O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

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Hintergründe

Vorprogrammierte Ablenkung

Erweiterte Wirklichkeit heißt im Englischen Augmented reality. Damit ist nicht die Wirkung eines erfolgreichen Drogenkonsums gemeint, sondern die computergestützte Erweiterung der Realitätswahrnehmung. Die kann allerdings – theoretisch – alle Sinne ansprechen. Wie das im Bereich der Oper aussehen könnte, erprobt jetzt die Deutsche Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg.

Christoph Meyer denkt über neue Wege der Vermittlung nach. – Foto © Andreas Endermann

Mit 23 Jahren komponierte Erich Wolfgang Korngold die Oper Die tote Stadt. Gemeinsam mit seinem Vater Julius schrieb er unter dem Pseudonym Paul Schott das Libretto. 1892 veröffentlichte Georges Rodenbach den symbolistischen Roman Bruges-la-morte, der die Grundlage dafür darstellte. Inzwischen ist die Oper mehr als 550 Mal aufgeführt worden und damit eines der wenigen Beispiele für Komponisten, die auch nach 1945 noch Beachtung fanden, obwohl die Nationalsozialisten wegen der jüdischen Abstammung Korngolds das Stück von den Bühnen verbannten. Ein Grund dafür ist neben der spätromantischen Musik sicher die surrealistische Handlung. Paul bewohnt die „Kirche des Gewesenen“, ein Zimmer irgendwo in Brügge, das mehr an einen Gedächtnisort für seine verstorbene Frau Marie erinnert. Die Tänzerin Marietta ist der Toten so ähnlich, dass Paul sich von ihr in den Bann gezogen fühlt. Für Marietta eine tödliche Begegnung, für Paul anschließend der Grund, Brügge für immer zu verlassen. Dank der Traumphasen im zweiten und dritten Akt sollte die Oper die Fantasie eines jeden Regisseurs auf Hochtouren treiben. An der Deutschen Oper am Rhein Düsseldorf Duisburg bekommt jetzt Daniel Kramer die Gelegenheit, die Faszination des großartigen Stoffs zu vermitteln. Mit Tenor Corby Welch als Paul und Sopranistin Nadja Stefanoff als Marietta bekommt er jedenfalls schon mal Spitzensänger.

Foto © Lukas Loss

Und die Rheinoper setzt noch einen drauf. Sie hat es dringend nötig. Wenn sie sich sprachlich von ihrem Publikum ins Nirwana der Geschlechterspaltung verabschiedet, das Publikum wegbleibt, so, wie es derzeit auch vielen anderen geht, muss sie sich andere Wege der Vermittlung einfallen lassen. „Bei unserem Projekt steht der Vermittlungsgedanke im Vordergrund“, heißt es dementsprechend auch bei Christoph Meyer, Intendant der Oper. Und da hilft bekanntlich die Flucht nach vorn. Das heißt ins Digitale. So hat die Rheinoper in Kooperation mit einem Telekommunikationsunternehmen ein neues Projekt aufgesetzt, das sie jetzt bei der Toten Stadt ausprobieren will. Es geht um computergestützte, erweiterte Realitätswahrnehmung, also auf neudeutsch augmented reality. Pro Aufführung bekommen 30 Zuschauer, die zuvor eine Einweisung erfahren, die Gelegenheit, sich während der Vorstellung Brillen aufzusetzen, um Zusatzinformationen zur Oper abzurufen. Unter dem Projekttitel Digitales Opernglas können sie wahlweise auf Hintergrundinformationen zur Oper, zu den Solisten, auf Übertitel in zwei Sprachen, Blicke in den Orchestergraben oder Bilderwelten beispielsweise bei musikalischen Intermezzi zugreifen. Die Steuerung zur Auswahl der Inhalte erfolgt über Kopfbewegungen, die in Steuerungsbefehle umgesetzt werden. „Unser digitales Opernglas verknüpft Live-Erlebnis und immersive Technologie miteinander, um so einen neuen, niedrigschwelligen Zugang zur analogen Welt des Musiktheaters zu ermöglichen. Die Arbeit an dem Prototyp ist Teil unserer Strategie, durch digitale Angebote den Zugang zu Oper und Ballett zu erleichtern“, verdeutlicht Meyer die Idee dahinter und versetzt dem Stammpublikum damit abermals einen Stich.

Da wundert man sich, warum dazu unbedingt eine Kooperation mit einem Telekommunikationsunternehmen notwendig ist. Schließlich würde man das erst mal bei einem Software-Unternehmen verorten, das großartige Brillen entwickelt. Aber wer bei Vodafone Kunde ist, weiß nur allzu gut, worauf es wirklich ankommt, weil es daran im Alltagsbetrieb allzu oft hapert – auf die Übertragungsgeschwindigkeit. „Grundlage für entsprechende Anwendungen ist das neue Mobilfunknetz 5G, in dem die Daten besonders schnell fließen“, erklärt Michael Reinartz, der bei dem Unternehmen für Innovationen zuständig ist.

Mut zur Innovation

Michael Reinartz will Augmented Reality in der Oper einsetzen. – Foto © Vodafone

Man kann über die Idee nicht ernsthaft debattieren, ohne gleich als fortschrittsfeindlich zu gelten. Obwohl Vorbehalte bezüglich der Konzentration auf das eigentliche Geschehen auf der Bühne durchaus angebracht sind. Und auch sonst scheint das Verfahren noch reichlich kompliziert, aber Komplikationen stehen ja wohl am Anfang jeder Innovation. Für die Zuschauer, die sich entschließen, das einmal auszuprobieren, steht ein ziemlicher Aufwand bevor. Brillenträger, die nicht mal eben auf Kontaktlinsen umsteigen, sind sowieso von dem Versuch ausgeschlossen, weil die Brillen sich nicht auf die Augen einstellen lassen. Das ist ungefähr so, wie man in Italien eine Sonnenbrille kauft, die nicht optisch geschliffen ist. Très chic, aber eigentlich nutzlos. Die Ausleihe der Brillen und der Smartphones, die für den Einsatz notwendig sind, ist nur gegen Pfand in Form eines Personalausweises, Reisepasses oder Führerscheins möglich. Und dann muss man auch noch eine Einweisung über sich ergehen lassen, ehe man Plätze in der Mitte des zweiten Ranges des Opernhauses zugewiesen bekommt, die mit satten 56 Euro zu bezahlen, also ohnehin nur für Besserverdienende vorgesehen sind, wenn man nicht in den Genuss einer Ermäßigung kommt.

Es ist übrigens nicht der erste Versuch, die Digitalität in das Analoge einzubinden. Die Oper Wuppertal hat vor zwei Jahren damit gearbeitet, Informationen zu einer Oper auf dem Handy anzubieten. Das wurde sang- und klanglos wieder eingestellt. Bleibt zu hoffen, dass die Rheinoper mit ihren Brillen, Smartphones und Kopfbewegungen erfolgreicher ist.

Michael S. Zerban