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Hintergründe
Der Einsatz von Augmented Reality verspricht eine sinnliche und kognitive Steigerung des Opernerlebnisses. Der Düsseldorfer Probelauf mit Korngolds Werk Die tote Stadt verspricht zumindest Erkenntnisse, auf die sich aufbauen lässt.
Werden in Zukunft immer mehr Liebhaber die Opernaufführungen von Luisa Miller, Billy Budd oder Tannhäuser mit einer wuchtigen verdunkelten Brille verfolgen, die per Kabel mit einem Smartphone verbunden ist? Werden diese Besucher das ohnehin komplexe Erlebnis Oper noch um eine weitere Stufe der Durchdringung steigern? Wird sich das Genre Oper vom Multimedia- zum Digital-Ereignis fortentwickeln? Solche Fragen drängen sich unter dem Eindruck des aktuellen Pilotprojekts an der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg auf. Es ist unter dem experimentellen Einsatz von Augmented Reality (AR) darauf angelegt, das Live-Erlebnis im Parkett und auf den Rängen um eine digitale Informations- und Erlebnisebene zu erweitern.
Seit der Premiere von Erich Wolfgang Korngolds romantischem Schauerdrama Die tote Stadt am 16. April – O-Ton berichtete – können sich jeweils 30 Besucher bei insgesamt sechs Vorstellungen der Neuproduktion zusätzliche digitale Informationen individuell zuspielen lassen. Ein Anreiz speziell für ein junges Publikum, das bekanntlich alles cool findet, was mit digitalen Tools verknüpft ist? Der Düsseldorfer Generalintendant Christoph Meyer verspricht sich von dem Probelauf „einen Impuls für die allgemeine Debatte über Formen der Ansprache eines neuen Publikums im digitalen Zeitalter“. Es gehe um die Ermöglichung eines „neuen, niedrigschwelligen Zugangs zur analogen Welt des Musiktheaters“. Ob dieses Versprechen Substanz hat, wird zu untersuchen sein, spätestens in Form der Auswertung nach Ablauf des Projekts.
Vielfältige Anwendungsgebiete
Augmented Reality ist der Oberbegriff für die computerbasierte Erweiterung der Wahrnehmung von Wirklichkeit in vielfältigen Anwendungsgebieten, nicht zuletzt in Kunst und Kultur. Die natürlichen Sinneswahrnehmungen werden durch virtuelle Objekte ergänzt, die auf ein partiell durchsichtiges Glas projiziert werden, das auch der Betrachtung der natürlichen Objekte dient.
Die Teilnahme am AR-Piloten, den die Deutsche Oper am Rhein in Zusammenarbeit mit einem Mobilfunkunternehmen auf Grundlage des Mobilfunknetzes 5G entwickelt, beginnt mit einer technischen Einweisung durch einen freundlichen Mitarbeiter der Innovationsabteilung des Unternehmens. Er erläutert Sinn und Zweck des Einsatzes der Apparatur, die ihre Funktion nach Verbindung von AR-Brille und Smartphone per Kabel startet, wenn, ja wenn der Button zum Einspielen der Daten zur Produktion auf der Bühne gefunden ist, die bei Sekundenbruchteilen Verzögerung just in time abgerufen werden. „Cursor“ der Navigation ist ein kreisförmiger weißer Punkt, der via Kopfbewegung gesteuert wird und die verschiedenen Menüpunkte mobilisiert.
Die Projektteilnehmer sind mittig bis seitlich im zweiten Rang des Opernhauses platziert. „Aufgrund der Sichtlinien“, wie dazu in den Begleitinformationen erläutert wird, sei das notwendig. Die Navigation funktioniert aber nur bei ruckartigen Kopfbewegungen. Unter den auch dort sitzenden Opernbesuchern ohne AR-Technik löst das gewisse Irritationen aus, was aber durch das Vorhandensein des technischen Equipments leicht erklärbar ist.
