O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Hintergründe

Spontan begeistert

Immer häufiger kombinieren Ensembles Konzert- oder Theatervorhaben mit theaterpädagogischen Elementen. Häufig sind das Besuche in den Schulen, in denen es mit der musikalischen Versorgung ohnehin mau aussieht. Richtig konzipiert, bringt das für alle Beteiligten jede Menge Spaß – und auch neue Erkenntnisse. Jetzt haben Christian Binde und sein Team ein solches Projekt in Mettmann aufgelegt. Schule, Schüler und Musiker sind begeistert.

Frank Rohde und Christian Binde – Foto © O-Ton

Du hast da dieselbe Trennung wie bei normalen Leuten auch. 90 Prozent der Einwohner dieses Planeten finden Oper völlig bescheuert. Das ist aber auch völlig in Ordnung. Ganz legitim. Zehn Prozent gehen da gelegentlich hin, ein Prozent sagt, dass sie das aus irgendeinem Grunde brauchen. Schüler funktionieren genauso. Ich finde, der Job, den wir im Theater oder im Opernhaus haben, ist, ihnen einmal die Gelegenheit zu geben, mit dieser Kunstform konfrontiert zu werden und herauszufinden, gehöre ich zu den 90 Prozent, die das bescheuert finden? Das ist in Ordnung. Oder gehöre ich zu den zehn Prozent, die es interessiert, ich wusste es nur nicht vorher“, sagt Frank Rohde, der es wissen muss. 28 Jahre hat er für die Oper Köln als Theaterpädagoge gearbeitet. 1994 begann er beim kürzlich verstorbenen, damaligen Intendanten Michael Hampe in der Funktion. Und er kann heute auch belegen, dass seine Arbeit notwendig war und ist. „Zu Hampes Zeiten lag die Anzahl der Karten, die wir an unter 19-Jährige verkauft haben, bei zwei Prozent. Jetzt im Moment liegt der Anteil der unter 19-jährigen Besucher der Kölner Oper, und ich spreche hier vom großen Haus, bei 22 Prozent.“

Angesichts katastrophaler Situationen beim Musikunterricht in deutschen Schulen und eines zunehmenden Silbersees in den Aufführungen haben die Theater-, Konzert- und Opernhäuser massiv in den Aufbau von theater- oder konzertpädagogischen Abteilungen investiert. Über die einzelnen Konzepte kann man diskutieren, wenn sie denn mal überhaupt in die Öffentlichkeit getragen werden. Die Kommunikationsfreude dieser Abteilungen hält sich erfahrungsgemäß in Grenzen. Derweil entwickelt sich ein neuer Trend, der sehr viel mehr Breitenwirkung entfalten könnte.

Christian Binde ist Hornist und Leiter des Ensembles Compagnia di Punto. Als er ein neues Schumann-Projekt für sein Ensemble aufsetzte und Förderanträge stellte, war ihm klar, dass es nicht nur ein einfaches Konzert werden würde, sondern dass es auch eine pädagogische Einbindung geben musste. Das war lange, bevor sich die endgültige Form des Konzerts herausschälte. Bevor Robert-Schumann-Lieder nach Heinrich-Heine-Gedichten mit Texten aus Georg Büchners Woyzeck kombiniert werden sollten. Als das Konzept stand, wandte Binde sich an Schulleiter Hanno Grannemann vom Heinrich-Heine-Gymnasium und bot Workshops an. Die beiden kennen sich, schließlich ist Bindes Sohn auf die Schule im Mettmanner Stadtteil Metzkausen gegangen. Das Schöne hier: Die Schule ist recht gut ausgestattet. Kann in der Oberstufe einen Grundkurs, manchmal sogar einen Leistungskurs Musik anbieten. Alsbald bot sich Musiklehrerin Victoria Büscher als Projektleiterin seitens der Schule an. Das Schöne an dem Angebot aus Sicht der Schule: Für die Lehrer würde es keine zusätzliche Arbeit verursachen. Der Woyzeck steht ohnehin auf dem Deutsch-Lehrplan der Oberstufe, Schumann und seine Lieder gehören in das Repertoire des Musikunterrichts, na, und über Heinrich Heine wird an dieser Schule ohnehin gern gesprochen.

