O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Hintergründe

Lateinamerika – Terra Nova

Eine Sendereihe zum zeitgenössischen Komponieren in Argentinien, Chile, Kolumbien, Uruguay aus der Perspektive der Akteure. Acht Konzerte, acht Sendungen, die kommentieren, kontextualisieren, die sich nach der Sichtweise der anderen erkundigen, sie ernstnehmen. Ernst genommen damit auch der Bildungsauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Öffentlichkeit braucht Hintergrund, braucht Kritik. Das Forum neuer Musik im Deutschlandfunk als Radio-Forum. 30 Tage nachhörbar.

Frank Kämpfer, Redakteur – Foto © T. Kujawinski/Deutschlandradio

Dass der Radio-Sender für Nachrichten in einfacher Sprache in der Simplifizierung nicht aufgeht, ist zunächst einmal die wichtige Nachricht, die hier am Anfang steht, stehen muss. Das Thema, um das es geht, hat Profil. Es schaut nicht nur auf einen Gegen­stand, sondern auch darauf, wie wir darauf schauen. Aufgerufen ist ein musikalisches Lateinamerika jenseits der Klischees, fern der Passepartouts, die wir uns gemacht, der ewig gleichen Namen, die wir uns zurechtgelegt haben. Tango, Latin Percussion bleiben außen vor. Auch in dieser neuen Ausgabe des Forums neuer Musik operieren Musik­redakteur Frank Kämpfer und seine Autoren von der Anspruchshöhe der Kunstmusik, in diesem Fall einer Kunstmusik lateinamerikanischer Provenienz. Auch wenn es niemand so sagt, sagen darf – das große E für ernste Musik wird hier hochgehalten.

Adressiert ist der fortgeschrittene Hörer. Derjenige, dem die „offenen Adern Latein­amerikas“ ebenso wenig Fremdwort sind wie die eurozentrische Rezeptur, die auf Kolorit, auf Würze aus ist. Auch darüber will das Forum neuer Musik hinausgehen, unschwer bereits dem Titel abzulauschen: Con doble mirada mit doppeltem Blick. Angesprochen ist der erwachsene Hörer, der einen komplexen Sachverhalt gerade nicht vereinfacht serviert bekommen, nicht unter seinem Niveau bedient werden möchte, dem es keine Zumutung bedeutet, wenn Konzert Format, wenn Musik Kontext hat, was im Fall des heutigen Lateinamerikas unter der Schwelle eines aufgeklärt-postkolonialen Bewusstseins nicht zu haben ist. Lateinamerika, sagt Frank Kämpfer, gibt es gar nicht, ohne den zurichtenden Blick darauf.

In Kooperation mit dem Goethe-Institut hat das Freiburger Ensemble Recherche, seine traditionelle Neue Musik-Haltung korrigierend, Komponisten aus so genannten Entwicklungs- und Schwellenländern zum Austausch eingeladen. Leonie Reineke verhilft in einer Eröffnungsrunde zu einem orientierenden Überblick. Autor Ingo Dorfmüller pointiert am Beispiel der Komponisten Heitor Villa-Lobos, Alberto Ginastera, Carlos Chavez, Silvestre Revueltas eine eigene Sichtweise. Demnach hat die Öffnung zum Popularmusikalischen dem Neoklassizismus entscheidende Impulse verliehen. Tina Vogel, eine ausgewiesene wissenschaftliche Spezialistin fürs Thema des doppelten Blicks, beleuchtet zwei Komponisten während der Militärdiktatur in Argentinien. Eduardo Bertola und dessen 1978 entstandenes Flötenquartett: La visión de los vencidos, Die Sicht der Besiegten; ferner Graciela Paraskevaidis, die 1979 ein Bläsersextett schreibt: totavio no, noch nicht. Engagiertes Komponieren, das, mitten in der Diktatur, schon deren Überwindung avisiert, dekoloniale Perspektiven konzipiert.

Als Mitschnitt eines Konzerts mit dem hervorragenden, viel zu wenig bekannten Ensemble AuditivVokal Dresden präsentiert das Forum Neuer Musik eine Spurensuche in der zona austral, im südchilenischen Patagonien, wobei – da ist sie wieder die Dialektik des Themas – die Komponisten dieser Vokalwerke, wenn auch nur scheinbar  paradoxerweise, dem akademischen Milieu neuer Musik entstammen. Von ihrer Reise zu den Gesängen und Ritualen der Mapuche, dem größten indigenen Stamm Chiles, hat die Berliner Musikwissenschaftlerin und Radiojournalistin Bettina Brand eindrückliches Material mitgebracht. Im Gespräch, in Aktion ein Vogelmann, eine Schamanin, eine Käuterheilerin. Persönliche Begegnung, authentische Kenntnis ist auch das Herzens­anliegen der Akkordeonistin Eva Zöllner. Ihr Solorecital präsentiert Arbeiten von Natalia Valencia Zuluaga, Jorge Gregorio Garcia, Daniel Leguizamón, kolumbianische Komponisten. In der Sendung beleuchtet Hanno Ehrler zwei typische Verfahren, die in der hiesigen Neue-Musikszene NoGos darstellen: das Integrieren von Popularkultur und von gesellschaftspolitischem Zündstoff wie dem Scheitern des Friedensabkommens mit der FARC, der linken Guerillabewegung in den Bürgerkriegen Kolumbiens.

Was die Einführungssendung von Leonie Reineke versprochen hatte, wird in einem sogenannten postkolonialen Radioabend mit dem ensemble recherche nachgereicht. Es erklingen sieben Kompositionen, darunter mit en blanco y negro auch eine Arbeit von Johannes Schöllhorn, dessen Essayband Karte, Uhr, Partitur im Oktober herausgekommen ist. Den Abschluss des Forums neuer Musik 2022, dessen Sendungen alle um kurz nach 22 Uhr beginnen, bildet ein großes Porträt lateinamerika­nischen Komponierens der wahrscheinlich besten Kenner unter den ausführenden Musikern hierzulande, dem Freiburger Ensemble Aventure, das sich seit mehr als drei Jahrzehnten für die lateinamerikanische Avantgarde interessiert und engagiert. Moderiert wird der Radioabend von Frank Kämpfer, dem Künstlerischen Leiter des Forums neuer Musik.

Georg Beck