O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Ensemble Mare Nostrum - Foto © Fabio Framba

Hintergründe

Festival der menschlichen Grundübel

Mit gewohnt umfangreichem Angebot wartet das Festival Tage Alter Musik in Herne auch in diesem Jahr wieder auf. Vom 8. bis zum 11. November werden musikalische Delikatessen bis zur Völlerei präsentiert. Und da liegt es nahe, sich auch mal Gedanken über die sieben Todsünden zu machen. Die stellt Richard Lorber, Künstlerischer Leiter des Festivals, in diesem Jahr in den Blickpunkt. Die wichtigste Nachricht ist aber sicherlich: Das Alte-Musik-Festival bleibt modern.

Richard Lorber ist Künstlerischer Leiter des Festivals – Foto © O-Ton

Junge Ensembles, Künstler, die ihr Debüt in Herne geben: Das gehört zum dramaturgischen Prinzip der Tage Alter Musik in Herne. Und in diesem Jahr sind tatsächlich alle neun Konzerte mit Künstlern aus ganz Europa besetzt, die noch nicht beim Festival aufgetreten sind. Das zeigt die Lebendigkeit der Alte-Musik-Szene, verfolgt aber noch eine ganz andere Idee. „In Zeiten, in denen die europäische Idee von verschiedenen Seiten in Zweifel gezogen wird, kann auch ein solches Festival unter Beweis stellen, welchen Wert ein lebendiges Europa haben kann“, sagt Richard Lorber, Redakteur beim Westdeutschen Rundfunk und Künstlerischer Leiter des Alte-Musik-Festivals.

Und setzt das mit seinem Team auch programmatisch um. Von Donnerstag bis Sonntag können die Besucher des Festivals Musik vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert live erleben – und zwar aus ganz Europa. Der Clou dabei: Die einzelnen Programmpunkte werden den sieben Todsünden – Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit – zugeordnet. „Geiz, Hochmut, Völlerei – heute würde man vielleicht eher Sucht sagen – Faulheit, heute vielleicht eher so eine Art Egalhaltung, das sind menschliche Grundübel wie eh und je. Gerade in einer komplexen Welt und auf der anderen Seite einer Zeit des um sich greifenden Populismus, ist es doch erstaunlich und auch erschreckend, auf welche einfachen Grundmuster sich menschliche Verirrungen zurückführen lassen“, begründet Lorber die Idee. Schönes Beispiel dafür ist einer der Höhepunkte des diesjährigen Festivals. Zum Stichwort Wollust wird am Freitagabend die Oper Amare e fingere von Alessandro Stradella im Kulturzentrum der Stadt Herne konzertant aufgeführt. Das Ensemble Mare Nostrum unter Andrea De Carlo erweckt dessen musikdramatisches Liebesfeuerwerk, wie es im Programm so schön heißt, nach 342 Jahren wieder zum Leben. Lieben und heucheln, so die deutsche Übersetzung des Titels, will die Abgründe von Macht und Leidenschaft in der höheren Gesellschaft des 17. Jahrhunderts zeigen. Die zweite Oper des Festivals, die am Sonntagabend ebenfalls im Kulturzentrum aufgeführt wird, fällt unter das gleiche Thema. Hier wird es hoch hinausgehen. Gleich zwei Countertenöre, ein Sopran, zwei Mezzosoprane treten gegen einen Bass in Begleitung des Barockorchesters La Cetra unter der musikalischen Leitung von Andrea Marcon an. „Wenn wir Vivaldis Oper L’Olimpiade unter das Thema Wollust einordnen, ist damit die Selbstüberschätzung und geradezu kriminelle Energie eines der Protagonisten gemeint. Da muss man heute nicht weit schauen, um Parallelen im Sport – Stichwort Doping – oder im Wirtschaftswettbewerb zu entdecken“, stellt der Künstlerische Leiter den Bezug zur Gegenwart her.

Akustisch handelt es sich bei dem Kulturzentrum sicher nicht um den Wiener Musikvereinssaal. Trotzdem sei das Live-Erlebnis in der Spielstätte immer einen Besuch wert. Außerdem, betont Lorber, „verfügt unsere andere Spielstätte, die Kreuzkirche in Herne, über eine hervorragende Akustik für kleinere vokal-instrumental gemischte Ensembles“. Und wer beides haben will, die herausragende Tonqualität, die die Tonmeister des Hörfunks veredeln, und das immer noch besondere Erlebnis, die Künstler live bei der Arbeit zu erleben, kann, so Lorbers Tipp, immer noch auf den WDR-3-Konzertplayer im Internet zugreifen. Die Musiker gibt es nur in Herne.

Andrea de Carlo – Foto © Lucia Adelaide Di Nicola

Ansonsten entwickeln sich auch die Tage Alter Musik in Herne weiter. Einen besonderen Tipp hat Richard Lorber schon heute für die, die es nicht nach Herne schaffen. „Wir werden in diesem Jahr zum zweiten Mal das Abschlusskonzert, also die Olimpiade am Sonntagabend, in einem Video-Livestream auf wdr3.de anbieten und danach ein Jahr lang vorhalten.“ In dieser Richtung denkt das Festival-Team weiter. Schließlich geht es nicht nur darum, Sendematerial aufzuzeichnen, sondern auch darum, möglichst viele Menschen mit der Alten Musik zu erreichen. Das kann man nur mit einem Kompetenzzentrum, zu dem sich das Festival in Herne längst entwickelt hat. „Deshalb geht es darum, die künstlerische Qualität und die dramaturgische Konsistenz des Festivals zu erhalten oder besser noch auszubauen, beispielsweise durch internationale Koproduktionen“, verweist Hörfunk-Redakteur Lorber schon mal in die Zukunft und liefert die Begründung gleich mit. „Nur so kann es seine kulturpolitische Funktion als einziges überregional bedeutendes Alte-Musik-Ereignis in der Metropole Ruhr erfüllen.“

Und sei es, um die Menschen ohne erhobenen Zeigefinger noch einmal zur Auseinandersetzung mit den sieben Todsünden zu veranlassen. Das dürfte allerdings dann doch am besten vor Ort geschehen. Denn dort präsentiert der Hörfunksender seine Künstler hautnah. Und womit? Mit Stolz.

Michael S. Zerban