Mehr als die Vorbereitung auf ein Konzert

Das dem Schulprojekt zugrundeliegende Konzert trägt den Titel Es treibt mich hin, es treibt mich her und ist für Tenor, Schauspielerin und Kammerensemble ausgelegt. Der Komponist Matthias Schlothfeldt hat das Programm konzipiert und dafür Heine-Lieder von Robert Schumann bearbeitet. Den Liedern hat er Szenenfragmente aus Büchners Woyzeck gegenübergestellt und Musik dazu komponiert. Der Titel ist als Verszeile Heines Buch der Lieder und dort dem Zyklus Junge Leiden entnommen. Als Tenor und Lied-Koryphäe Ian Bostridge und die Schauspielerin Marina Galic von dem Vorhaben erfuhren, waren sie von der ungewöhnlichen Kombination so angetan, dass sie mit Freuden ihre Teilnahme zusagten. Eben in dieser Zusammenstellung szenischer Fragmente aus dem unvollendeten Roman Büchners und der Lieder Schumanns entwickelte Binde leichterdings fünf Workshops für die Oberstufen-Schüler. „Wir wollen, dass die Schüler so vorbereitet in unser Konzert gehen, dass sie das Maximum davon mitnehmen. Dass das nicht an denen vorbeigeht, sondern dass sie wirklich einsteigen können. Dass sie alles nachvollziehen können, was da auf der Bühne passiert“, war der Anspruch des Hornisten.

Herausgekommen sind dabei zwei Musik- und drei Schauspiel-Workshops. Für letztere konnte der Theaterpädagoge Frank Rohde gewonnen werden. Für den ersten Workshop war Binde wichtig, dass die Schüler einen Zugang zu den Instrumenten bekommen. Flötistin Gudrun Knop und Cellist Andreas Müller begleiteten ihn, die auch bei dem Konzert auftreten werden. Im Gepäck hatten die drei kurze Vorträge, die über die Geschichte der Instrumente erzählen, ihre aktuellen Instrumente und Beispiele für deren Vorläufer. So brachte Binde sein Horn, Muschelhörner und Schofarhörner, Müller sein Cello und ein Monochord, ein einsaitiges Zupf- und Streichinstrument, mit, Knop reichte ein Kasten mit leeren Flaschen. Schnell durften die Schüler also nicht nur zuhören, sondern auch zu den Instrumenten greifen. Schlothfeldt ist nicht nur Komponist, sondern auch Musikpädagoge. Seit 2005 wirkt er als Professor an der Folkwang-Universität der Künste. Ihm oblag die Gestaltung des zweiten Workshops. Statt grauer Theorie bekommen die Schüler im Alter von 16 bis 18 Jahren eine konkrete Kompositionsaufgabe. Mit einfachsten Mitteln sollen sie das Märchen im Woyzeck vertonen. Das Verrückte, was sich bei Rhodes Schauspiel-Workshop noch einmal deutlicher zeigen wird: Obwohl es hier keine Noten gibt, niemand Ergebnisse abfragt, sind die Schüler mit Feuereifer dabei.

