O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Foto © Frank Scherbaum

Hintergründe

Freude im Leiden

Die Geschichte des Simha Arom, der als Fred Arom 1930 in Düsseldorf zur Welt kommt, ist eine Geschichte, die Grenzen berührt, die die Extreme kennt. Der Antisemitismus treibt ihn in ganz jungen Jahren außer Landes. Es beginnt eine Odyssee. An deren Ende ist Arom ein hochgeachteter Wissenschaftler, dessen Erkenntnisse Einfluss haben auf den Komponisten György Ligeti, in gleichem Maß auf den Ligeti-Interpreten Pierre-Laurent Aimard. Um beide Persönlichkeiten zu erleben, musste man zwingend nach Amsterdam.

Foto © Frank Scherbaum

Seinen zweiten, seinen neuen Namen bekommt Simha auf der Flucht. Der Novemberpogrom hatte das Ende markiert für die deutschen Juden, damit auch für die Aroms in Düsseldorf. Die Stadtgesell­schaft schweigt, lässt das Unrecht geschehen. Inwieweit es billigend in Kauf genommen oder gar befürwortet wird, wissen wir nicht. Nur, dass das Schweigen, das Untätigbleiben als Verrat empfunden wird, das ist unabweisbar. Schuldhafte Geschichte, die uns nicht loslässt, bis heute nicht. Was dann, was nach dem 9. November 1938 für die Familie Arom folgt, hat der französische Filmemacher Jérôme Blumberg in einem bewegenden Dokumentarfilm nachgestellt, in dem er den Überlebenden noch einmal an die Stationen seines Lebens führt, angefangen in Düsseldorf. Der muss mit den Tränen kämpfen, wenn er erzählt, wie die Eltern, wie er und sein Bruder, Hals über Kopf die Stadt verlassen, über Belgien nach Frankreich gelangen, dort auf Zickzackkursen durchs Land irren. Irgendwann halten es David und Liba Arom für besser, dass sich die Wege der Familie trennen, dass die beiden Kinder allein zurechtkommen müssen. Eine Situation, in der David bestimmt, dass aus seinem Sohn Fred Simha werden soll, es ist das hebräische Wort für Freude. Nicht das Leid, nicht das Verfolgtwerden bestimmend soll sein das Leben, die Freude daran. So das Vermächtnis. Für David, für ihn selbst wie für seine Frau bleibt nur die Bitternis. In der Düssel­dorfer Wallstraße hat das Paar einen Stolperstein bekommen. Opfer der Shoah.

Die andere Seite: Wer den Weg gefunden hat in das kleine Theater der Universität Amsterdam, kann sich davon überzeugen, dass das Vermächtnis des David Arom am Ende doch aufgegangen ist. Die Freude ist Simha nämlich ins Gesicht geschrieben. Seine Lecture zum Thema African Polyphonie in the work of György Ligeti fasst die Früchte eines 50-jährigen Forscherlebens noch einmal wie in einem Brennglas zusammen. Hier, an einem Tischchen mit seinem Skript in der Hand, der emeritierte Direktor am Pariser CNRS, dem Centre National de la Recherche Scientifique, der französischen Gestalt des hiesigen Max-Planck-Instituts  neben ihm die Tänzerin Aminata Traoré und ein afrikanisches Percussion Ensemble unter Leitung des Arom-Schülers Julien André. Immer wieder unterbricht Arom sein Referat, bittet die Musiker diese und jene Phrase vorzutragen, Tempo herauszunehmen. Mit dem Ergebnis, das hinter dem unendlich Komplexen das Einfache hervortritt, die Elemente. Das, woraus alles aufgebaut ist. Vernunft sagen wir Europäer dazu. Afrika, lernen wir, hatte sie immer schon.

Organisiert ist das Ganze von der Leiterin der musikwissen­schaftlichen Abteilung der Amsterdamer Universität, von Julia Kursell. Unter der Überschrift Encoding Polyphonie Symposium in honor of Simha Arom kreist eine mehrtägige Veranstaltung mit Fachreferaten um ein wissenschaftliches Lebensthema: die Entschlüsselung der Polyrhythmie der Musik der afrikanischen Ureinwohner. Man muss wissen, dass Gesänge wie die der Aka-Pygmäen in der heutigen Zentralafrikanischen Republik im Prinzip so alt sind wie die Menschheit. Schon vor den Pharaonen haben Abgesandte der Pygmäen vorgetragen, mit ihrer Kunst für Staunen gesorgt. Dasselbe Erstaunen, das auch Simha Arom ergreift, als er in den frühen 1960-er Jahren als Musiker und israelischer Staatsbürger nach Bangui gelangt, um dort ein Blasorchester aufzubauen, was sich bald als unmöglich herausstellen wird. Allerdings, bei Gelegenheit dieses Besuchs, hört er zum ersten Mal diesen betörenden vielstimmigen Chorgesang. Wie schaffen sie es, fragt er sich, sich den Verästelungen der Polyphonien hinzugeben und zugleich koordiniert zu bleiben? Wieso kommen sie ohne Dirigenten aus? Von Noten, die in diesen mündlichen Kulturen unbekannt sind, ganz zu schweigen. Wie kann das alles sein? Wie machen sie das? – Es ist diese Frage, an der sich Simha Arom festbeißt. Etliche Jahre später findet er die Lösung, publiziert seine Ergebnisse, wird über Nacht berühmt, baut darum eine Wissenschaftlerkarriere auf. Mit Grund: Was Fachleute als unlösbares Rätsel angesehen haben, ist dekodiert.

