O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Hintergründe

Gefrorene Zeit

Am 28. Mai wäre György Ligeti 100 Jahre alt geworden. Der österreichisch-ungarische Komponist zählt mit zu den wichtigsten Komponisten des letzten Jahrhunderts. Kompromisslos schuf er Werke, die keiner Schule oder Musikrichtung zuzuordnen sind und für große Schlagzeilen sorgten. Auf ihn legt das Klavier-Festival Ruhr mit sieben Veranstaltungen einen großen Schwerpunkt.

Pierre-Laurent Aimard – Foto © O-Ton

György Sándor Ligeti wäre am 28. Mai dieses Jahres 100 Jahre alt geworden. Gestorben am 12. Juni 2006 nach langer Krankheit in Wien gilt er als einer der bedeutendsten Komponisten des letzten Jahrhunderts. Unzählig sind die Preise, mit denen er geehrt wurde. Darunter befinden sich gleich Goldmedaillen Olympischer Spiele der Große Österreichische Staatspreis für Musik, der Ernst-von-Siemens-Musikpreis oder der Musikpreis der UNESCO. Stets ging er musikalische eigene Wege. Er selbst bezeichnete sich zwar als Ex-Avantgardist. In diesem Kontext sah er etwa das radikale Denken der Darmstädter Schule kritisch. Doch trotz dieser Einstellung war er Neuem aufgeschlossen, führte die Kompositionstechnik und die Musiksprache kompromisslos, ohne Beeinflussung von seinen damaligen Kollegen hin zu neuen Ufern.

Jede Stadt, jeder Konzertveranstalter, jedes Festival und Rundfunkorchester, die etwas auf sich halten, ehren in diesem Jahr den Komponisten mit der einen oder anderen Veranstaltung. Ganz groß kommt Ligeti im Rahmen des Klavier-Festivals Ruhr heraus. Am 12. März gab es bereits einen dreiteiligen Prolog, in dessen Verlauf Kit Armstrong als Appetithäppchen mit Ausschnitten aus seiner Klaviersammlung Musica ricercata und ein paar Etüden die Neugier auf das Kommende weckte (O-Ton berichtete). Sechs weitere Termine stehen auf dem Programm. An zwei aufeinanderfolgenden Tagen im Anneliese-Brost-Musikforum und tags darauf in der Folkwang-Universität der Künste in Essen-Werden ist Pierre-Laurent Aimard zu Gast. Anhand von Konzerten, Werkeinführungen und einer Podiumsdiskussion bringt der ausgewiesene Ligeti-Experte zusammen mit weiteren Musikern und Musikwissenschaftlern dem für Neues aufgeschlossenen Publikum das Oeuvre anschaulich näher. Vielen Musikliebhabern ist nämlich Ligetis Schaffen noch fremd, da seine Werke nur selten auf Programmen stehen. Daran wird sich hoffentlich etwas ändern, wenn sie nun allerorts zu hören sind und man so auf den Geschmack kommen kann.

Bevor er in Fachkreisen weltweit große Aufmerksamkeit auf sich zog, war Ligetis Werdegang holprig. Wahrlich nicht leicht hatte er es bis zu seiner Flucht aus Ungarn nach dem Ende des Volksaufstands im Dezember 1956 nach Wien. Der Sohn einer Familie jüdischer Herkunft, im rumänischen Siebenbürgen geboren und im ungarischen Cluj aufgewachsen, musste es verkraften, dass sein Vater Sándor 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen und sein jüngerer Bruder Gábor im Konzentrationslager Mauthausen umkamen. Seine Mutter Ilona überlebte dagegen das KZ Auschwitz-Birkenau. Die Erinnerungen daran verfolgten ihn sein ganzes Leben, die auch in seiner Musik erkennbar sind. Nach seinem Musikstudium im Jahr 1949 nahm er für ein Jahr eine Stelle als Musikethnologe über rumänische Volksmusik an. Anschließend begann er eine Lehrtätigkeit an der Budapester Musikhochschule in den Fächern Harmonielehre, Kontrapunkt und Musikanalyse. Während der Ära Stalin gab es auch in seinem Heimatland Repressalien, die ihn in seinem kreativen Schaffen beeinträchtigten. Offiziell komponierte er konventionell. Vokalwerke, mehrheitlich Gebrauchsmusik für Laienensembles schrieb er in dieser Zeit, wogegen das politische System nichts einzuwenden hatte. Sehr wenig lässt an diesem Oeuvre den späteren Protagonisten neuer Musik erkennen. Im stillen Kämmerlein entstanden aber auch Werke, die er im Verborgenen hielt. Der Komponist dazu in einem Begleittext zur CD-Box György Ligeti Works: „So entstand in Budapest eine Kultur des geschlossenen Zimmers, in der sich die Mehrheit der Künstler für die innere Emigration entschied. Offiziell wurde der sozialistische Realismus oktroyiert, d.h. eine billige Massenkunst mit vorgeschriebener politischer Propaganda. Moderne Kunst und Literatur wurden pauschal verboten, die reiche Sammlung französischer und ungarischer Impressionisten im Budapester Kunstmuseum beispielsweise hängte man einfach ab. Nicht genehme Bücher verschwanden aus Bibliotheken und Buchgeschäften (unter anderem wurden auch Don Quijote und Winnie the Pooh eingestampft). Geschrieben, komponiert, gemalt wurde im Geheimen und in der kaum vorhandenen Freizeit: Für die Schublade zu arbeiten galt als Ehre.“