Erfahrung sammeln statt Wissensvermittlung

Schauspiel-Schüler – Foto © O-Ton

„Du gerätst da in eine andere Position“, erklärt Rohde das Phänomen. „Du bist weg aus dieser Lehrerrolle. Die sind gewohnt, Lehrer steht da, schreibt irgendwas oder macht mit dem Whiteboard oder Smartboard. Und plötzlich ist das nicht mehr so. Sondern die müssen selber machen. Für Schüler bin ich kein Lehrer. Sondern so eine Art von gottgewolltem Experten, egal, ob es stimmt oder nicht. Wenn du das nicht verschenkst, diese Experten- oder Entertainmentstellung, dann reicht es locker für einen sehr schönen Beginn“. Wie das funktioniert, zeigt er kurz darauf. In der Kantine gibt es eine offene Ebene. Dort treffen etwa 30 Schüler mit ihrem Deutschlehrer, Tobias Hanke, ein. Schnell sind die Stühle im Kreis aufgestellt. Rohde, der sich in seiner Zeit bei der Kölner Oper so etwas wie einen Kultstatus erarbeitet hat, hält sich nicht mit Vorreden auf. Im Wesentlichen beschränkt er sich in den kommenden anderthalb Stunden darauf, Anweisungen zu erteilen. In einer Warm-up-Phase, die „selbstverständlich“ nicht als solche benannt wird, müssen die Schüler – Lehrer Hanke macht mit – im Raum herumlaufen, lernen ganz nebenbei, wie man sich im Raum bewegt, in Beziehung zu den Mitschülern setzt und die Wahrnehmung schärft. Anschließend können die Schüler zeigen, wie schauspielerisch begabt sie sind. Rohde liest einen Ausschnitt aus Woyzeck, den er immer wieder mit „Woosh!“ unterbricht, Zeichen für die Schüler, dass ihre Kurskameraden sie beim Rollenspiel ablösen. „Woosh! wird in die Geschichte der Theaterpädagogik eingehen“, wird Rohde später schmunzelnd behaupten. Im letzten Teil werden aus den jungen Leuten gar Regisseure.

Aus den weiter hinten gelegenen Räumen tönt eine permanente Geräuschkulisse, alle Nase lang kommt jemand über den Gang vor der Ebene gelaufen. Das kann einen kirre machen. Die Workshop-Teilnehmer scheinen es gar nicht zu bemerken. Ebenso wenig wie die beiden Kamerafrauen, die das Geschehen aufzeichnen. Das zwischendurch die Schulglocke zur kleinen Pause ruft, nehmen sie offenbar nicht wahr. Gebannt verfolgen sie, wie die Mitschüler ihre Lösungen der Regie-Aufgabe präsentieren. Nachdem anderthalb Stunden wie nichts verflogen sind, gibt es einen kleinen Schlussapplaus. Damit war es das. Rohde verteilt keine Lehrmaterialien, hat keine klugen Ratschläge für die Zukunft. Der Nutzen für die Heranwachsenden liegt nach seiner Erfahrung auf einer ganz anderen Ebene. „Genau diese zwei Schritte nehmen sie mit: Sie erleben eine ganz bestimmte Situation, und die erleben sie live. Persönlich und jeder individuell für sich. Und daraus schöpfen sie möglicherweise eine Erfahrung, erläutert er den tieferen Sinn. Eine Erfahrung, oder, um es ehrlich zu sagen, wie heute ein Bündel an Erfahrungen aus einer Unterrichtsstunde mitzunehmen, ist kein schlechter Gewinn.

Binde und sein Team sind längst kein Einzelfall mehr. Immer häufiger treten neben Kulturinstitutionen auch freischaffende Künstler mit Angeboten an alle Schulformen heran, um jungen Menschen neben dem Lehrplan Kultur zu vermitteln. Das Beispiel zeigt, dass Schulen sich richtig entscheiden, wenn sie solchen Veranstaltungen Raum schenken. Die Workshops der Compagnia di Punto werden den Schülern unvergesslich bleiben, und es wird keinen geben, der das Konzert nicht mit einem geänderten Bewusstsein besuchen wird.

Wer seinen Abend nicht in der Aula eines Schulgebäudes verbringen will, um Ian Bostridge, Marina Garlic und die Compagnia di Punto live zu erleben, hat dazu am 17. Dezember Gelegenheit. Dann findet das Konzert Es treibt mich hin, es treibt mich her im Konzertsaal des Bochumer Folkwang-Theaterzentrums statt.

Michael S. Zerban