O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Hintergründe

Widerstand ist das Minimum

Was am 15. April in Berlin passiert ist, ist nichts weniger als ein Skandal. Da verkündet Bundeskanzlerin Angela Merkel quasi en passant, dass das Aufführungsverbot bis Ende August bestehen bleibt. Ein Nebensatz. Unter all den „wirklich wichtigen Problemen“. Die Kulturlandschaft wird lahmgelegt. Hier haben auf breiter Front alle versagt. Eine Polemik.

Die Schockstarre der Kulturschaffenden hält offenbar ungebrochen an. Anstatt im Vorfeld ordentliche Lobby-Arbeit zu leisten, wie es für jedes Unternehmen selbstverständlich ist, haben sie heute vor dem Fernseher respektive dem Internet gesessen und in einem Nebensatz erfahren, dass das Aufführungsverbot bis Ende August verlängert wird. Gut, bei den großen, staatlich subventionierten Institutionen wird es vielleicht sogar ein kleines Aufatmen gegeben haben, scheint doch die nächste Spielzeit entgegen „pessimistischer“ Prognosen möglich. Das Nachsehen haben nicht nur die Kleinen, die privaten Theater, die Kollektive der so genannten Freien Szene und so weiter, sondern in erster Linie heißt es: Die Sommerfestivals gehen über den Jordan, werden mit einem Handstreich weggewischt. Das ist ein Skandal!

Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht von einem „zerbrechlichen Zwischenerfolg“. Allmählich reicht es. Von 83 Millionen Deutschen sind rund 132.000 Menschen nach offiziellen Zahlen am 15. April am Virus erkrankt, mehr als die Hälfte ist inzwischen wieder genesen. Die Verdoppelungszeit ist inzwischen über einen Monat hinausgewachsen. Ein Monat! In Deutschlands Krankenhäusern stehen zehntausende Betten leer, die erste Klinikgruppe will Kurzarbeit anmelden, weil die Patienten ausbleiben. „Zerbrechlicher Zwischenerfolg“? Mag sein. Aber was in Sachen Kultur abläuft, ist eine Farce. Es gibt keinen, gar keinen Grund für Aufführungsverbote, die die Kultur gleich mal als Arbeitsverbote interpretiert hat.

Anstatt kämpferisch vor die Regierung zu treten, um so künftige Einnahmen zu generieren, ergehen sich die Kulturschaffenden in Klagen darüber, dass die angekündigten Hilfen des Staates ausbleiben. Bei allem Verständnis für die Situation gerade der Freischaffenden wird es einem doch zu bunt. Jetzt bekommen alle die Quittung präsentiert. Wie einfach wäre es gewesen, auf allen Ebenen die Aufhebung des Aufführungsverbots einzuklagen. Nichts ist passiert.

Mit jedem Amtsarzt hätte man ausdiskutieren können, dass die ersten drei Reihen im Aufführungssaal frei bleiben, dass Abstandsregeln bei geringeren Besucherzahlen eingehalten würden, meinetwegen auch ein unsinniger Maskenschutz, wenn sich damit jemand besser fühlt, der Abendspielleiter könnte für die Sitzordnung verantwortlich sein. Bernd Loebe, Intendant der Frankfurter Oper, wäre mit Lunchtime-Konzerten einverstanden, auch wenn nur 50 Besucher anwesend wären, Hauptsache, es geht weiter. Und so hätte es auch mit den Festivals weitergehen können. Geringere Besucherzahlen, Regeln berücksichtigen und Künstler auftreten lassen. Können wir endlich wieder anfangen zu denken? Irgendwo habe ich jetzt gelesen, dass jeder, der bislang nicht verstanden hat, was 1933 passiert ist, gerade mal schauen könne, wie so was passiert. Ja, der Vergleich hinkt. Aber wenn er dazu dient zu verstehen, dass der Kampf der Kulturschaffenden eigentlich längst begonnen haben müsste, lasse ich ihn durchgehen.

Liebe Festivalveranstalter, schickt mir bitte keine Pressemitteilungen mehr dazu, dass Euer Festival nicht stattfindet, weil die Regierung das so beschlossen hat. Wenn Ihr mir mitteilt, dass Ihr mit Euren Kommunen Absprachen getroffen habt, wie Ihr Euer Festival trotz der Kulturfeindlichkeit der Regierung durchführen wollt, berichten wir sofort und gern darüber. Liebe Privattheater: Wir wollen nicht mehr darüber berichten, dass Ihr um Eure finanzielle Existenz kämpft, weil staatliche Hilfsprogramme eh kläglich versagen, sondern wir möchten darüber erzählen, wir Ihr Euch gegen die Obrigkeit durchsetzt und den unsinnigen Aufführungsverboten den Kampf ansagt. Das ist Eure Aufgabe jetzt!

Wir, das Publikum und die Berichterstatter, erwarten von Euch, dass Ihr mit kreativen Konzepten Sondergenehmigungen erwirkt und Eure Aufführungen gegen den Handstreich der Regierung durchsetzt. Hat es jemals zuvor Gaukler und Narren gegeben, die sich von einer Regierung haben vorschreiben lassen, wann Kunst stattfindet? Auf Jahrmärkten und bei Hofe war es – auch zu Seuchenzeiten – Pflicht, den Oberen die Nase zu zeigen. So viel Mut muss sein.

Das Aufführungsverbot der Regierung ist eine Kampfansage. Und die Kulturinstitutionen wie Theater, Opernhäuser und Festivals werden erleben, dass die Schützenvereine des Landes das Veranstaltungsverbot nicht so einfach hinnehmen. Auch Schützenvereine, die im Zeitraum bis Ende August ihre wichtigsten Veranstaltungen auf dem Terminkalender haben, erheben zu Recht den Anspruch, zur Kultur des Landes zu gehören. Aber es kann ja nicht sein, dass die Schützenvereine den Kampf für die Kulturschaffenden im herkömmlichen Sinne führen. Da muss – endlich – schon mehr von den Menschen kommen, die behaupten, sich für das kulturelle Angebot in Deutschland einzusetzen. Augenmaß statt Handstreich ist die Forderung der Stunde.

Michael S. Zerban