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Hintergründe

Leck im Luxusschiff

Der Menschenrechtspreis der Tonhalle Düsseldorf geht in diesem Jahr an Praxis ohne Grenzen, ein Netzwerk von Vereinen, die mittellosen Menschen ärztliche Versorgung bieten. Wie jedes Jahr hat Adam Fischer, Chefdirigent der Düsseldorfer Symphoniker, den Preisträger vorgeschlagen. Mit diesem Vorschlag zeigt Fischer auf eine Lücke im Gesundheitssystem, die skandalös ist.

Adam Fischer und Uwe Denker – Foto © Susanne Diesner

Gesundheit ist ein Menschenrecht“, wiederholt Adam Fischer noch ein Mal, so, als könne er immer noch nicht fassen, wie es um die Gesundheitsversorgung in Deutschland bestellt ist. Als gutverdienender Dirigent hat der Musiker regelmäßig seine Krankenkassenbeiträge gezahlt und ging lange Zeit davon aus, dass auch alle anderen Menschen in Deutschland eine ausreichende Gesundheitsversorgung erfahren. Bis seine Frau ihm erzählte, dass sie gerade eine Spende an die Praxis ohne Grenzen Segeberg überwiesen habe. Seitdem treibt den Musiker das Thema um. „Es ist etwas, was in diesem Land gar nicht bekannt ist, dass Deutsche auch so mittellos sind, dass sie sich keine gesundheitliche Versorgung leisten können. Und das ist eigentlich eine Schande. Und das ist etwas, worüber man sprechen muss. Und das ist etwas, was bislang totgeschwiegen wurde, glaube ich“, sagt Fischer. Deshalb schlug er der Gesellschaft der Freunde und Förderer der Tonhalle vor, den diesjährigen Menschenrechtspreis der Tonhalle Düsseldorf Praxis ohne Grenzen, vertreten durch den Arzt Uwe Denker, zu verleihen.

Dass es in Deutschland eine zunehmende Anzahl von Menschen gibt, die von der Gesundheitsversorgung aus unterschiedlichsten Gründen ausgeschlossen werden, weiß eigentlich jeder Arzt. Und viele Ärzte engagieren sich neben ihrer Arbeit ehrenamtlich, um solchermaßen Benachteiligten zu helfen. So einer ist auch Uwe Denker. In Kiel als Sohn eines Beamten und einer Hausfrau geboren, studierte er Medizin, promovierte und arbeitete sich im Krankenhaus in der Kinderheilkunde zum Oberarzt hoch. Nachträglich absolvierte er den Facharzt für Allgemeinmedizin, um sich seinen Traum vom Hausarzt doch noch zu erfüllen. Auf der Suche nach einer geeigneten Praxis verschlug es ihn nach Segeberg, einer kleinen Kreisstadt in Schleswig-Holstein mit rund 17.000 Einwohnern. 30 Jahre versorgte der Familienarzt Krankenkassenmitglieder zwischen Trave und Segeberger See, ehe er die Praxis seiner ältesten Tochter übergab. 2010 gründete Denker die erste Praxis ohne Grenzen. Hier werden Menschen ohne Ansehen der Person medizinisch behandelt. Als der Arzt begann, erlebte er gleich mal eine Überraschung. „Die Patienten kamen nicht aus Segeberg, wie ich es erwartet hatte, oder aus der Region. Die kamen aus Hamburg, die kamen aus Berlin, die kamen von weit her plötzlich. Es waren keine Flüchtlinge, es waren keine Obdachlosen. Es waren Handwerksmeister, es waren Versicherungsvertreter, es waren Ingenieure. Es war der deutsche Mittelstand in breiter Front.“

