl Freigedank. 1869 veröffentlichte Wagner den Aufsatz stark erweitert als eigenständige Broschüre unter seinem Namen. Insbesondere der Komponist Giacomo Meyerbeer, der Wagner in dessen Pariser Jahren uneigennützig unterstützt hat, wird hier zum Opfer der Schmähungen.
Nach knapp anderthalb Stunden, nur unterbrochen durch die musikalische Darbietung von Thomas Jesatko, ist dieser tiefgreifende und deutlich über die Dresdner Jahre hinausgehende Vortrag über das Schaffen Richard Wagners in Wort und Musik vorbei, und die Zuhörer danken es dem Altmeister Peter Gülke mit langanhaltendem Applaus. Unter den Zuhörern ist auch der Tenor Andreas Conrad, der extra wegen Gülke aus Berlin angereist ist, weil er schon als junger Student den Ausführungen Gülkes gelauscht hat. Conrad, der in Dresden aufwuchs und dem Kreuzchor angehörte, studierte Gesang bei Marianne Fischer-Kupfer an der Musikhochschule Carl Maria von Weber in Dresden. Nach drei Jahren im Opernstudio der Dresdner Staatsoper wurde er 1984 an die Komische Oper Berlin engagiert, der er bis 2007 verbunden blieb. Hier verkörperte er alle wichtigen Partien des Spiel- und Charakterfachs und wurde 1998 zum Berliner Kammersänger ernannt. Bei den Bayreuther Festspielen sang er Mime in Rheingold und Siegfried.
Nach dem Vortrag gibt es eine kleine Runde im benachbarten Restaurant, in der Gülke, Jesatko und Conrad die Themen des Vortrages noch einmal vertiefen, garniert mit herrlichen Anekdoten und Schnurren aus dem Künstlerleben der drei Persönlichkeiten.
Andreas H. Hölscher