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Kulturmagazin mit Charakter

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Hintergründe

Ein Kessel Buntes

Wenn eine Intendanz wechselt, bedeutet das nicht nur, dass eine Person neu im Theater anfängt, sondern dass eine neue Clique Einzug hält. Das ist bei Marie Johannsen nicht anders. Zur kommenden Spielzeit löst sie Caroline Stolz ab, die das Rheinische Landestheater Neuss dann fünf Jahre geleitet haben wird. Jetzt hat Johannsen mit ihrem neuen Leitungsteam vorgestellt, was sich alles ändern soll. Und das scheint eine ganze Menge zu sein.

Dirk Schirdewahn, Melanie Schulze, Stefan Herfurth und Marie Johannsen – Foto © O-Ton

Marie Johannsen ist in Balingen bei Stuttgart geboren. Ihr Studium der Theater-, Film- und Medienwissenschaft absolvierte sie an der Universität Wien. Seither arbeitet sie als Dramaturgin an verschiedenen Theatern. Elf verzeichnet sie bislang auf ihrer Liste. Auch am Rheinischen Landestheater Neuss war sie bereits als Dramaturgin beschäftigt. Vom August 2018 bis zum Juni des darauffolgenden Jahres. Dann begann Caroline Stolz ihre Intendanz am Landestheater und brachte ihre eigenen Freunde mit. Johannsen kam bei Uwe Eric Laufenberg in Wiesbaden unter. Zur kommenden Spielzeit kehrt sie als Intendantin nach Neuss zurück. Mit ihren 32 Jahren ist sie dann wohl die jüngste Intendantin Deutschlands.

Üblicherweise wird eine neue Intendanz mit ihrem Leitungsteam zunächst im Rahmen einer Pressekonferenz vorgestellt. Das hat gute Gründe. Johannsen überspringt den Schritt und lädt interessierte Bürger am Samstagnachmittag zu einer Veranstaltung im Foyer des Theaters ein, auch Pressevertretern wird der Eintritt nicht verwehrt. Dort ist eine Bühne aufgebaut. Die Stuhlreihen davor sind voll besetzt. An ihrer Seite ist Dirk Schirdewahn als designierter Stellvertretender Intendant und Hausregisseur. In Castrop-Rauxel geboren, studierte er Soziale Arbeit, Schwerpunkt Kulturpädagogik, in München. Aktuell ist er Leiter des Jungen Staatstheaters Wiesbaden. Chefdramaturg im neuen Team wird Stefan Herfurth. Er ist in Leipzig geboren und wuchs in Neu-Ulm auf. Sein Studium der Dramaturgie absolvierte er an der Theaterakademie August Everding und der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Derzeit ist er in der Kommunikationsabteilung der Theaterakademie August Everding beschäftigt. „Demnächst wird man ja in Bayern nicht mehr alles sagen dürfen, deshalb war es für mich Zeit zu gehen“, stellt er sich dem Publikum vor. Wäre also seine Entscheidung anders ausgefallen, wenn er wüsste, dass auch die Neusser Bevölkerung eine ideologische Geschlechtersprache zu mehr als drei Vierteln ablehnt? Fragen sind bei dieser Veranstaltung aber zunächst einmal nicht vorgesehen. Nicht zuletzt stellt sich Melanie Schulze als Dramaturgin und Mitarbeiterin Presse vor. Vertragsrechtlich hätte man, erläutert Johannsen, dem Ensemble kündigen können, habe sich aber dazu entschlossen, den Schauspielern stattdessen eine Weiterbeschäftigung anzubieten. Zehn Mitglieder des bestehenden Ensembles haben dem zugestimmt. Ein echter Schlag ins Kontor bedeutet für die neue Leitung, dass Antonia Schirmeister, Galionsfigur des alten Ensembles, einer Weiterbeschäftigung nicht zugestimmt hat. Sie kam 2019 nach Neuss und entwickelte sich als Regisseurin, Schauspielerin und Sängerin schnell zum Publikumsliebling. Wer sie in Neuss noch erleben will, sollte eine Aufführung von La Grande Dame besuchen.

