O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Hintergründe

Der Krise entgegen

Was passiert, wenn die Kulturarbeiter Europas plötzlich erkennen müssen, dass sie nicht ganz so wichtig für das Weltgeschehen sind, wie sie bisher annahmen? In der Pandemie war das der Fall, und es gab nicht wenige, die aus allen Wolken fielen. Mit dem Projekt Viral Visions stellten sich Künstler aus sechs Nationen auf, für die Zukunft der Kultur zu kämpfen und proaktiv nach vorn zu schauen.

Agata Źyczkowska und Karina Szutko – Foto © O-Ton

Es ziehen dunkle Wolken auf am deutschen Kulturhimmel. Fachleute gehen davon aus, dass die eigentliche Krise, die aus der Pandemie resultiert, erst in der kommenden Spielzeit, spätestens im nächsten Jahr auftreten wird. Dann werden die kommunalen Haushalte schmal, und die Förderungen, die während der Auftrittsverbote aufgelegt wurden, laufen aus. Paradox genug, dass es da so manchem während oder kurz nach der Pandemie bedingten Einschränkungen noch vergleichsweise gut ging. Beschäftigte an öffentlich subventionierten Bühnen kamen in den Genuss von Kurzarbeitergeld – nein, davon wird man nicht reich – zahlreiche Förderprogramme halfen denen, die sich mit den nötigen Anträgen auskannten. Der Begriff Neustart tauchte in der Zeit auf vielen Abendzetteln auf. Auch auf europäischer Ebene gab es solche Programme. So schlossen sich 2021 sechs europäische Partner zusammen, um für das Programm Viral Visions unter dem Thema Dekonstruktion der künstlerischen Immunität zu arbeiten.

Die Erkenntnis, dass es in einer Krise Wichtigeres gibt, als sich um den Erhalt von Kunst und Kultur zu kümmern, traf viele Kulturarbeiter wie -interessierte hart. Die Beteiligten an dem EU-Projekt wollten sich damit nicht abfinden, sondern in die Zukunft schauen. Sie setzten sich das Ziel, „über Vermittlungsprozesse das Bewusstsein für zeitgenössische künstlerische Prozesse und neue Formen zu schärfen, wie auch gleichzeitig das enorme kreative Potenzial eines jeden einzelnen zu erschließen“. Menschen aus Österreich, Kroatien, Frankreich, Italien und Polen schlossen sich zusammen, um gemeinsam daran zu arbeiten. In Deutschland beteiligte sich Arbeit und Leben NRW, eine Weiterbildungseinrichtung des Deutschen Gewerkschaftsbundes und der Volkshochschulen in Nordrhein-Westfalen, sowie das Theater der Klänge aus Düsseldorf an dem Projekt. Im Sommer dieses Jahres läuft das Programm aus. Zeit zu fragen, was es gebracht hat.

Grundsätzlich sind solche Gelder immer gut ausgegeben, weil sie dazu beitragen, grenzüberschreitend Vorurteile und Begegnungsängste abzubauen. Also selbst dann, wenn die Ergebnisse dünn ausfallen. Im Fall von Viral Visions ist nach Angaben der Projektteilnehmer allerdings ein ordentliches Resultat zu verzeichnen. „Gemeinsam haben wir eine Auswahl bewährter Verfahren und Methoden zusammengestellt, die zeigen, wie Kunst und kreatives Handeln, Werkzeuge und neue Perspektiven für den Aufbau von Resilienz und Innovation bieten können“, heißt es in einer Erklärung. Wobei das Modewort Resilienz nichts anderes als Widerstandsfähigkeit bedeutet, also die Kraft, Krisen oder wenigstens Schwierigkeiten entgegenzutreten. Es gibt demnach etwas zu feiern, ehe das Projekt endgültig zu Ende geht.

