O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Ensemble 20/21 - Foto © Thomas Kujawinski

Forum neue Musik

Diskursive Veranstaltungsform

Ein anscheinend rückwärtsgewandtes Festival, das die Neue Musik im Namen trägt: Das klingt reichlich seltsam. Funktioniert aber beim Deutschlandfunk seit 18 Jahren schon. In diesem Jahr dreht sich das Forum neue Musik um die 1968-er Jahre. Die Vergangenheit kennenlernen, um für die Zukunft gewappnet zu sein? Die Antwort steht schon fest. Ein klares Vielleicht.

Frank Kämpfer ist DLF-Redakteur und Künstlerischer Leiter des Forums neue Musik – Foto © Thomas Kujawinski

Heute, wo wir an einer erneuten Modernisierungsschwelle stehen, überlegen wir, welche Fragen von damals sind immer noch oder wieder neu für uns relevant?“ sagt Frank Kämpfer im Interview mit der Neuen Musikzeitung über seine Beweggründe, das diesjährige Forum neue Musik zu veranstalten. Er ist Redakteur beim Deutschlandfunk und seit 2002 Künstlerischer Leiter des Festivals, das alljährlich in Köln stattfindet. Zwei Jahre zuvor hatte das Festival die Konzertwochenenden unter dem Namen Novantiqua abgelöst. Inzwischen sieht Kämpfer es als „Festival in der Stadt mit internationaler Ausstrahlung“, was möglicherweise den lockeren Umgang mit Fremdsprachen erklärt. Auch programmatisch hat sich die erweiterte Wochenendveranstaltung über die Jahre stark verändert. Heute steht im Zentrum des Forums eine „gesellschaftlich, politisch oder ethisch zentrale Fragestellung, und Konzertbeiträge, Performances, Lectures, Gesprächsveranstaltungen, Vitrinen und Programmbuch sind Antwortversuche dazu“, sagt Kämpfer.

1945 herrschte das Elend in der Welt. Die zweite große Katastrophe der Weltgeschichte schien überwunden, das Elend nicht. Da wurden kaum Fragen gestellt. Sondern jeder versuchte, auf seine Weise die Not zu lindern und die Zustände vor dem Krieg wiederherzustellen. Häuser wurden aus den Ziegelsteinen zerbombter Häuser wiederaufgebaut, weil es kein anderes Material gab. Die „Trümmerfrauen“ erlangten Weltruhm, die Schwarzmärkte blühten, aber das „normale“ Leben begann wieder, seinen Lauf zu nehmen. Und es machte Spaß. Es ging aufwärts. Das Wirtschaftswunder der 1950-er Jahre wurde gefeiert. Ja, es gab wieder etwas zu feiern, und die Menschen konnten die Vergangenheit vergessen, verdrängen, brauchten jedenfalls nicht mehr davon zu sprechen. Eine großartige Zeit. Auch eine Zeit der Legenden, mit denen das persönliche Schicksal in erträglichem Licht aufglänzte. „Der Onkel Rudi ist in Stalingrad geblieben“, hieß es mit wohligem Schaudern und ein wenig Trauer an der sonntäglichen Kaffeetafel im Eigenheim, das mit viel Fleiß wieder aufgebaut worden war. Das erste eigene Auto, die erste Reise nach Italien. So hätte es weitergehen können in einem Museum der Verlogenheit und des Selbstbetrugs. Aber so funktioniert die Welt nicht.

Enikoe Ginzery spielt am 14. April in der Kunststation St. Peter – Foto © Jan Varcovala

Die Söhne und Töchter wurden groß, und es ging ihnen so gut, dass sie endlich die Fragen stellen konnten, die ihre Eltern nicht beantworten wollten. 1968 war Schluss mit dem Museum, nicht nur in Deutschland. Ein halbes Jahrhundert später will das Forum neue Musik Fragen nach den Echoes of ´68 stellen. Redakteur Kämpfer sieht das Jahr der Umwälzungen als Beginn einer Modernisierungswelle. „Mich interessieren Beschleunigungen, die dem Entwicklungsbedarf in den westlichen Nachkriegsgesellschaften dienten – und deren Folgen“, sagt er und rekurriert damit auf die Gegenwart, die er als Beginn einer weiteren Modernisierungswelle versteht. Straßenschlachten, Kommunen und erschossene Intellektuelle interessieren ihn mithin nicht, also all das, was die Alt-68-er bis heute mit einem kaum nachvollziehbaren Stolz erfüllt, dabei gewesen zu sein. Und enthebt sich damit gleichzeitig nicht nur dem Vorwurf der Nabelschau, sondern will vor allem auch junge Menschen für die Auseinandersetzung mit den zurückliegenden Jahrzehnten begeistern.

Die Frage, inwieweit man sich mit dem Wissen der Gegenwart auf die Zukunft vorbereiten kann, also Visionen entwickelt, wird dabei nur ansatzweise in Betracht gezogen, indem etwa Aufträge an Komponistinnen vergeben werden. Und hier kommt beim Forum neue Musik tatsächlich Neue Musik, also Musik, die heute entsteht, zum Tragen. Schaut man auf den Programmzettel des Festivals und übersieht dabei die Musik, die heute immer noch als „Neue Musik“ bezeichnet wird, also die von Komponisten wie Mauricio Kagel, Louis Andriessen oder Nicolaus A. Huber stammt, dann findet man eine erstaunliche Entwicklung. Im Mittelpunkt stehen weniger die Akzente moderner Musik – was macht sie aus, wo ist das Neue in der Musik – sondern vielmehr die Multimedialität und der Aufbruch traditioneller Konzertformen. „Durchkomponierte Abende sind an der Tagesordnung“, hält Kämpfer – nicht ohne Stolz – fest.

Damit schließen sich die Kreise. Stehen doch auch in der Alten und der Klassischen Musik genau diese Fragen an erster Stelle. Wie brechen wir althergebrachte Konzertformate – die gerne ja auch in institutionellen Häusern stattfinden – auf? Und was wollen und können wir damit eigentlich erreichen? Fragen, die übrigens 1968 bereits brandaktuell waren. Und insoweit wird es spannend, welche Antworten das Forum neue Musik darauf findet, wenn es in diesem Jahr im Foyer und Kammermusiksaal des Deutschlandfunks in Köln sowie in der Kunststation Sankt Peter und im Alten Pfandhaus ausgetragen wird. Die Eintrittspreise sind so moderat, dass auch Menschen, die Berührungsängste mit der so genannten Neuen Musik haben, sich auf Neues einlassen können, um einen Diskurs zu verfolgen, der die Vergangenheit – vielleicht – neu beleuchtet.

Michael S. Zerban