O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Pedro Malinowski

Aktuelle Aufführungen

Metapher des Unsagbaren

DIE FRAU OHNE SCHATTEN
(Richard Strauss)

Besuch am
2. Oktober 2022
(Premiere)

 

Staatstheater Nürnberg

Es ist wohl die komplexeste und musikalisch anspruchsvollste Oper von Richard Strauss und seinem Librettisten Hugo von Hofmannsthal, manche sprechen gar vom „Mount Everest“ der Oper. Das Werk, als eine Art Fortsetzung von Mozarts Zauberflöte konzipiert und vom Komponisten selbst als sein Hauptwerk bezeichnet, ist ein symbolistisch aufgeladenes Märchen. Und dennoch ist die Problematik, die Strauss und Hofmannsthal in dieser Oper entwickeln, heute aktueller denn je. Die Handlung erscheint auf den ersten Blick verworren, ja surreal. Die Vorgeschichte scheint wie aus einem Märchen der Gebrüder Grimm entsprungen zu sein. Auf der Jagd erlegt der Kaiser eine Gazelle. Sie verwandelt sich in eine junge Frau, in die er sich verliebt und die er zur Gattin nimmt: Es ist die Tochter des Geisterkönigs Keikobad. Sie selbst wandelt in einer Zwischenwelt: Sie ist halb Geist, halb Mensch. Und sie wirft keinen Schatten – die biblische Metapher für Unfruchtbarkeit. Wie ein Damokles-Schwert hängt die Zukunft über ihr: Wird sie nicht eine vollkommene menschliche Frau mit einem Schatten, wird der Kaiser zu Stein. Schließlich bleiben nur noch drei Tage übrig. Der Kaiser, der die drohende Gefahr nicht kennt, bricht wieder zur Jagd auf. Im Geheimen begibt sich die Kaiserin mit der Amme in die Menschenwelt, um dort einen Schatten zu gewinnen.

Sie kehren ins Haus des Färbers Barak und seiner Frau ein: Dort herrscht Armut, das Ehepaar lebt mit den Brüdern Baraks zusammen und hat keine Kinder. Die Färberin, unzufrieden mit ihrem Leben und mit ihrem Mann, lässt sich durch versprochenen Reichtum verführen und ist bereit, ihren Schatten der Kaiserin zu überlassen, dann aber könnte die Färberin niemals Mutter werden. Anfangs begehrt sie einen schönen, von der Amme herbeigezauberten jungen Mann, doch ihr Gewissen hindert sie daran, Barak, der sie über alles liebt, tatsächlich zu betrügen. Aufgewühlt gesteht sie ihm das Vorgefallene. Für Barak, dessen einziges Ziel das Glück einer großen, innigen Familie ist, bricht eine Welt zusammen. Mordlust steigt in ihm auf. In diesem Augenblick versinkt ihre Welt und beide befinden sich getrennt in einem steinernen Gewölbe. Reue ergreift das Ehepaar, sie erkennen aufs Neue ihre Liebe zueinander.

Der Kaiser wiederum meint, von der Kaiserin betrogen worden zu sein und will ihren Tod. Doch selbst im Zorn vermag er nicht seine Frau zu töten. Die Kaiserin erkennt, dass ihr Glück nur über das Unglück der anderen – Barak und seiner Frau – zu erlangen wäre. Sie entscheidet sich gegen das eigene Wohl und trinkt das zaubermächtige Lebenswasser, das ihr den Schatten der Färberin sichert und damit den Kaiser vor der Versteinerung rettet, nicht. Sie hat damit die Prüfung aufs Mensch-Sein bestanden, da sie nun Empathie und Mitgefühl für andere zeigt und ihr persönliches Glück hinter jenes anderer stellt. Durch die Erlangung der Menschlichkeit gewinnt sie einen Schatten – und der Kaiser, den sie liebt, wird ebenso wie das Färberpaar gerettet. Dem triumphalen Schlussjubel klingen die Stimmen der noch ungeborenen Kinder leise nach.

