O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Frankfurter Singakademie - Foto © N.N.

Hintergründe

Zwischen Bangen und Zuversicht

Chorfestivals und Konzerttermine werden verschoben. Chormanager hoffen auf neue Planungssicherheit. Aktuelle Signale aus der Chorcommunity erscheinen wie ein Exempel vom Fallen und Wieder-Aufstehen.

Günter Titsch – Foto © Interkultur

Für 15.000 Sängerinnen und Sänger war das Deutsche Chorfest Leipzig im Zeitraum vom 30. April bis 3. Mai ein wichtiges Datum im Terminkalender. Geplant beim alle vier Jahre vom Deutschen Chorverband veranstalteten Event waren Auftritte der gut 400 angemeldeten Laienchöre in Konzerthallen, Kirchen und Veranstaltungsräumen der ganzen Stadt. Im Fokus der Vorfreude vieler Akteure: der auf zwölf Kategorien ausgelegte Chorwettbewerb. In Sparten wie Alte Musik, Kantorei, Kinderchöre, Jugendchöre und Männergesangvereine sollten die Gäste Publikum und Juroren zeigen können, was sie beherrschen. Doch der Corona-Virus hat einen brutalen Strich durch alles gemacht, die vielen Proben und Vorbereitungen ins Leere laufen lassen. „Gesundheit geht vor“, lautet die unmissverständliche Devise des Präsidenten des Verbandes, des Ex-Bundespräsidenten Christian Wulff. Für das Festival werde jetzt mit Partnern und Förderern wegen eines Ausweichtermins gesprochen, verlautete aus der Berliner Verbandsgeschäftsstelle. 2022 ist nun im Gespräch.

Wie alle sozialen Erscheinungsformen sind Chöre dicht an der Nahtstelle gesellschaftlicher Umbrüche und so etwas wie eine Membran von Veränderungen, erst recht bei disruptiven Dimensionen. Unter dem Druck der Pandemie ist die Leipziger Absage wahrlich kein Einzelfall. So banal es klingen mag – der Corona-Virus macht an nationalen Grenzen keinen Halt, beschränkt sich folglich auch nicht auf die deutsche Chorszene. Aktuell kann von dem globalen viralen Tsunami Interkultur ein schmerzliches Lied singen, im wahrsten Sinne des Wortes. Die in Hessen beheimatete Organisation veranstaltet seit über 30 Jahren Chorfestivals und Chorwettbewerbe. Darunter die alle zwei Jahre ausgetragenen World Choir Games (WCG), der Chorwettbewerb mit dem weltweit größten Radius. Nun musste Günter Titsch, Begründer und Präsident der 2000 gestarteten WCG, die für Juli 2020 mit langem Vorlauf im belgischen Flandern geplante elfte Ausgabe dieses Wettbewerbs in den Juli 2021 verschieben. Die Entscheidung wurde im konstruktiven Zusammenwirken mit den Partnerstädten Antwerpen und Gent sowie der Regionalregierung getroffen.

Rekordanmeldung mit 542 Chören

Betroffen sind die musikalischen, organisatorischen und finanziellen Planungen von 542 Chören aus 69 Ländern und Regionen. Mit mehr als 21.000 Sängerinnen und Sängern aus der ganzen Welt erreichten die WCG eine Rekordanmeldequote in der 20-jährigen Geschichte dieses Events mit dem Markenkern, in unmittelbaren Begegnungen insbesondere die Jugend der Welt unabhängig von Herkunft, Haltung oder Bekenntnis zusammenzubringen. Einen „großen Schritt für die Chorwelt“ nennt Titsch die Entscheidung, „das kulturelle Zusammentreffen der Welt“ auf den Juli des kommenden Jahres umzudirigieren.

Es braucht nicht viel Fantasie, sich vorzustellen, wie jäh umgeworfene Vorplanungen in den Bereichen Visa-Beschaffung, Sponsoring und auch individuelle Lebensplanung jetzt neu überdacht und getroffen werden müssen. So ist gut nachvollziehbar, warum Titsch gerade den Chören „für ihre Geduld und ihre Solidarität“ dankt. Deren Quelle macht er in „der Stärke des gemeinsamen Singens“ aus. Für Resignation gibt es da keinen Raum. Alle Kräfte seien auf die Zukunft gerichtet, betont der Präsident, um die elften WCG zum „schönsten, buntesten und erfolgreichsten Kulturereignis des Jahres 2021“ zu entwickeln.

