O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Ursula Kaufmann

Hintergründe

Auf zu neuen Ufern

Die „Vielfalt, Diversität und Internationalität“ der deutschen Tanzszene ist dem Deutschen Tanzverband mit Sitz in Berlin so wichtig, dass er alljährlich den Deutschen Tanzpreis im Aalto-Theater Essen verleiht. Claudia Roth, Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, verleiht der Veranstaltung den nötigen Glanz und ist voll des Lobes.

Reinhild Hoffmann, Marco Goecke und Christoph Winkler – Foto © Ursula Kaufmann

Mit Marco Goecke, Christoph Winkler, Reinhild Hoffmann und Vertretern der Aktion Tanz wurden in diesem Jahr gleich vier Persönlichkeiten und Organisationen mit Auszeichnungen im Rahmen des Deutschen Tanzpreises 2022 bedacht. Der federführende Dachverband Tanz Deutschland möchte damit die „Vielfalt, Diversität und Internationalität“ der Tanzszene betonen. Der fast dreistündige Festakt im Aalto-Theater wird zeitgleich im Internet gestreamt.

Zum ersten Mal seit 1983 wird der Hauptpreis geteilt. Mit Marco Goecke wird ein renommierter Vertreter der etablierten Szene geehrt, mit Christoph Winkler ein kreativer Motor der freien Szene. Reinhild Hoffmann, die trotz ihrer internationalen Reputation Essen und der Folkwang-Universität eng verbunden blieb, wird mit einem Ehrenpreis für ihr Lebenswerk ausgezeichnet. In den Genuss einer „Ehrung“ kam die Aktion Tanz, die sich als „Bundesverband Tanz in Bildung und Gesellschaft“ versteht und die Verankerung des Tanzes in allen gesellschaftlichen Bereichen vertiefen will. Und zwar nach wie vor in Schulen, aber auch in allen Altersgruppen und verstärkt auch im Dienst der Inklusion. Ein von Texten Greta Thunbergs inspirierter Tanzfilm We Live In A Strange World veranschaulicht die Intentionen eindringlich.

Die drei Preise sind jeweils mit 10.000 Euro dotiert, die „Ehrung“ mit 5000 Euro. In einer Video-Botschaft unterstreicht die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth, die alle nationalen und sozialen Grenzen überwindende Bedeutung des Tanzes und bescheinigt der Tanz-Szene damit eine systemrelevante Funktion. Eine Einschätzung, der sich auch der Essener Kulturdezernent Muchtar Al Ghusain anschließt und zugleich die mit dem Preis verbundene „identitätsstiftende“ Rolle der Folkwang-Universität für die Stadt Essen herausstellt.

Reinhild Hoffmann, die nach der Vertreibung ihrer Familie aus Schlesien an der Folkwang-Universität ausgebildet wurde und dort später als Dozentin starke Akzente setzte, genießt in Essen Kultstatus. Dass die 78-jährige Tänzerin und Choreografin zu einer Video-Collage mit Ausschnitten ihrer Arbeiten selbst tanzt und ihre Produktionen aus der Distanz ihres Alters abgeklärt und körperlich noch immer geschmeidig kommentiert, nimmt das Publikum mit besonderer Begeisterung und Hochachtung auf.

Marco Goecke gehört nicht nur aufgrund seiner Leistungen beim Stuttgarter Ballett und dem Nederland Dans Theatre zu den Stars der Szene. Seit 2019 leitet er das Staatsballett Hannover. Und drei Mitglieder der niedersächsischen Compagnie demonstrieren mit dem Solo-Stück Tué und dem männlichen Pas de Deux Midnight Raga zu denkbar unterschiedlichen Musiken die scheinbar spielerisch leichte wie filigrane Bewegungssprache Goeckes.

Deutlich bodenständiger und robuster geht Christoph Winkler zu Werke, der selbst behauptet, nicht einen unverkennbaren Personalstil anstreben zu wollen, sondern sich von allen Stilrichtungen des Tanzes aller Kontinente motivieren zu lassen. Das veranschaulichen sieben Mitglieder seiner Compagnie mit der Uraufführung des Stücks Come Together zu den live gespielten, monoton minimalistischen Klängen Frederic Rzewskis und dem rezitierten Brief eines amerikanischen Bombenattentäters, der bei einem Gefängnisaufstand ums Leben gekommen ist. Von Breakdance über Muster des zeitgenössischen Tanzes bis zu urwüchsig stampfenden Bewegungen lässt Winkler ein ganzes Kaleidoskop tänzerischer, von Lebensenergie erfüllten Ausdrucksmöglichkeiten erstehen.

Durch das Programm führt der Geschäftsführer des Dachverbandes, Michael Freundt, in Vertretung der an Corona erkrankten WDR-Moderatorin Siham El-Maimouni. Der 39. Tanzpreis zum 40-jährigen Jubiläum im nächsten Jahr wird am 14. Oktober wieder im Aalto-Theater verliehen.

Pedro Obiera