Brücke zur Kunst

Pierre-Laurent Aimard und Simha Arom – Foto © Frank Scherbaum

Interessant ist, im Verlauf des Symposiums zu erleben, wie die von Simha Arom entwickelten Verfahren von der Wissenschaftsgemeinde einerseits als schlüssig begriffen, wie sie aufgegriffen, wie sie andererseits kreativ weiterentwickelt werden. Zu nennen ist hier insbesondere die Arbeit des Geophysikers Frank Scherbaum, der sich seit einigen Jahren, in Kooperation mit Arom, der Struktur der georgischen Volksgesänge widmet, einer Musik, die nach wie vor Rätsel aufgibt. Allerdings ist man auf gutem Weg. Und so wie sich die afrikanischen Gesänge mit jeder neu beginnenden Periode immer weiter verzweigen, so verzweigt sich auch das Netzwerk, das von Arom ausgegangen ist und das in ihm, dies vor allem spürt man in Amsterdam, sein Zentrum, seine Energiequelle hat.

Schließlich die Brücke zur Kunst. Vielleicht ist das der faszinierendste Teil der ganzen Geschichte. Immerhin steht Kunst tatsächlich auch am Anfang, ist Wissenschaft, was dazwischentritt, um jene besser oder überhaupt verstehen zu helfen und um von dort wieder in Kunst überzuleiten, auf neuer Stufe, nicht, um nur einfach zu kopieren, die eigenen, meist sehr bescheidenen Modelle mit Exotischem anzureichern wie ein Herbie Hancock wie Madonna das praktiziert haben – vielmehr ist es so, dass sich ernsthaftes Komponieren in die Prinzipien vertieft, um daraus Neues zu schöpfen. Vornehmstes Beispiel ist György Ligeti. Vom Reichtum, von der Komplexität der Polyrhythmie der Sub-Sahara war er von dem Moment an fasziniert, als er diese Musik über die Aufnahmen Aroms kennenlernte. In den frühen 1980-er Jahren fängt Ligeti an, sich in diese Welt zu vertiefen. Mit der Folge, dass sich polyrythmische Modelle in seinen Kompositionen anlagern, in den Études pour piano beispielsweise, aber auch im Konzert für Klavier und Orchester, für dessen Komposition sich Ligeti erstaunlich viel Zeit nimmt, von 1980 bis 1988.

Ein ebenso höllisch schwieriges wie faszinierendes Werk, das Pierre-Laurent Aimard vorträgt aus dem Geist eines dem Komponisten und seinen Ideen verpflichteten Musikers. Hochkon­zen­triert, bis in die Fingerspitzen motiviert, zugleich die Polymetrie glasklar herausstellend, all die an- und ineinandergeflochtenen Dreier-, Einer-, Vierer-, Zweier-Ketten, dieser ganze Mischsatz aus Symmetrie und Asymmetrie, aus Einfachheit und Komplexität. Beides zusammen, lernen wir von Simha Arom, machen den Herzschlag dieser Musik. Apropos. Aimard, der mit dem kompositorischen Denken Ligetis heute wohl am besten vertraut ist, der dank seiner Freundschaft zu Arom die Beziehungen dieser Neuen Musik zum alten Afrika verstanden hat – dieser Pierre-Laurent Aimard schlüpft in einer ausverkauften Concertgebouw-Matinee von daher denn auch wie selbstverständlich in die Rolle des kundigen Cicerone. Als exzellente Mitstreiter in diesem von NTR, vom niederländisch öffentlich-rechtlichen Rundfunk veranstalteten Konzert, bewähren sich Bas Wiegers vor seinem Ensemble Asko/Schönberg. Die unbestrittenen Lokalmatadoren für die Neue Musik der Stadt füllen den großen Saal des Concertgebouw wie am Abend zuvor das große romantische Sinfoniekonzert. Amsterdam liebt die Musik. Die Ganze.

Georg Beck