Brillanter Analytiker und Theoretiker

Nach dieser ersten frühen Schaffensphase folgte nach der Emigration eine Periode bis 1978, die 1957 mit dem Aufenthalt im Studio für elektronische Musik des Westdeutschen Rundfunks in Köln begann und bis zur Vollendung seiner einzigen Oper Le Grand Macabre dauerte. Er war Teilnehmer der Darmstädter Ferienkurse um Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez, wo er als brillanter Analytiker und Theoretiker auffiel. Viel größeres Aufsehen erregten die Uraufführungen seiner Orchesterwerke Apparitions aus dem Jahr 1959 und vor allem Atmosphères zwei Jahre später. Diese Werke brachten Ligeti den Durchbruch als Komponist. 1973 wurde er zum Professor für Komposition an die Hochschule für Musik und Theater in Hamburg berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung 1989 lehrte. Heute allgemein anerkannte Komponisten wie Detlev Müller-Siemens, Wolfgang von Schweinitz und Cristian Petrescu waren seine Studenten.

Nach einer fast fünfjährigen Pause, in der er nichts veröffentlichte, begann anno 1982 mit dem Horntrio seine späte Schaffensphase, die mit seinem letzten Opus Mit Pfeifen, Trommeln, Schilfgeigen im Jahr 2000 endete. Wegweisende Tonschöpfungen entstanden in dieser Zeit, wovon zwei beim Klavier-Festival Ruhr vorgestellt werden.

Insgesamt stehen drei gewichtige Werke im Zentrum der dreitägigen Veranstaltung: In Bochum sind es das Konzert für Klavier und Orchester, entstanden zwischen 1985 und 1988, und die 18 Études pour piano, die in drei Bänden zwischen 1985 und 2001 entstanden. In Essen beschäftigt man sich unter anderem mit der elfteiligen Musica ricercata für Klavier, die zwischen 1951 und 1953 während seiner Lehrtätigkeit an der Budapester Musikhochschule entstand. Sie kann als Musterbeispiel für seine frühen beziehungsweise späten Kompositionsverfahren und Musiksprache gelten.

„Musik als gefrorene Zeit, als Gegenstand im imaginären, durch die Musik in unserer Vorstellung evozierten Raum, als ein Gebilde, das sich zwar real in der verfließenden Zeit entfaltet, doch imaginär in der Gleichzeitigkeit, in allen seinen Momenten gegenwärtig ist. Das Bannen der Zeit, das Aufheben ihres Vergehens, ihr Einschließen in den jetzigen Augenblick ist mein hauptsächliches kompositorisches Vorhaben“, sagte Ligeti. Diese Bemerkung des Komponisten wird in einigen seiner Klavieretüden ganz deutlich. Etwa wiederholen sich musikalische Figuren wie Ganztonleitern andauernd, aber mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Sie überlagern sich immer wieder anders zeitversetzt, verschieben sich auch in den Betonungen. So entsteht ein schwebender, musikalischer Fluss, der keinen Anfang und kein Ende zu haben scheint. Solch ein Prozess kommt bereits bei seiner Musica ricercata ein wenig zum Vorschein, wenn sich etwa im aus nur dem Ton A bestehenden ersten Stück diese Note ständig in Dauer, Dynamik, Tempo und Tonhöhe verändert und so musikalische Akzente relativiert werden. Der Faktor Zeit scheint nebensächlich zu werden.