Zum Abschluss die verdiente Party

Pedro Pauwels – Foto © O-Ton

Im Jungen Schauspiel an der Münsterstraße in Düsseldorf ist eine imposante Bühne aus Marmor-Imitat vor der mäßig besetzten Tribüne aufgebaut, die an ihrer Rückseite eine Projektionsfläche bietet. Nach einem Vortrag von Gabriele Schmitt, die Arbeit und Leben NRW bei dem Projekt vertritt, in dem sie auf Entstehung und Verlauf des Projekts zurückblickt, nutzt Jörg Udo Lensing, künstlerischer Leiter des Theaters der Klänge, die Gelegenheit, im Schnelldurchlauf über die Arbeiten seines Hauses zu informieren, um auf die heutige Aufführung überzuleiten. Lensing, einer der bedeutendsten Kenner des Bauhauses und seiner Geschichte, kann stundenlang über Walter Gropius und seine Mannen erzählen, ohne auch nur einen Moment zu langweilen. Hier beschränkt er sich auf wenige Minuten, um auf die Figurinen von Oskar Schlemmer zu kommen. In der ersten der drei Kurzpräsentationen des heutigen Abends stellt Jacqueline Fischer, Choreografin des Theaters der Klänge, selbst die Figurine Kugelhände aus Trias – Das triadische Ballett vor. Das triadische Ballett war nicht nur Schlemmers berühmtestes Bühnenwerk, sondern gehört als experimentelles Ballett auch zu den eindrucksvollsten Arbeiten des Theaters der Klänge. Und Fischer gelingt es schon mit ihrem kurzen Auftritt, für das Thema zu begeistern.

Aus Polen ist Hoteloko Movement Makers Collective zu Gast. Agata Źyczkowska hat die Compagnie in Warschau gegründet. Heute tritt sie mit Karina Szutko auf, um mit Luxa eine Aufführung zu zeigen, die sich mit dem Thema Luxus und Werten auseinandersetzt. Źyczkowska holt Besucher auf die Bühne, nachdem sie und Szutko hinter gold- und silberfarbenen Vorhängen aufgetreten sind, und stellt ihnen eher lustige Entscheidungsfragen. Danach werden die Freiwilligen etwas ratlos entlassen. Anschließend bringen die beiden Tänzerinnen die Entweder-oder-Entscheidungen in einen Kontext, der nachdenklich stimmt. Ebenfalls eine außerordentlich fantasievolle und gelungene Arbeit, die das Publikum ausgiebig applaudiert.

La Galerie Chorégraphique aus dem französischen Carcassonne ist ein internationales Produktionsbüro, das sich seit mehr als zwei Jahrzehnten auf den zeitgenössischen Tanz spezialisiert hat. Leiter Thierry Gourmelen schickt Pedro Pauwels, Choreograf und Tänzer, auf die Bühne, der aus seiner Choreografie Playlist zwei Ausschnitte zeigt. Sein Solo zu Eternal Flame aus dem Jahr 1988 fasziniert und belustigt zugleich. Zumal man bei der Musik eigentlich selbst nicht ruhig sitzenbleiben kann. Das gilt auch für Évidemment, den Song, den die kanadische Sängerin La Zarra für Frankreich beim Eurovision Song Contest präsentierte. Er kam immerhin auf Platz 16. Hier endet die Choreografie Pauwels damit, dass sich große Teile des Publikums auf der Bühne versammeln, um bei der Party mitzutanzen.

Schöner kann man sich den Ausklang eines Projekts kaum vorstellen. Und so wird der Abend zu einem europäischen Fest, das die Utopie von einem grenzenlosen Europa einmal mehr unterstreicht.

Zurückbleibt von diesem Projekt eine Netzseite, die „Materialien, Sammlungen und Anleitungen sowie eine Fülle von Beiträgen zum individuellen künstlerischen Vorgehen“ zur kostenfreien Nutzung zur Verfügung stellt. So soll es sein.

Michael S. Zerban