O-Ton

Kulturmagazin mit Charakter

Eröffnungskonzert in der Klosterkirche St. Trinitatis - Foto © Marcus Lieberenz

Aequinox

Reformation als schillerndes Kaleidoskop

Bereits zum achten Mal fand in der Fontane-Stadt Neuruppin vom 17. bis zum 19. März das Festival Aequinox statt. Die lautten compagney Berlin richtete das Festival mit Unterstützung des ortsansässigen Fördervereins Siechenhaus aus. Geboten wurde barocke Musik bei acht Konzerten in ungewöhnlichen Formaten.

Die großen und kleinen, die sichtbaren und versteckten Schönheiten der brandenburgischen Kleinstadt Neuruppin bilden mehr als nur dekorative Fassaden und Schauplätze der 8. Musiktage zur Tag- & Nachtgleiche Aequinox. Dabei hinterlässt der 31.000 Einwohner zählende Ort am Ufer des Neuruppiner Sees keinen kleinstädtischen Eindruck, wenn man die scheinbar endlose lange und mächtig breite Paradestraße im Herzen der ehemaligen Regimentsstadt durchwandert, die der Preußen-König Friedrich Wilhelm II nach dem großen Stadtbrand 1787 erbauen ließ. Jener Cello-liebende König, dem Mozart seine „Preußischen Quartette“ widmete und dessen Statue den Platz ziert, der auch das Alte Gymnasium beherbergt, das einst die berühmtesten Kinder der Stadt, der Baumeister Karl Friedrich Schinkel und der Schriftsteller Theodor Fontane, zeitweise besuchten.

Misterio – Foto © Marcus Lieberenz

Die Kluft zwischen der großzügigen Anlage und der eher bescheidenen Einwohnerzahl ist auch Fontane aufgefallen. In seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg heißt es durchaus kritisch: „Für eine reiche Residenz voll hoher Häuser und Paläste, voll Leben und Verkehr mag solche raumverschwendende Anlage die empfehlenswerteste sein, für eine kleine Provinzialstadt aber ist sie bedenklich. Sie gleicht einem auf Auswuchs gemachten großen Staatsrock, in den sich der Betreffende, weil er von Natur klein ist, nie hineinwachsen kann.“

Für den heutigen Touristen ist dieser Widerspruch bedeutungslos. Die Innenstadt ist festlich herausgeputzt wie die vieler ostdeutscher Städte nach der Wende. Entscheidender ist der lutherisch-protestantische Geist, der das religiöse und kulturelle Leben bestimmt. Und diese Hypothek bietet beste Voraussetzungen für ein Musikfestival zum Luther- und Reformationsjahr.

Der Förderverein Siechenhauskapelle hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur die kleine, aber wunderschöne spätgotische, zudem akustisch hervorragende Kapelle des ehemaligen Armenhauses zu erhalten, sondern auch das kulturelle Leben der Stadt zu fördern. Seit 2010 gehört auch die Finanzierung des Musikfestivals Aequinox dazu, für das die 22 Mitglieder in diesem Jahr einen Etat von 62.000 Euro sammelten und das seinen besonderen Rang durch die Mitwirkung der renommierten lautten compagney Berlin erhält, deren Leiter Wolfgang Katschner von Beginn an dabei ist und sein treues Publikum Jahr für Jahr mit besonderen Konzepten und Programmen überrascht.

Die Themensuche für dieses Jahr fällt nicht schwer. 500 Jahre Reformation bieten eine breite Angriffsfläche für eine abwechslungsreiche, sechsteilige Programmfolge. Zum Auftakt in der stattlichen Klosterkirche St. Trinitatis direkt am Neuruppiner See versammeln Wolfgang Katschner und zwölf Mitglieder der lautten compagney Knaben des Staats- und Domchors Berlin sowie das sechsköpfige Vocalconsort Berlin um sich, um eine Deutsche Messe zu zelebrieren, wie sie zu Luthers Zeit geklungen haben kann. Das Ergebnis ist ein zweistündiges Konzert, gegliedert nach dem Aufbau eines Gottesdienstes, bestückt mit stilistisch unterschiedlichen Gesängen von Zeitgenossen Luthers wie Ludwig Senfl, Baltasar Resinarius und dem von dem Reformator besonders geschätzten Johann Walter sowie Vertretern der folgenden Generation wie Michael Praetorius und Heinrich Schütz. Dass das Kyrie des katholischen Luther-Zeitgenossen Josquin Desprez stilistisch im reformatorischen Umfeld kaum auffällt, ist nicht verwunderlich. Neu erfunden wurde die Musik um Luther schließlich nicht. Und auf jeden Fall darf diese Geste als willkommener ökumenischer Wink an kulturelle Gemeinsamkeiten der großen Kirchengemeinden gedeutet werden.

Telemann im Kaleidoskop – Foto © Marcus Lieberenz

Es ist ein anspruchsvoller Auftakt, mit seiner zweistündigen Dauer jedoch immerhin noch eine Stunde kürzer als historische Messen dieser Art, in der noch eine volle Stunde lang gepredigt wurde. Dass es trotzdem lang wird, dafür sorgt das ungemütlich kühle Wetter in der ungeheizten Kirche, weniger die professionelle Ausführung unter der Gesamtleitung von Katschner. Die Deutsche Messe ist übrigens die erste Etappe einer dreiteiligen Konzertreihe zum Thema Wie klingt die Reformation?. Das zweite Programm, Mitten im Leben 1517, soll ab Mai einen Eindruck des alltäglichen musikalischen Umfelds vor 500 Jahren vermitteln. Ab Juni lässt man unter dem Titel Errette mich von den Einhörnern! Luther im Original im Rahmen einer musikalischen Lesung den Reformator selbst zu Wort kommen. Die Deutsche Messe wird sieben Mal in verschiedenen Städten aufgeführt, die restlichen Programme jeweils dreizehn Mal innerhalb Deutschlands.

