O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Sandra Then

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Die Phantome des Puppenmachers

DIE TOTE STADT
(Erich Wolfgang Korngold)

Besuch am
16. April 2023
(Premiere)

 

Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg, Oper Düsseldorf

In Georges Simenons Roman Die Fantome des Hutmachers, von Claude Chabrol verfilmt, platziert der Protagonist Léon Labbé eine Schneiderpuppe an sein Wohnzimmerfenster. Ihr Schatten soll Passanten vortäuschen, dass seine von ihm ermordete Frau noch lebt. Es folgen weitere Morde, bis ein Fehler des Hutmachers dafür sorgt, dass das psychopathologische Spiel auffliegt. In der Neuproduktion der Oper Die tote Stadt von Erich Wolfgang Korngold an der Oper Düsseldorf ist erneut ein Puppenmacher am Werk.

Diesmal ist es Paul, der Protagonist der Geschichte, der nach dem der Tod seiner Frau Trauerarbeit leistet, indem er professionell Puppe um Puppe nach dem Bild seiner geliebten Marie produziert, um ihr Andenken möglichst mustergültig zu bewahren und sich mit ihr über den Tod hinaus eins zu fühlen. Der US-Amerikaner Daniel Kramer versteht bei seinem Deutschland-Debüt als Regisseur die Puppe als Inkarnation des Traums von der Wiederkehr einer Wirklichkeit, die ihrem Schöpfer selbst nur als Traum begreiflich, nur als Erscheinung Gestalt gewesen ist. Seine Inszenierung, die die geistig-kulturellen Einflüsse der Metropole Wien nach dem Zusammenbruch des Habsburg-Reiches auf den gerade 23-jährigen Komponisten aufgreift, die Entdeckungen Sigmund Freuds nicht zuletzt, erzählt mit dramaturgischer Intensität und in spektakulären Bildern vom Geheimnis der menschlichen Existenz im Zwischenraum von Leben und Tod, von Eros und Thanatos.

Brügge ist für die Oper auf ein Libretto von Paul Schott, einem Pseudonym von Korngolds Vater, nach dem Roman Bruges-la-Morte des Belgiers Georges Rodenbach ein adäquater Schauplatz. Im Mittelalter verödet das Zentrum Westflanderns nach der Versandung seines einstigen Großhafens zu einer „toten Stadt“. Hier kann Paul seine rigorose Monogamie und seine Gefühlswelten aus Schmerz, Erinnerung und Melancholie hemmungslos ausleben. Erst als er Marietta, eine Tänzerin, kennenlernt, die Marie bis in die Haarspitzen zu gleichen scheint, wird Paul gezwungen, sich der Realität zu stellen. Marietta, einerseits Favoritin des Theaters und des Varietés, andererseits Kurtisane der Halbwelt, begehrt Paul aus den Quellen eines unbändigen Lebensgefühls. Lust quillt aus mir, braust in mir und verbrennt mich. Sie ist weit davon entfernt, ihn mit dem Phantom des Puppenmachers zu teilen.

In der Romanvorlage ermordet er Mariette, um seine idée fixe von den Liebenden, die auch der Tod nicht trennen kann, zu bewahren. Im Libretto der Oper wird die Tötung der Tänzerin wie die gesamte Begegnung beider in einen Tagtraum Pauls verlagert, aus dem er erwacht und der „toten Stadt“ den Rücken kehrt. So wird er zu einem, dem frei nach Goethe auf Erden noch zu helfen war. So überlebt denn auch Marietta im Finale der Düsseldorfer Aufführung, wobei offenbleibt, wie sie die Konfrontation mit den menschlichen Abgründen überstehen wird.

Foto © Sandra Then

Kramers originelle Grundidee ist seine Entscheidung, die Rollen von Marietta und Marie zu teilen, weil es sich bei ihnen, wie er erklärt, auf einer spirituellen Ebene „um Repräsentationen von Leben und Tod“ handele. Völlig unprätentiös ist die Stube Pauls, in dem das erste und zweite der drei Bilder spielen. Hier ist alles alt und gespenstig, schildert Brigitta, seine Haushälterin, das Verlies, die von der Mezzosopranistin Anna Harvey engagiert und selbstbewusst gegeben wird.

Marg Horwells Bühnenbild bietet eine Kombination von drei Raumkonstellationen. Links ein heruntergekommenes Single-Appartement mit Handwerkszeug zum Schneidern der Puppen, das in einen Raum überzugehen scheint, in dem Leichen präpariert werden. Rechts ein Nebenraum mit Puppe und Abbildung der Marie, ergänzt um den Schrein mit den Devotionalien der Toten, gekrönt von einer ausgestellten Haarsträhne auf einem Altar. Im Hintergrund mittig die Fassade der Stadt, unterbrochen von einem prächtigen Tor, vor dem sich im Mittelbild das Treiben der Nonnen und der Artistentruppe abspielen, die Mariettas Libertinage rühmt. Ein pittoresker Ort, zu dem vorzüglich Mein Sehnen, mein Wähnen, das Tanzlied des Pierrot, passt. Der Bariton Emmett O’Hanlon, der die Partie des Fritz wie die des Frank gibt, singt es mit nobler Attitüde.