Zwischen der Verarbeitung von Enttäuschungen und der Suche nach einer Zukunftsperspektive verlaufen jetzt, da nichts mehr so ist, wie es noch im Februar war, die praktischen wie die psychologischen Muster der Annäherung an die neue Situation in vielen Chören. Ein Beispiel ist die bis zu 120 aktive Sänger starke Frankfurter Singakademie. Sie versteht sich nicht als ein reiner Oratorienchor, sondern engagiert sich gezielt für die Förderung von jungen Leuten, um sie an das Ensemble heranzuführen und in Kontakt mit geistiger Musik zu bringen. Auf die Virus-Krise reagiert Jan Hoffmann, ihr Leiter, mit der Maßgabe, die Proben „bis auf Weiteres“ einzustellen. Das städtische Haus der Chöre, Probenraum für die großen Chöre Frankfurts, bleibt somit wie viele Kultureinrichtungen derzeit geschlossen. Ist für die Singakademie in so weite Ferne gerückt, wie das eigentlich geplante nächste Konzert, eine Aufführung von Haydns Schöpfung am 7. Juni in Wetzlar.

Online-Probe via Zoom

Konkrete Planungen stehen derzeit nicht auf der Tagesordnung. „Da es absolut unklar ist“, konstatiert Hoffmann, „wann und wie es weitergeht, werden wir erst später entscheiden können, welche Projekte noch realisierbar sind und welche verschoben werden müssen.“ Sind alle Überlegungen um konkrete Projekte erst einmal unterbrochen, gilt das nicht für die interne Kommunikation. „Selbstverständlich stehe ich in stetigem Kontakt über Telefon und Video zu meinem Vorstand“, erläutert Hoffmann die Sachlage. „Ebenso halten wir die Sänger und Sängerinnen per Mail auf dem Laufenden.“

Einen Schritt weiter hat der A-cappella-Chor BonnVoice, 2018 Siegerchor beim WDR-Casting Der beste Chor im Westen, erprobt. Sein für den 18. April vorgesehenes Konzert im Bonner Pantheon musste in den September verschoben werden. Um – auch wegen der ausfallenden Proben – ein Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen, berichtet Jule Winand, Alt-Stimme und Vorstandsmitglied, habe sich BonnVoice eine „besondere Idee“ einfallen lassen. Als „HomeStudio-Edition“ präsentiert das Ensemble auf YouTube seinen Repertoire-Song Ich seh Dich. Das Video ist eine technisch professionelle Collage der 40 Sängerinnen und Sänger, für die die jeweilige singuläre visuelle und akustische Digitalspur am Computer zusammengefahren worden ist. „Sehr schön. Super Idee. So kommt man/ihr doch zusammen“, kommentiert User Iceman X das Experiment. So bleibt auch die Spannung innerhalb der Formation im Hinblick auf künftige Konzerte einigermaßen erhalten.

Digitale Tools sind für den Jazzchor Freiburg, 2017 bei der ersten Ausgabe der von Interkultur initiierten TV-Show Eurovision Choir of the Year (ECY) für Deutschland am Start, von aktuell wachsender Bedeutung. Wöchentlich treffe man sich via Zoom, Marktführer für Videokonferenzlösungen, zur Online-Probe, berichtet Nina Ruckhaber, einst Geschäftsführerin, jetzt aktive Sängerin des Freiburger Ensembles sowie in anderen beruflichen Funktionen unterwegs. So entstehe gemeinsames Singen, „wenn auch jeder in seinem stillen Kämmerlein agiert, ohne die anderen zu hören“. Natürlich tausche man sich weiterhin viel in der Kommunikationsgruppe auf dem Handy aus. Gern bewege man sich, ergänzt Ruckhaber, auch auf Social Media, um zu sehen, „was die anderen derzeit so machen“. Die Enttäuschung über die Absage eines im April in Wolfenbüttel geplanten Konzerts klingt zwar noch nach, dennoch geht der Blick des Jazzchors Freiburg nach vorn. „Wir können natürlich erst Ende April weiterplanen, hoffen indes, dass unser Konzert nachgeholt wird“, sagt Ruckhaber. Von Frustration keine Spur. Auf Sicht würden ein Videodreh und weitere gemeinschaftliche Aktivitäten nach der Corona-Zeit geplant.

„Voller Energie und Kreativität“

Wer fällt, weiß, dass er wieder aufstehen muss. In der Chorszene sind viele, die darum wissen. „Die weltweite Chorcommunity“, sagt Titsch, ein erster Kenner der universalen Szene, „ist vital, voller Energie und Kreativität. Sie hat schon mehrfach unter Beweis gestellt, dass sie sich von Rückschlägen nicht unterkriegen lässt.“ Für diese Perspektive hat der Chur Cölnische Chor Bonn vor einiger Zeit ein eindrucksvolles Bild gefunden. Der Kammerchor intonierte Paul Hindemiths Six Chansons nach Texten von Rilke. In einem dieser Chansons beschreibt Rilke ein Geschöpf der Natur, in dessen Augen sich „ein schönes Bildnis alter Wälder spiegele“, „wieviel feste Zuversicht gemischt mit wieviel Angst“!  Ein Bild, das für das Ganze sprechen mag.

Ralf Siepmann