O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Hintergründe

Unverkennbarer Stil

Die Burg Linn, fünf Kilometer vom Krefelder Ortskern entfernt, ist berühmt für den Flachsmarkt. Der mittelalterliche Handwerkermarkt ist der größte seiner Art in Deutschland und findet immer am Pfingstwochenende statt. Musik-, speziell Jazz-Liebhaber schätzen die Burg allerdings eher wegen des alljährlich stattfindenden Festivals Jazz an einem Sommerabend, das in der Stadtgesellschaft ungebrochen großen Anklang findet.

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Eine würdige Jubiläumsausgabe von Jazz an einem Sommerabend – tatsächlich sind es bereits vier Jahrzehnte, seit das Open-Air-Festival auf der Krefelder Burg Linn das Licht der Welt erblickte und sich seither als fester Bestandteil im Kulturkalender etabliert hat. Obwohl der diesjährige Sommerabend unter grauem Himmel und bei eher kühlen Temperaturen stattfindet, lassen sich die Jazzliebhaber nicht davon abhalten, sich der Musik hinzugeben. Viele sitzen wie gewohnt auf ausgebreiteten Decken, manche sogar in dicke Schlafsäcke gehüllt, um sich zu wärmen – als Zuhörer muss man eben improvisieren können. Das spiegelt den engagierten Zuspruch wider, den die Stadtgesellschaft in Krefeld für ihr großes, internationales Festival erfährt.

Die Dramaturgie der 40. Ausgabe bringt drei tragende Säulen der Jazz-Gegenwart auf den Punkt: Jazz als Kulturbotschaft für Integration und Toleranz verkörpert vor allem der erste Programmpunkt mit der niederländischen Band Turkish Pumpkin. Unter Leitung des türkischstämmigen Bassisten Esat Ekincioglu vereint die Band die Wildheit des Free Jazz mit den quirligen Rhythmen orientalischer Hochzeiten und Beerdigungen. Die orientalisch angehauchten Improvisationen und die überschlagenden Rhythmen erinnern an eine wilde Tanzperformance und das lebhafte Treiben eines Basars. Insbesondere die weltoffene Szene unseres Nachbarlandes ermöglicht solche kulturellen Verbindungen.

Der zweite Teil des Festivals konzentriert sich auf Jazz als Gegenwartsmusik in einer jungen, sich stetig erneuernden Szene. Das spiegelt sich in der großen Band Metoers des Kölner Bassisten Sebastian Gramss wider, die etwas Konsistentes und Größeres formt und wortwörtlich nach den Sternen greift. Inspiriert von Visionären wie Sun Ra und Karlheinz Stockhausen schafft Gramss mit seiner Formation einen weitläufigen Klangkosmos, der dennoch nie abgehoben wirkt, sondern vor allem durch tiefe und erdige Musikalität besticht. Das zyklisch komponierte Programm lässt viel Raum für Spontaneität und individuellen Selbstausdruck, und das weckt durchaus Fantasiebilder in einer interstellaren und polytonalen Klanglandschaft, in der musikalische Ideen wie funkelnde Himmelskörper ihre Bahn ziehen und in andere Universen hinein strahlen. Shannon Barnett mit ihrem kraftvollen Posaunenspiel beansprucht über weite Strecken das energetische Zentrum, während das Saxofon von Leonhard Huhn für feinen, lyrischen Glanz sorgt. Und auch die vielfach vernetzten Klänge von Synthesizer und Piano von Christian Lorenzen und Philip Zoubek sowie die treibende Rhythmusgruppe mit Dominik Mahing am Schlagzeug komplettieren die intensive Einheit.

Der Stern leuchtet weiter

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Bewusst Jazz hören bedeutet nicht selten, über Jahre hinweg die Entwicklung herausragender Protagonisten zu verfolgen. Louis Sclavis gehörte vor über 30 Jahren zu den Erweckungserlebnissen für die Magie des live gespielten Jazz. Der Fixstern hat nicht aufgehört zu strahlen. Auch diverse Auftritte in Krefeld haben immer wieder die nimmermüde Entwicklung des Weltklasse-Musikers dokumentiert. Seine aktuelle Band India erweist sich zum Finale dieses Sommerabends als eine der stimmigsten Formationen, die Sclavis je auf die Beine gestellt hat. India schöpft lustvoll aus den modalen Strukturen des Subkontinents, nährt in dieser Band aber daraus einem eigenständigen Kosmos. Christophe Lavergne am Schlagzeug, Sarah Murcia am Kontrabass, Benjamin Moussay am Piano und Olivier Laisney an der Trompete können genauso wie ihr generöser Bandleader gar nicht anders, als ständig auf höchstem Niveau Farbe zu bekennen. Sarah Murcias virtuoses Bassspiel und Christophe Lavergnes rhythmische Präzision halten das Ensemble in Krefeld ständig auf Hochspannung. Benjamin Moussay, dessen Akkordfolgen manchmal an Interventionen McCoy Tyners im Coltrane Quartett erinnerten, bereichern das Ganze zusätzlich und freigeistig variabel. Derweil Louis Sclavis mit seinen nie versiegenden Erkundungen im ganzen Tonumfang seiner Bassklarinette und Trompeter Olivier Laisney eine nicht minder aufregende Symbiose eingehen. Das ist wieder „typisch Sclavis“ – und dieser unverkennbare Stil erweist sich in Krefeld als ausgesprochen anschlussfähig.

Stefan Pieper