Horwells Kostüme, opulent und fantasievoll, zeichnen die Dualität von Marietta und Marie mit akribischer Genauigkeit nach. Nadja Stefanoff agiert als Marietta prunkvoll oder in elegantem Weiß. Man mag sich nicht wirklich ausmalen, wie diese rassige Schönheit unter einem Rasiermesser in einer Badewanne zu Grunde geht, was im Schlussbild angedeutet wird. Die Eleganz Mariettas kontrastiert höchst wirksam mit dem Schwarz der Marie, die sich durch eine eigenwillige, bisweilen wurmartige Körpersprache in die mysteriöse para-reale Figur hineinschraubt, die sie in Kramers Konzept ist. Dieses grundstürzende Schwarz könnte auch als Symbolisierung der Todessehnsucht Pauls gedeutet werden. Die kluge Lichtregie von Peter Mumford unterstreicht durch den kreativen Wechsel der Farben von grellem Weiß über sattes Violett und dunkles Rot-Braun die massiven Stimmungsschwankungen.

Die Regie treibt es wie die Theatergruppe Mariettas gern frivol. Die Artisten schlängeln sich lasziv um einen Sarg, in dem am Ende Marietta verschwindet. Ein Bacchanal, das recht gut zu den wilden Jahren passen könnte, die Korngold vorausgesehen haben dürfte, als er seine Komposition verfasste.

Marietta mithin an ihrem eigenen Blut erstickt? Oder doch nicht? Nichts in diesem Vexierspiel im Zwischenreich von Dingen, die man fassen, und von Geschehnissen, die man nicht erfassen kann, ist wirklich. Marie, mit Hingabe gespielt von Mara Guseynova, ist ständig präsent, obgleich sie betrauert wird. Sie geht handgreiflich auf ihre Rivalin los, obwohl ihr wie einem Fabelwesen alle Kräfte fehlen.

Korngolds Musik ist expressiv, gewaltig, lyrisch, von monströser Farbigkeit und rührender Innerlichkeit. Die symphonisch geprägten Teile vermitteln die seelischen Prozesse der Handelnden, die musikdramatischen den Fortgang des Geschehens. Mit Anleihen an Giacomo Puccini und Richard Strauss ist der Schüler von Alexander von Zemlinsky durchaus Kind seiner Zeit und doch schon auch erstaunlich er selbst. Seine Fähigkeit, mit einfachen Melodien schwelgerische Empfindungen hervorzurufen, ist phänomenal. Seine Musik trage, sagt GMD Axel Kober, der Dirigent des Abends am Pult der Düsseldorfer Symphoniker, „ihr Herz auf der Zunge“. Und mit diesem Impetus in allen Orchestergruppen sorgen die Musiker für einen gefühlvollen Opernabend im Übergang von der Spätromantik zur frühen Moderne.

Foto © Sandra Then

Beide Hauptpartien sind äußerst anspruchsvoll, verlangen farbige Ausdrucksgestaltung und Kraft sowie das Vermögen, sich gegen den Orchesterapparat zur Geltung zu bringen. Die Tenorpartie des Paul fordert Volumen und Ausdauer, liegt partiell deutlich höher als die Heldentenorpartien bei Richard Wagner. Corby Welch, gestählt in zahlreichen Siegfried-Aufführungen, besticht bei seinem Rollendebüt als Paul mit lodernder Verve und einem mitreißenden Timbre. Großartig seine Mimik und seine Spinto-Kunst in der Schlussszene O Freund, ich werde sie nicht mehr wiedersehen, in der die Sehnsuchts-Melodie von Glück, das mir verblieb, Mariettas Lied, noch einmal aufgenommen wird. Im ersten Bild hat es beide in einem Duett zusammengeführt, das so schön wie trügerisch ist.

Als Marietta bietet die Sopranistin Nadja Stefanoff genügend hochdramatische Substanz auf, die zur Beherrschung der Rolle erforderlich ist. Ihr gelingen die Intervall-Sprünge bis herunter zur Sprachgrenze souverän, während ihre Höhe immer wieder zu greller Artikulation neigt. In der Mittellage gewinnt sie Format durch eine sinnlich-warme Stimmfarbe, die sie erst recht zu einem Objekt erotischer Begierde macht. Der von Gerhard Michalski einstudierte Chor der Oper am Rhein sowie der Düsseldorfer Mädchen- und Jungenchor in der Szene der Prozession der Kinder machen ihre Sache gut, ebenso wie die weiteren Mitwirkenden bis hin zu den Statisten.

Zu Recht feiert das äußerst angetane Publikum im vollbesetzten Haus alle Künstler mit Jubel und Bravo-Rufen, am stärksten Welch und Kober, dem nach dem gerade wieder aufgenommenen Siegfried ein neuerlich Coup der Hochromantik gelingt.

Wie weit darf der Mensch Träumen trauen, die ihm das gewollte Leben als Wunschprojektion vorspiegeln? In der Toten Stadt ist die Frage nicht gestellt, aber in Pauls letzten Worten beantwortet: „Ein Traum hat mir den Traum zerstört, ein Traum der bitteren Wirklichkeit den Traum der Phantasie“. Wie verführerisch das Bittere und das Schöne eins zu werden vermögen, kann so mitreißend wohl nur die Kunst der Oper zeigen. Das Düsseldorfer Haus hat nun ein Pfund, mit dem es erst einmal wuchern kann.

Ralf Siepmann