Komplexe Polyphonie

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Komplexe Polyphonie und Rhythmen sind weitere Kennzeichen in Ligetis Oeuvre. In diesem Zusammenhang lehnt er es strikt ab, als Eklektiker bezeichnet zu werden. Waren vor seiner Flucht aus Ungarn seine Inspirationsquellen hauptsächlich die Stilistiken Béla Bartóks und die rumänische Volksmusik, beschäftigte er sich später auch mit außereuropäischen Kulturen, etwa afrikanischen Rhythmen. Fasziniert war er von Conlon Nancarrows Studien für Player-Piano. Dabei handelt es sich um Werke für elektro-mechanische Selbstspielklaviere, dank derer der mexikanische Komponist US-amerikanischer Herkunft keine Rücksicht auf Tempo, Rhythmus und Metrum nehmen musste. So schuf er Stücke, die über die manuelle Spielfähigkeit von Pianisten weit hinausgehen. Die Erfahrungen, die Ligeti im Studio für elektronische Musik des WDR gemacht hatte, kamen hinzu. Nur zitierte oder kopierte Ligeti nicht. Vielmehr entwickelte er daraus eigenes, noch nie dagewesenes, streckenweise als unspielbar erscheinendes Material als Basis für seine Werke.

Diese vielfältigen Verfahrensweisen finden sich in den Etüden und dem Klavierkonzert wieder. Die Techniken, die er im ersten Etüdenband anwendete, baute er im fünfsätzigen Opus für Klavier und Orchester aus, band sie in eine Kontrastdramaturgie einer großen Orchesterkomposition ein. Das Orchesterwerk hatte für ihn große Bedeutung. Es dokumentiert seine „Unabhängigkeit sowohl von den Kriterien der tradierten Avantgarde wie von jenen der modischen Post-Modernität“. Und die Etüden stellen Ligetis zentrales kompositorisches Experimentierfeld dar. Hier offenbart sich sein immer bedeutender werdendes Konzept einer hybriden Kunst.

Pierre-Laurent Aimard, der über Jahrzehnte mit Ligeti befreundet war und als Pianist etliche seiner Werke aus der Taufe hob, führt am ersten Abend sachkundig in das Werk ein, erklärt deutlich die den fünf Sätzen innewohnenden Strukturen. Zwei Studentenensembles, das Ensemble ColLAB Cologne und Ensemble Folkwang Modern, haben sich zusammengeschlossen, um das Klavierkonzert einzustudieren. Hinzu gesellt sich Lorenzo Soulès, ein Meisterschüler Aimards. Dabei stand ihnen bei ein paar Proben Aimard mit Rat und Tat zur Seite. Das Resultat kann sich wahrlich hören lassen. Unter dem sehr präzisen und umsichtigen Dirigat von Susanne Blumenthal gelingen dem solistisch besetzten Orchester und Soulès mit seinem hochvirtuosen Vermögen selbst in äußerst schwierigen Passagen eine differenzierte, stets durchsichtige hochmusikalische, spannungsvolle Aufführung. Begeisterter Applaus ist die logische Folge.

Tags darauf sorgt Aimard für stehende Ovationen nach seiner phänomenalen Vortragskunst sämtlicher Klavieretüden am Stück. Unspielbar gelten immer noch ein paar von ihnen, doch nicht für ihn. Er kennt sie aus dem Effeff. Traumwandlerisch sicher bewegen sich seine Finger auf den 88 Tasten. Hinzu kommt eine sensible Verwendung der drei Pedale. Abgesehen von seiner pianistischen Perfektion ist es sein tiefer Zugang zu den Stücken, die faszinieren. Denn den großen emotionalen Gehalt bringt er mustergültig zum Ausdruck. Seine Zugabe macht deutlich, dass Ligeti der Fluxus-Bewegung nicht ablehnend gegenüberstand. Exakt gemäß seiner Anweisungen sitzt Aimard bei den Trois Bagatelles aus dem Jahr 1961 am Tasteninstrument und spielt sehr konzentriert im Bass den Ton Cis. Dann blättert er um zum zweiten Satz, anschließend weiter zum dritten Teil. Nichts kommt aus dem Flügel. Dann steht er auf und verbeugt sich. Die humorvolle Nummer hat eine vierte Bagatelle als Zugabe, die aus einer Sechzehntelpause besteht. Die erspart sich Aimard mit der Erklärung, dafür zu müde zu sein. Damals vom Publikum schlecht aufgenommen, hat es jetzt großen Spaß daran. Auch John Cage gefiel das. Er schrieb 1952 das Stück 4‘33‘‘ mit der Anweisung an jeden Musiker in der Partitur, während der Dauer der drei Sätze nicht zu spielen.