Kleines Spiel für große Stücke

Neben viel Werbung gibt es auch musikalische Einlagen – Foto © O-Ton

Apropos Aufführungen. In kurzen Spielszenen weisen die Schauspieler auf die als Höhepunkte von der Intendanz angesehenen Stücke hin. Für Verwirrung sorgt vorübergehend der Hinweis auf die Hildensaga. Nein, es handelt sich nicht um den Ort im Rheinland, der zwar geografisch recht nahe liegt, aber mit dem Stück keine Berührungspunkte aufweist. Vielmehr geht es um eine Neuinterpretation des Nibelungenliedes von Ferdinand Schmalz in einer Inszenierung von Sebastian Sommer. Gemeint sind dementsprechend Brünhild und Kriemhild. Wenn man’s weiß … Im musikalischen Bereich bleibt es mit der Zauberflöte, die als deutsche Erstaufführung in einer Fassung von Nils Strunk und Lukas Schrenk Ende September gezeigt oder besser zu Gehör gebracht werden soll. Dann wird Mozart eher nach „Falco, Queen, den Beatles oder Adele“ klingen. Sonne und Beton wird eine Uraufführung nach dem Roman von Felix Lobrecht in einer Fassung von Adewale Teodros Adebisi, der auch die Regie führt. Es ist die Geschichte „von einem Großteil der Jugendlichen, die in runtergerockten und unterfinanzierten Schulen versauern, in Plattenbauten abhängen und einfach nur hoffen, dass die Eltern gegen Monatsende nicht ganz so viele Sorgenfalten haben“, sagt Lobrecht. Auch Komödie ist vorgesehen. Mord im Schützenverein gibt es zwar eigentlich noch gar nicht, wird aber dann zum März kommenden Jahres von David Gieselmann geschrieben und von Clemens Bechtel inszeniert sein. Ein Stück, das „auf dem Spielfeld“ gezeigt werden wird. So will das neue Team künftig das obere Foyer nennen. Die Studiobühne im Keller des Theaters soll zukünftig Kleine Bühne heißen. Hier soll mit On the Road Again eine weitere Uraufführung im November gezeigt werden, die als „multimediale Lyrik-Performance“ von Björn Heyer der Dichtkunst wieder Raum verschaffen soll. Ebenfalls auf der Kleinen Bühne, aber dann erst im April kommenden Jahres ist das Schauspiel Himmelwärts von Karen Köhler in der Inszenierung von Frances van Boeckel geplant, „eine wundervolle und kraftspendende Geschichte über den Verlust eines Menschen und die Schönheit des Lebens“. Mehr Auskünfte zum Programm sind dem Spielzeitheft zu entnehmen, das sich zwar nicht um Rechtschreibregeln kümmert, aber von einem neuen Logo geziert wird, das die neue Strategie versinnbildlichen will. In Zukunft soll das „Rheinische“ in den Mittelpunkt der Wahrnehmung rücken. Johannsen versteht darunter Lebensfreude, „das Anpacken“, Zusammenkommen, gemeinsames Feiern, Frohsinn, Leichtigkeit und Offenheit – „für die Gemeinschaft und all die Herausforderungen, die das Leben einem vor die Nase setzt“ schreibt Johannsen in ihrem Vorwort.

Eigentlich sollten sie schon abgeschafft werden, in diesem Jahr finden sie quasi ohne weitere Erwähnung in der Öffentlichkeit statt, Ende des Jahres sollen sie kraftvoll aus der Asche wiederauferstehen: die Internationalen Tanzwochen. Zukünftig wird das Rheinische Landestheater Neuss dafür seine Bühne zur Verfügung stellen. Kulturamtsleiter Benjamin Reissenberger und die Schul- und Kulturdezernentin Ursula Platen preisen die neue Kooperation in höchsten Tönen. Die „bessere Technik“ im Theater im Vergleich zur Stadthalle Neuss und Doppeltermine statt Einzelaufführungen sollen die Tanzwochen aufwerten. Dass das Theater über eine vergleichsweise kleine Bühne verfügt und wie man damit umgehen will, wird nicht erwähnt. Da siegt die Euphorie angesichts von geplanten Schulvorstellungen und Workshops für Schulen.

Neue Begegnungsstätte für viele Bürger

Kleine Spielszenen machen Lust auf die neuen Stücke – Foto © O-Ton

Auch für andere Dinge soll sich das Theater öffnen. Die Idee ist nicht ganz neu, greift aber allmählich um sich: Künftig soll im oberen Foyer, pardon, auf dem Spielfeld, eine Begegnungsstätte auch außerhalb der Vorstellungszeiten entstehen. Neben Zusatzveranstaltungen bekommt man hier dann Tee und Kaffee. Was das Café im Hause dazu sagt, wird nicht verraten. Wie die Stadtgesellschaft das Angebot annimmt, wird man sehen. In anderen Städten funktioniert das wohl ziemlich gut.

Nach zwei Stunden geht die Veranstaltung, die zwischenzeitlich mit ihrer Werberunde für Abonnements mehr an eine Verkaufsveranstaltung für Heizdecken erinnert – obwohl Kaffee und Kuchen nicht angeboten werden, stattdessen gab es zu Beginn Popcorn, um den Duft der Unterhaltung im Theater zu verbreiten – offiziell zu Ende. Nicht ohne die Einladung der designierten Intendantin, nun mit ihr auf dem Balkon am Tischfußball zu kickern oder danach noch an der Theke das Gespräch zu suchen. Das alles noch in den recht kahlen Räumlichkeiten, aus denen ab September ein Dschungel werden soll, wenn es nach dem Willen von Marie Johannsen geht.

Geballte Vorfreude, das ist es wohl, was das kommende Leitungsteam verbreiten will. Die mag man dahingehend teilen, dass wohl auch in Zukunft in Neuss Theater statt ideologischem Aktivismus, wie er derzeit an vielen Bühnen das Schauspiel ersetzt, stattfinden wird. Was man vermisst, sind – außer einem Sprachcafé – Angebote für eine Bevölkerungsgruppe, die auch in Neuss rasant wächst. Da werden die Menschen aus anderen Sprachkulturen wohl auch weiterhin in ihren eigenen Gemeinschaften verweilen, wenn Johannsen da nicht noch nacharbeitet. Zeit genug bleibt dem künftigen Team bis zum Spielzeitbeginn ja noch.

Michael S. Zerban