Am gleichen Abend folgt später noch ein intimes kammermusikalisches Programm in der kleinen Siechenhauskapelle, wo man unter dem Titel Misterio nach dem protestantischen Großaufgebot der Deutschen Messe einigen Rosenkranz-Sonaten des Katholiken Heinrich Ignaz Franz Biber lauschen darf. Werke, die die Stationen aus dem Leben Christi in schlichter Besetzung für Violine und einer Basso-Continuo-Gruppe plastisch, teils theatralisch reflektieren. Den fast musikdramatischen Impuls der äußerst farbig gestalteten Musik arbeiten Julia Schröder, Konzertmeisterin und Leiterin des Kammerorchesters Basel, zusammen mit der kongenialen Cellistin Mara Miribung, dem Cembalisten und Organisten Gerd Amelung sowie Wolfgang Katschner an der Laute mit großem Einsatz aus. Der emotionale Gehalt der Musik wird noch durch die originelle Kombination der Sonaten mit ähnlich intensiven Interpretationen einiger Tangos von Astor Piazzolla verstärkt. Dass Julia Schröder für die Biber-Sonaten zu unterschiedlich gestimmten Instrumenten greifen muss, bereitet ihr keine Probleme.

Was Ihr wollt – Foto © Marcus Lieberenz

Eine Oase introvertierter Frömmigkeit im Stil der römischen Vokalpolyphonie bietet am Nachmittag des folgenden Tages das von Alessandro Quarta gegründete Vokalensemble Concerto Romana, bestehend aus drei Sängern und dem Leiter, das sich in der etwas abgelegenen Kirche Netzeband Musik der Gegenreformation widmet. Ad arma, fedeles! – Rüstet Euch, Ihr Gläubigen – der Titel des Programms klingt martialischer als die Musik. Doch wenn Francesca Foggia und seine Glaubensgenossen zum Kampf gegen den Protestantismus rufen, entspringt der Appell nicht nur sanfter Nächstenliebe. Klagende Lamenti, Verklärungen der Passion und Marienverehrungen ertönen in Gesängen von erlesener Erhabenheit, instrumental schlicht unterstützt von einem sechsköpfigen Instrumentalensemble. Interessant, dass sich in Gesängen wie Giacomo Carissimis Turbabuntur impii – Die Frevler werden von Furcht und Schrecken verwirrt werden – bereits monodisch-rezitativische Elemente aus der Frühzeit der Oper einschleichen.

Der 250. Todestag von Georg Philipp Telemann am 25. Juni dieses Jahres wird zum Anlass für das organisatorisch aufwändigste Projekt genommen, das Wandelkonzert Telemann im Kaleidoskop. Dahinter verbirgt sich eine im wahrsten Sinne des Wortes kaleidoskopartig schillernde Fährtensuche an zwölf Stationen der Stadt, in der Musik des berühmten Bach-Kollegen erklingt. In zwölf Gruppen zu je 25 Teilnehmern kann man so in Galerien, Buchhandlungen, Trödelläden, Kirchen, historischen Wohnstuben und anderen skurrilen Orten Lieder, Flötenfantasien, Duette aller Art, Lesungen, Bearbeitungen für Saxophon und Handtrommel und ganz leise Töne auf dem Clavichord genießen. Ausgeführt von Mitgliedern der lautten comgagney und anderen Musikern des Festivals. Zu Beginn versammelt man sich im zentralen Kulturhaus der Stadt am Stadtgarten, wo das sicher intonierende Barock-Orchester der Kreismusikschule Neuruppin mit Tanzsätzen Telemanns aufwartet. Die Zusammenarbeit mit der Musikschule ist Katschner ein besonderes Anliegen. Seit Jahresbeginn arbeiten zwei Musiker seines Ensembles intensiv mit den Musikschülern, um sie auf das Konzert vorzubereiten. Nach fast fünf erstaunlich kurzweilig verflogenen Stunden kehrt man in das Kulturhaus zurück, wo alle Profis ihr dankbares Publikum mit einer rasanten Interpretation von Telemanns bekannter Suite Hamburger Ebbe und Fluth verabschieden.

Am dritten Tag geht es noch entspannter weiter, als in der über drei Stockwerke hinweg mit Antiquitäten vollgestopften Neumühle von Alt-Ruppin Sonette von William Shakespeare rezitiert und gesungen werden. Die Sopranistin Susanne Ellen Kirchesch und der als Tatort-Kommissar bekannte Schauspieler Wolfgang Maria Bauer bieten im ersten Teil einen bunten Strauß von Shakespeare-Reflektionen mit Musik von Dowland, Blow und anderen Shakespeare-Zeitgenossen zu Themen wie Liebe, Hintersinn, Frivolität, Vergänglichkeit und Sehnsucht. Was ihr wollt, so der Titel des kurzweiligen Programms, bekommt nach der Pause eine reale Füllung. Das Publikum darf sich seine Lieblings-Monologe aus den bekanntesten Shakespeare-Werken aussuchen und Katschner mit seinen Musikern sorgt für entsprechend lebensfrohe und nachdenkliche Töne.

Aequinox, die Musiktage zur „Tag- und Nachtgleiche“, wie der Frühlingsbeginn um den 20. März herum, an dem Tag und Nacht gleich sind, auch genannt wird, werden im kommenden Jahr vom 16. bis 18. März fortgesetzt.

Pedro Obiera