Lorenzo Soulès – Foto © Markus Feger

Dass Musikstudenten offen für zeitgenössische Musik sind, dürfte klar sein. In der Folkwang-Universität der Künste in Essen-Werden ist es nun der Nachwuchs, der überhaupt keine Berührungsängste mit hochkomplexer moderner Musik hat. Es sind Schüler der Grundschule Sanderstraße und des Elly-Heuss-Knapp-Gymnasiums aus Duisburg-Marxloh, die sich im Rahmen des Musikvermittlungsprojekts des Klavierfestivals Ruhr intensiv mit Ligetis Musica ricercata beschäftigt haben. Zunächst fasziniert die Tanz-AG zu Ligetis vierter Etüde mit einer außerordentlich ausdrucksstarken Tanzperformance. Nach einführenden Worten des Musikwissenschaftlers Tobias Bleeks zu den elf Klavierstücken, die mit der Verwendung von nur einem Ton beginnen und zuletzt mit allen zwölf des Oktavraums enden, demonstrieren die ganz Kleinen der Mausklasse anhand einer leicht zugänglichen Melodie, wie spielerisch leicht und selbstverständlich sie unter Verwendung von Melodicas, Percussions und Xylofon mit Ligetis Musik umgehen können. Dann spielt Lorenzo Soulès die Musica ricercata bravourös am Stück, wobei er bei sieben Nummern aufmerksam auf die Gymnasiasten achtet, die kongenial deren musikalischen Inhalt in Bewegung umsetzen.

Anschließend führt Aimard am Flügel Ciányi tánc aus dem Jahr 1947 und Grotesque aus den zwischen 1939 und 1941 entstandenen Kleinen Klavierstücken zum ersten Mal auf. Uraufführungen so alter Stücke? Richtig. Denn Ligetis Werkverzeichnis ist nicht aktuell. Gerade manche seiner vor seiner Ungarn-Flucht entstandenen Stücke wurden nie veröffentlicht, sind verschollen oder nur im ungarischen Rundfunk gespielt worden. Die Musikforscher sind aber derzeit fleißig und bringen sie nach und nach ans Licht der Öffentlichkeit. Des Weiteren erklärt und spielt Aimard die chromatische Fantasie, die den ersten Teil Ligetis schöpferischer Periode abschließt. Auch findet er allgemein verständliche Worte zum Klavierzyklus und den Etüden, die er tags zuvor gespielt hat.

Was es sonst noch gibt

Eigens für das abschließende Podiumsgespräch ist Márton Kerékfy aus Budapest angereist. Der Musikwissenschaftler und Komponist erklärt detailliert Ligetis Arbeit als Musikforscher, wie er nach seinem Musikstudium über die Dörfer fuhr, um die Volksmusik zu entdecken, erkunden und dokumentieren. Auf die Fragen von Moderator Bleek nach Ligetis Gründen für seine Suche nach Neuem und den Grund für seine hochvirtuosen, nahezu so gut wie gar nicht realisierbaren Anforderungen an die Interpreten gibt Aimard bereitwillig Antworten. Schließlich betont er zu Recht, dass das alles nur Material sei. Viel wichtiger ist für ihn, wie Ligeti damit umgeht, bewundert, wie er aus einfachem Material hochmusikalische, emotionale „ungeahnte Klangarchitekturen“ kreiert.

Fazit: Die dreitägige Veranstaltung kann zwar nicht sämtliche Aspekte in Ligetis Leben und Werk beleuchten. Doch reicht sie aufgrund der hervorragenden Darbietungen und verständlichen Erklärungen allemal, Neugier auf mehr zu wecken. Dafür gibt es bald wieder Gelegenheiten. Denn drei weitere vielversprechende Ligeti-Abende stehen auf dem Programm des Klavier-Festivals Ruhr. Am 13. Juni gastieren Sopranistin Sarah Maria Sun, Pianist Jan Philip Schulze und Klarinettist Kilian Herold um 20 Uhr im Haus Fuhr in Essen-Werden. Im Zentrum des Abends stehen Ligeti-Lieder, darunter Volksliedbearbeitungen und ein bisher noch nicht aufgeführtes Stück. Am nächsten Tag heißt es in der Mercatorhalle in Duisburg um 18 Uhr Ligetis Welten. Unter dieser Überschrift präsentieren im Rahmen der Musikvermittlungsarbeit des Klavier-Festivals Ruhr Schüler aus Duisburg-Marxloh ihre selbst entwickelten Choreografien zur Musik Ligetis. Tags darauf geht es um 20 Uhr wieder zurück ins Haus Fuhr. Dann ist Alfred Brendel anwesend, der sich zwar als Pianist zurückgezogen hat, dafür als Rezitator auf Bühnen erscheint. Unter dem Titel Unsinnstexte hat er deutsche und russische Literatur ausgewählt, die er zu Ligeti-Etüden vortragen wird. Pianist Fabian Müller wird die dazu passenden Stücke spielen.

Hartmut Sassenhausen