Dem Wohle des Volkes dienen

2009 machte der Gesetzgeber den Krankenkassen ein Geschenk, das in seiner Großzügigkeit nicht mehr zu überbieten war. Er schenkte ihnen die Versicherungspflicht für alle. Eine Gelddruckmaschine. Seit diesem Jahr muss jeder, ob zahlungsfähig oder nicht, einer Krankenkasse beitreten. Ein kleiner Grafiker, dem auch schon mal in einem Monat die Aufträge ausbleiben oder wegbrechen, ist da schnell im Rückstand. Bis der wieder ausgeglichen ist, wird der Grafiker in den Notlagentarif eingestuft. Damit entfällt jede medizinische Versorgung außer bei Notfällen, die allerdings von der Krankenkasse definiert werden. Diese Menschen werden dann Nichtzahler genannt, häufen nebenbei Schuldenberge an, ohne sich dagegen wehren zu können, und können beispielsweise ihre Parodontose-Prophylaxe zum Erhalt ihrer Zähne in den Mond schreiben. Diese Menschen, die Politiker gern als Einzelfälle betrachten, machen inzwischen 80 Prozent der Segeberger Patientenklientel aus 48 unterschiedlichen Berufen aus. Im vergangenen Jahr waren es nach Denkers Angaben im gesamten Bundesgebiet über eine halbe Million Menschen, die sich in dieser Situation befinden, Tendenz steigend. Und der Skandal geht weiter. Weil Kinder privat versicherter Krankenkassenmitglieder gesondert versichert werden müssen, unterbleibt das immer häufiger. Unversicherte Kinder, die nicht in den Genuss der Praxis ohne Grenzen oder anderer Hilfseinrichtungen kommen, bekommen auch keine Vorsorgeuntersuchungen oder Impfungen. Eine tickende Zeitbombe.

Als Denker von dem Diabetes-Patienten erzählt, der seine Hilfe viel zu spät suchte und endlich kam, weil die Schmerzen im Fuß mit dem abgestorbenen Zeh nicht mehr auszuhalten waren, muss der Arzt in seiner Erzählung innehalten. Er hat die Folgen deutscher Gesundheitspolitik jeden Tag vor Augen, und das treibt schon mal die Tränen in die Kehle. „Das deutsche Gesundheitswesen ist für mich – ich komme ja von der See in Schleswig-Holstein – wie ein Luxusschiff. Wir als Praxis ohne Grenzen arbeiten unter Deck. Wir haben gesehen, da ist ein großes Leck. Da ist Wassereinbruch. Und das haben wir der Brücke gemeldet. Also dem Gesundheitsminister. Und der ist aber noch beim Captain’s Dinner und schlürft Champagner. Und wenn wir dieses Leck nicht stopfen, dann saufen wir alle ab“, sagt er, als die Stimme wieder bei Kräften ist. Trotz seiner stolzen 81 Jahre erhebt er sie immer wieder. In seiner Praxis ohne Grenzen ist er seltener. Schließlich sitzt dort inzwischen ein großes Team, das sich um hilfsbedürftige Menschen kümmert. Denker treibt sich lieber in Ministerien und auf Kongressen herum, weil er eingesehen hat, dass er seiner Klientel dort mehr helfen kann als mit handfester Therapie bei Rachenkatarrh oder Bluthochdruck. Das sollen die Jungen machen.

Und seine Idee greift um sich. Inzwischen gibt es im gesamten Bundesgebiet zehn Praxen ohne Grenzen, alle als eigenständige Vereine organisiert, aber untereinander eng vernetzt. In Städten wie Hamburg erreichen sie Ausmaße von Polikliniken. „Gesundheit ist ein Menschenrecht“ könnte über jeder einzelnen Eingangstür stehen; über dem Portal des Bundesgesundheitsministeriums steht es nicht.

Adam Fischer hat die richtige Wahl getroffen, davon ist auch die Gesellschaft der Freunde und Förderer der Tonhalle überzeugt. Und so erhält die Praxis ohne Grenzen, vertreten durch den Arzt Uwe Denker, in diesem Jahr den Menschenrechtspreis der Tonhalle Düsseldorf. Dass die Tonhalle in Düsseldorf damit Denker und die vielen ehrenamtlichen Helfer ehrt, ist die eine Seite. Dass er damit dafür sorgen wird, dass über Menschenrechtsverletzungen in der Bundesrepublik Deutschland gesprochen wird, die vielleicht wichtigere. Ob sich die Hoffnung Fischers erfüllt, wird sich schon am 5. Mai zeigen. Dann wird Denker den Preis stellvertretend anlässlich eines Konzerts in der Tonhalle entgegennehmen. Und, wie passend, der Sturm von Joseph Haydn als Chorkantate in das Konzerthaus einziehen, ehe Fischer Johannes Brahms‘ Erste Symphonie dirigieren wird.

Michael S. Zerban