Foto © Pedro Malinowski

Dieses so farbig schillernde musikalische Märchen berührt am Schluss durch seine tiefe Humanität. Vor dem Hintergrund des Endes des Ersten Weltkriegs und eines sich wandelnden Frauenbildes zeigt die Oper mit der Frage nach Mutterschaft eine auch heute hochbrisante Thematik auf. Doch genau dieses Thema und das Frauenbild dieser Oper scheint vielen heute nicht mehr zeitgerecht, so dass die Oper nur noch selten auf den Spielplänen zu finden ist. Wenn man allerdings diesen Maßstab anlegt, dürfte mehr als die Hälfte der bekannten Opernliteratur nicht mehr gespielt werden. Eine weitere Herausforderung ist die orchester- und stimmgewaltige Besetzung, die die Oper fordert, und in vielen kleinen und mittleren Häusern als nicht spielbar gilt. Das Staatstheater Nürnberg hat sich nun in mehrjähriger Vorbereitung an das Werk getraut, und Intendant Jens-Daniel Herzog persönlich hat die Regie übernommen. Allerdings musste Herzog vor der Aufführung bekanntgeben, dass trotz strengem Oktoberfestverbot, diesen Seitenhieb von Nürnberg nach München konnte er sich wohl nicht verkneifen, die Darstellerin der Kaiserin, Ilia Papandreou, akut an Corona erkrankt sei. Mit Agnieszka Hauzer vom Theater Kiel konnte kurzfristig eine im lyrisch bis jugendlich-dramatischen Fach erfahrene Sopranistin gefunden werden. Schon vorher war bekannt geworden, dass Sangmin Lee, der die Rolle des Barak übernehmen sollte, ebenfalls akut erkrankt ist. Für diese Rolle konnte der Bassbariton Thomas Jesatko vom Nationaltheater Mannheim gewonnen werden.

Herzog setzt in seiner Inszenierung auf ein transparentes Begreifbarmachen der komplexen Handlung. Verortet ist die Inszenierung vom Bühnenbild und den Kostümen her eher in die heutige Zeit, aber von der Personenregie doch eher konventionell und manchmal etwas statisch. Das Bild ist eine offene Drehbühne, auf der die Hauptelemente verschoben werden können oder durch eine Art Leinwand abgetrennt werden. Zu Beginn sieht man das Falknerhaus, ein Wohnwagentrailer aus Holz, als Schatten auf der Leinwand, hinter einem videoprojizierten Wald. Besonders märchenhaft wird es, wenn sich vom Dach des Trailers als großer Falke entfaltet, in blutrotes Licht getaucht.

Das Haus des Färberpaars sind zwei offene weiße Kästen mit transparentem Vorhang an der Rückseite, im Hintergrund sieht man Tische und Stühle, an denen die Brüder Baraks sitzen und sich nichtsnutzig die Zeit vertreiben, gerne auch mal mit einer angedeuteten Vergewaltigung der Färberin. Je nach Szene wird das Bild durch Verschiebung der Drehbühne verändert und durch Licht und Video verstärkt.

Johannes Schütz konzipierte das Bühnenbild, Kai Luczaks Lichtregie und die Videoinstallationen von Matthias Neuenhofer verleihen dem Bild immer wieder auch eine surreale Aura. Die Kostüme von Sibylle Gädeke sind eher zeitlos, deren Farben vor allem die Hauptfiguren kennzeichnen. Das prominente Gold für die Kaiserin, das leuchtende Rot für die Färberin, und Blau-Grau für die Amme. Der Jüngling, der die Färberin verführen soll, ist in einem goldfarbenen Ganzkörperanzug aus Latex gekleidet und wirkt eher wie eine lebendig gewordene Oscar-Statue als ein Adonis.