Erster Eindruck enttäuscht
Der erste Eindruck ist bekanntlich prägend, hier ist er enttäuschend. Das Sichtfeld der AR-Brille gibt das optische Erscheinungsbild der Bühne dunkler und trüber wieder. Überdies wird das intelligente Lichtdesign der Ausstattung nicht farbgetreu vermittelt. Die weißen Menüpunkte in der oberen Zeile des Screens zittern. Nach dem Ansteuern lässt sich dort die Handlung abrufen, die in wenigen Zeilen erklärt wird. Ferner gibt es Informationen zum Komponisten sowie Fotos und biografische Notizen zu den Sängerdarstellern in den Hauptpartien. In der Summe sind es Angaben, die auch einschlägige Quellen bei der Vorbereitung auf den Opernbesuch oder am Tag der Aufführung das Programmheft bieten. Die im Sichtfeld präsentierten Untertitel in Deutsch und Englisch lassen sich zwar sehr gut im zweiten Rang verfolgen. AR-immanent lesen sie sich indes eine Spur prägnanter und näher.
Einen virtuellen Zusatznutzen versprechen die drei auf den Orchestergraben gerichteten Kameras. Zwei davon zeigen den stets gleichen Ausschnitt, da – anders als bei jeder TV-Übertragung – keine Zoom-Funktion existiert. Originell ist immerhin der Kamerablick auf den Dirigenten, der frontal zu sehen ist. Aber auch der ist statisch und nutzt sich wie die beiden anderen virtuellen Kameraeffekte relativ rasch ab.
Über den Wert der Zusatzinformationen lässt sich diskutieren. Ob die Information, dass der im Libretto erwähnte See Minnewater, genannt „See der Liebe“, im Zentrum von Brügge liegt, relevant ist, darf bezweifelt werden. Ebenso die Angabe über das Gewicht der Ausstattung. Interessanter ist da schon der Hinweis, dass Korngold die Schrift Trauer und Melancholie von Sigmund Freud kannte und verarbeitete. Eben in dieser emotionalen Verfassung steckt ja Paul, der dem Leben zu entraten droht, bevor mit Marietta „das Leben in sein Dasein bricht“. Auch das erfährt der AR-Proband via Zusatzinformation.
Aufteilung der Konzentration
Innovative Wege zu gehen ist in angespannten Zeiten immer besser, als die Hände in den subventionierten Schoss zu legen. Ein erstes Resümee wird daher von einem gewissen Wohlwollen begleitet. In seinem jetzigen technischen Status ist das „digitale Opernglas“ nur bedingt zu empfehlen. Es könnte sich allerdings bei technischer und Daten-bezogener Evaluierung zu einem echten Mehrwert entwickeln. Im Zuge der Digitalisierung der Gesellschaft und ganzer Klassen von Berufen wird AR an Bedeutung gewinnen. So ist es wahrscheinlich, dass immer Menschen mit digitalem Equipment ausgestattet sind und so mit der exakt auf sie eingestellten AR-Brille in das Musiktheater kommen. Damit entfiele die Aufteilung der Konzentration des Besuchers auf das Bühnengeschehen einerseits und die Beherrschung der Technik andererseits, insbesondere in der Anfangsphase einer Aufführung.
Zudem – ein zweiter Grund – ließe sich der AR-Content noch deutlich ausweiten. Klug recherchierte und professionell aufbereitete Zusatzinformationen nicht zuletzt in Videoformaten würden auch von Opern-Aficionados als echter Mehrwert geschätzt, die sich auf eine bestimmte Aufführung mit klassischen Quellen vorbereiten oder das Werk aus mehreren Besuchen unterschiedlicher Produktionen kennen.
In dieser Denkrichtung ist die Einschränkung allerdings bereits angelegt. Besonders komplexe Stoffe – Die Soldaten von Bernd Alois Zimmermann oder Jörg Widmanns Babylon beispielsweise – dürften nicht zwingend für die AR-Vermittlung geeignet sein. Ebenso wäre früh von der Vorstellung Abschied zu nehmen, neue Besucher – junge Zielgruppen insbesondere – ließen sich allein durch den technischen Anreiz für die Kunst der Oper erwärmen, der sie zuvor ausgewichen sind.
Immer noch gewinnen herausragende Produktionen Publikum, die entweder ein Werk in seinen Quellen und Intentionen ausleuchten oder einen Stoff, oft einen historischen, in einer packenden Inszenierung zur Geltung bringen. Mit Peter Tschaikowskys Jungfrau von Orleans hat die Deutsche Oper am Rhein ein Beispiel in der aktuellen Spielzeit präsentiert.
Ralf Siepmann