Kulturmagazin mit Charakter
Hintergründe
Gelder zur Entwicklung der Digitalität des Theaters sind auch schon in anderen Häusern geflossen. Von Inhalten, abgesehen von dem einen oder anderen Gimmick, sieht man allerdings bislang wenig. Jetzt hat das Staatstheater Nürnberg die bundesweit erste digitale Spielstätte unter dem originellen Namen Extended Reality Theater eröffnet, die zur nächsten Spielzeit im dritten Obergeschoss des Gebäudes ihre Arbeit aufnehmen wird.
Roman Senkl und Nils Corte – Foto © Nils Lucas
Die Digitalisierung ist ein wesentlicher gesellschaftlicher Transformationsprozess, der uns alle betrifft“, sagt Jan Philipp Gloger, Schauspieldirektor am Staatstheater Nürnberg. „Wenn Theater Gegenwart beschreiben will, muss es hier aktiv mitspielen.“ Ein großes Wort, gelassen ausgesprochen. Was aber ist eigentlich Digitalisierung? Zunächst einmal versteht man darunter wertfrei die Umwandlung physischer Objekte in Formate, die sich „zu einer Verarbeitung oder Speicherung in digitaltechnischen Systemen“ eignen. Als Beispiel soll hier eine Buchseite dienen. Man kann sie „einscannen“, dann steht sie im Computer als Bild zur Verfügung, man kann sie abspeichern. Interessanter ist es, den Inhalt der Buchseite im digitaltechnischen System, also dem Computer, verfügbar zu machen, etwa indem man sie abtippt und sie somit als bearbeitbarer Text zur weiteren Verarbeitung vorhanden ist. Dieses einfache Beispiel kann man jetzt in jeder nur erdenklichen Dimension weiterdenken. Das ist Problem und Chance zugleich. Wo sind die – zum Beispiel ethischen – Grenzen, wo müssen Grenzen des heute Vorstellbaren überschritten werden? Und was bedeutet das für das Theater?
Bislang hat die Kultur dieses Thema geradezu sträflich vernachlässigt. Und läuft damit der Wirklichkeit um Jahre hinterher. Deutlich sichtbar wurde das bei den Auftrittsverboten während der Pandemie. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich kein Stadt- oder Staatstheater, Opernhaus oder Konzertsaal mit der digitalen Welt – heute spricht man von einer erweiterten Wirklichkeit – auch nur ansatzweise auseinandergesetzt. Selbst während der Pandemie, als es entscheidend darum ging, das Publikum an sich zu binden, um es nicht an Streamingdienste zu verlieren, gab es lediglich ein paar taktische Maßnahmen. Alte Filmaufnahmen von Aufführungen wurden unbearbeitet ins Netz gestellt, ein paar Videos gedreht, die teilweise in ihrer Qualität kaum zu unterbieten waren. Hier und da gab es einen virtuellen Konzertsaal oder eine „lustige“ Serie von Videoclips. Nicht einmal andeutungsweise wurde klar, dass irgendein Kulturarbeiter sich mit dem Thema auseinandersetzte. Umso deutlicher die Ablehnung der digitalen Welt. „Das Theater gehört auf die analoge Bühne“, war in dieser Zeit immer wieder zu hören.
Es kam, was kommen musste. Mit dem Ende der Auftrittsverbote erlosch das Interesse der Kulturarbeiter an digitalen Möglichkeiten schlagartig. Trotz finanzieller Anreize aus der Politik, die von ohnehin hochsubventionierten Häusern eingestrichen wurden, ohne dass man davon je wieder gehört hätte, sind die Kulturinstitutionen wieder zur vormaligen täglichen Routine zurückgekehrt, als sei nichts geschehen. Als existierte die digitale Welt außerhalb der Theatermauern überhaupt nicht. Da darf man die Aktion am Theater Augsburg, das 3D-Brillen nach Hause verschickte, um sich dort ausgesuchte Produktionen anzuschauen, schon als historische Großtat werten.