Der Hauptfokus in der Personenregie Herzogs liegt in den verschiedenen Beziehungsgeflechten der Protagonisten. Einmal ist es das ambivalente Verhältnis des Färberpaares, bei der sich die Färberin nach dreieinhalb Jahren Ehe ohne Kinder ihrem Mann sexuell verweigert, dann aber zeigt er auf, dass die Kaiserin wohl mehr als bloß Mitleid mit dem von der Färberin attackierten Barak empfindet und ihr eigenes Wohl und Glück und das des versteinerten Kaisers dem Schicksal der Färberin unterordnet. Wie die Spinne im Netz agiert die Amme, die einerseits zurück ins Geisterreich will und daher überhaupt kein Interesse daran hat, dass die Kaiserin einen Schatten bekommt. Andererseits ist sie verpflichtet, der Kaiserin zu dienen und ihr zu helfen. An diesem inneren Konflikt scheitert sie am Schluss, da ihr das Schicksal des Färberpaares völlig egal ist, und so wird sie von der Kaiserin und dem Geisterboten ins Nichts geschickt.  Doch wie in einem guten Märchen üblich, wendet sich alles am Ende zum Guten, und zwei glückliche Paare stimmen in einen hymnischen Freudengesang ein. Die ungeborenen Kinder, die im Hintergrund wie die anderen Protagonisten den Fortgang des Märchens im dritten Aufzug beobachtet haben, reißen am Schluss die Papierleinwand ein, toben und albern herum, bedecken die nun am Boden liegenden Paare mit der Leinwand und verschwinden nach hinten ins Off, ein starkes Bild.

Für Herzog ist Die Frau ohne Schatten ein durchaus modernes Märchen. Es handelt von Menschen, die sich verrannt haben und nach dem Sinn des Lebens suchen, so Herzog. In seiner Rezeption des Werkes im Programmheft schreibt er: „Im Theater, in der Kunst muss es heißen: Wovon du nicht sprechen kannst, darüber musst du eine Geschichte erzählen. Geschichten sind die Metaphern des Ungesagten. Gerade dann, wenn uns die Welt zu entgleiten droht, können sie uns helfen. Das hat Hofmannsthal, der Unmoderne, verstanden und ist deshalb bis heute modern.“ Es ist Herzog durchaus gelungen, die Metaphern des Unsagbaren als Geschichte auf die Bühne zu bringen und auch den durchaus sperrigen Inhalt transparent und verständlich zu zeigen.

Foto © Pedro Malinowski

Musikalisch und sängerisch erfüllt der Abend die hohe Erwartungshaltung zum Start der neuen Opernsaison. Agnieszka Hauzer gibt mit der Partie der Kaiserin ein überzeugendes Hausdebüt. Ihr jugendlich-dramatischer Sopran ist von einer großen Tragfähigkeit, der mit weit gesponnenen Bögen und leuchtenden Höhen eine lyrische Leichtigkeit erzeugt, und doch von großer Durchschlagskraft ist. Ihre Darstellung ist schonungslos ehrlich und berührt. Ihre Auseinandersetzung mit dem Thema Fruchtbarkeit und ihr letztendlicher Verzicht auf den Schatten verleiht ihr eine besondere Grandezza. Die hochdramatische Partie der Amme, vielleicht eine der größten Herausforderungen für Frauenstimmen, meistert Lioba Braun mit enormer Ausdruckskraft und physischer Präsenz. Ihre Wagner- und Strauss-gestählte Stimme verfügt über den wuchtigen und scharfen Furor in den Ausbrüchen, den die Partie nun mal verlangt. Braun, die vor vier Wochen ihren 65. Geburtstag feiern konnte, hat ein weit gespanntes Register, und die Stimme ist immer noch durchschlagend mit großem Nachdruck. Ihr Ausdrucksrepertoire und die vor allem in der Mittellage variable Stimme verleihen der Figur der Amme eine fast schon dämonische Aura. Ein begeisterndes Rollendebüt gibt Manuela Uhl in der Rolle der Färberin. Sie verfügt über einen tragenden, mittlerweile hochdramatischen Sopran, der alle Facetten der Rolle der Färberin beleuchtet, aber auch ihre Verletzlichkeit und ihre Sehnsüchte zeigt. Leuchtende Strahlkraft in den Höhen, aber auch eine schöne Mittellage charakterisieren ihre Stimme, dazu kommt ihr hochemotionales Spiel, für das sie am Schluss lautstark umjubelt wird. Tadeusz Szlenkier gibt den Kaiser mit schlankem Heldentenor, großer Ausdrucksstärke und dosierter Strahlkraft. Seine musikalische Interpretation lässt die Rolle des Kaisers in einem neuen, ganz menschlichen Antlitz erscheinen und harmoniert stimmvollendet mit Agnieszka Hauzers Sopran. Thomas Jesatko hat fast alle großen Wagner-Partien seines Fachs gesungen, und so erklingt sein Barak wie eine Symbiose des gequälten Amfortas und des verletzten Holländers. Seine Stimme besticht durch ein kräftiges Fundament in der Tiefe und starken Höhen in den dramatischen Ausbrüchen. Sein Ausdruck und sein Gestus, als seine Frau sich ihm verweigert, sind von großer emotionaler Intensität, so dass man seine Seelenqualen förmlich spürt. Auch seine Stimmlage harmoniert bestens mit dem Timbre der Uhl. Samuel Hasselhorn gibt den Geisterboten mit geschmeidigem Bariton. Die vielen kleinen Nebenrollen in diesem Stück sind erstklassig besetzt, und auch Chor und Kinderchor sind von Tarmo Vaask und Philipp Roosz bestens vorbereitet.

Joana Mallwitz, die Generalmusikdirektorin am Pult der Staatsphilharmonie Nürnberg, zeigt an diesem Abend wieder einmal, warum sie immer wieder als Ausnahmedirigentin gefeiert wird.  Was sie aus dem orchestralen Werk, aus dieser sinfonischen Klangmalerei an Schönheit und Tiefgang herausarbeitet, das ist von allerhöchster Güte. Ihr Dirigat ist differenziert, jeder Schlag nachvollziehbar, und sie nimmt große Rücksicht auf die anspruchsvollen Gesangspartien, so dass die Sänger bei ihr im Vordergrund stehen. Doch da, wo das Orchester seine ganze Wucht entfalten kann, breitet sie einen polyphonen Klangteppich aus, der begeistert und den man in dieser Intensität so nur ganz selten hört. Mallwitz kann schwelgen, aber bei Strauss poltert und kracht es schon mal im Orchestergraben, und das beherrscht sie genauso wie die großen kammermusikalischen Momente der Partitur, die sie dann filetiert und punktiert herausarbeitet. Sie gehört zu den wenigen Dirigentinnen, die große symphonische Tondichtung, orchestrale Opulenz und kammermusikalische Intimität an einem Abend gleichermaßen anbieten können. Und die Staatsphilharmonie setzt ihre Vorgaben mit Brillanz und großer orchestraler Klanggewalt um.

Das Publikum feiert nach gut vier Stunden Spielzeit mit großer Begeisterung und Jubel für alle Beteiligten diese Aufführung. Ein einzelner Selbstdarsteller, der mit Verklingen des letzten Tons sein Bravo herausblökt, verhindert, dass man ein paar Sekunden die Emotionen noch nachspüren kann. Vereinzelte Buhs für das Regieteam sollen aber den großen Erfolg dieser Aufführung nicht schmälern, denn es überwiegt der Jubel, der bei Manuela Uhl schon zu einem Orkan anschwillt, und auch Joanna Mallwitz und die Staatsphilharmonie dürfen den verdienten Jubel entgegennehmen. Wer nicht die Möglichkeit hat, sich in Nürnberg eine Folgevorstellung anzuschauen: Für acht Tage kann die Audioübertragung auf BR-Klassik nachgehört werden.

Andreas H. Hölscher