Digitaler Vorstoß in Nürnberg
Schauspieldirektor Jan Philipp Gloger – Foto © Konrad Fersterer
Nun also gibt es den Vorstoß des Nürnberger Staatstheaters. „Mit dem XRT in der dritten Etage des Schauspielhauses schaffen wir am Staatstheater Nürnberg einen einzigartigen Ort für digitale Theaterformen und digitale Schauspielkunst“, erklärt Gloger. XRT steht dabei für Extended Reality Theater. Einmal mehr zeigt sich bei der Namensgebung die Kultur von ihrer fantasielosen und Amerika-lastigen Seite. Extended reality bedeutet erweiterte Wirklichkeit, und theater ist die amerikanische Schreibweise für Theater. Da hätte man sich als Liebhaber der deutschen Sprache auch einen aufregenderen Namen vorstellen können, um die auserkorenen Zielgruppen anzusprechen. „Dank der eigenen Spielstätte werden virtuelle Welten buchstäblich begreifbar – für ein Stamm- und Stadtpublikum, für eine neu wachsende Community und natürlich auch für eine potenziell sehr junge Zielgruppe“, beschreibt Gloger die Menschen, die er mit dem Projekt in Zukunft erreichen möchte.
Um das Vorhaben umzusetzen, reicht es nicht, eine neue Spielstätte einzurichten, die in der nächsten Saison in Betrieb gehen und etwa 100 Besuchern Platz bieten wird. Intendant Jens-Daniel Herzog hat deshalb den Regisseur und Autor Roman Senkl und den Programmierer und Autor Nils Corte verpflichtet. Damit kommen nach Aussage des Theaters „zwei Digitaltheatermacher der ersten Stunde“ nach Nürnberg. Seit mehr als 15 Jahren loten die beiden die Möglichkeiten des Theaters in einer sich digital transformierenden Welt aus, ist zu hören. „Die Digitalisierung erschafft neue Technologien, die großen Einfluss darauf haben, wie wir arbeiten, kommunizieren und zusammenleben. Im XRT wollen wir mit diesen Technologien spielen und uns mit ihren Möglichkeiten, aber auch ihren Gefahren künstlerisch auseinandersetzen“, sagt Corte. Dazu sollen auch Gäste eingeladen werden, wie etwa die Regisseurin Cosmea Spelleken und das Kollektiv CyberRäuber, die in der kommenden Spielzeit originäre Produktionen für das XRT erarbeiten. Das Umfeld stimmt bereits. Denn die Spielstätte im dritten Stock des Theaters wird mit so ziemlich allem ausgestattet, was erforderlich ist, um Theater der Zukunft zu gestalten. LED-Leinwand für virtuelle Bühnenbilder, Live-Tracking- und Motion-Capturing-Systeme sind nur einige der Techniken, mit denen sich die Kulturarbeiter auseinandersetzen können. Und dann auch entscheiden müssen, mit welchen dieser Techniken sich auch die Zuschauer befassen müssen. „Der hybride Bühnenraum ermöglicht es uns, die oftmals unsichtbaren Verbindungslinien zwischen Algorithmen und Alltag erfahrbar zu machen“, erklärt Senkl. „Im XRT wollen wir die Wirklichkeit, in der Digitales und Analoges längst vielschichtig miteinander verknüpft sind, reflektieren, gestalten und bespielen. Und das Ganze soll natürlich auch Lust und neugierig machen.“
Corte und Senkl kennen das Nürnberger Staatstheater bereits aus der Spielzeit 2021/22. Damals experimentierten sie mit Motion Capturing, einem Prozess, bei dem die physischen Bewegungen des Schauspielers erfasst und anschließend anhand digitaler Figurenmodelle nachgebildet werden. Diese Erfahrungen werden sie mit Mythos P.A.N. weiter entwickeln, einem Theaterprojekt, das am 23. Juni die Spielstätte offiziell in Betrieb nehmen soll. Damit wird die Beschäftigung des Theaters mit der Digitalisierung, die nach eigenen Angaben bereits seit fünf Jahren währt, einen vorläufigen Höhepunkt erleben. „Die Gründung des XRT ist eine logische Weiterentwicklung unserer Digitalstrategie und ein spannendes Angebot an unser Publikum“, ist deshalb Intendant Herzog überzeugt.
Michael S. Zerban