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Hintergründe

Odyssea unter griechischer Sonne

Seit 2015 gibt es das Molyvos International Music Festival auf der griechischen Insel Lesbos. Gegründet haben es die beiden Schwestern und Pianistinnen Danae und Kiveli Dörken mit dem Ziel, hochkarätige Kammermusik auf die Insel zu bringen. Vom 11. bis 19. August fand die diesjährige Ausgabe statt. Eines der wichtigen Themen neben der Musik war auch in diesem Jahr wieder die Sorge um die Flüchtlinge. Auch wenn sich die Lage wohl etwas entspannt hat, ist das Problem nicht gelöst.

Benedict Klöckner (Violoncello), Danae Dörken (Klavier), Jonian Ilias Kadesha (Violine) – Foto © akriviadis.gr

Die zarten Streicherklänge von Arnold Schönbergs Sextett Verklärte Nacht gehören nicht zum Alltag vor der malerischen Kulisse der byzantinischen Burg von Molyvos, umweht von den Düften und Winden der angrenzenden Ägäis. Kammermusik auf hohem Niveau ist nicht das, was man gemeinhin mit der griechischen Insel Lesbos verbindet, die seit der Flüchtlingskrise 2015 vor allem negative Schlagzeilen ausgelöst hat. Als die Schwestern Danae und Kiveli Dörken, renommierte Pianistinnen, ehemalige Schülerinnen von Lars Vogt und Stammgäste des Heimbacher Kammermusikfestivals Spannungen, im gleichen Jahr das Molyvos International Music Festival starteten, wurden auch sie von der Flüchtlingswelle überrascht. Auch wenn das Gros der über 20.000 Flüchtlinge vor allem die 65 Kilometer entfernte Hauptstadt Mytilene mit ihren 38.000 Einwohnern überschwemmte.

Eigentlich wollten die Dörken-Schwestern, die zwar in Wuppertal und Düsseldorf geboren und in Deutschland aufgewachsen sind, aber enge familiäre Verbindungen zu Lesbos halten, die Bewohner der drittgrößten Insel Griechenlands mit der Schönheit der klassischen Kammermusik vertraut machen, die lediglich in Athen und Thessaloniki ausreichend gefördert wird. Eine Idee, die auf große Sympathie stieß und zahlreiche Sponsoren aktivierte. Jeweils etwa 500 Besucher genießen in diesem Jahr die vier abendlichen Hauptkonzerte, zur Mittagszeit ergänzt durch kleine Auftritte in angesagten Restaurants und ein Kinderkonzert.

In den ersten Jahren hielten die Veranstalter engen Kontakt zu den Flüchtlingen. Und die Dörken-Schwestern helfen in Hamburg heute noch ehemaligen Flüchtlingen, denen die Ausreise nach Deutschland gewährt wurde. Das nach dem verheerenden Brand des berüchtigten Moria-Lagers erweiterte Ausweich-Camp Kara Tepe in der Nähe der Hauptstadt ist durch Stacheldraht abgeschirmt und ein Zugang nur noch schwer möglich. Zusätzlich belastet durch die Pandemie der letzten zwei Jahre, verzichtet man diesmal auf engere Kontakte zum Lager.

Die Zahlen der dort festgehaltenen Menschen schwanken je nach Quelle zwischen 3000 und 8000, die meisten Hilfsorganisationen gehen von etwa 7000 aus. Nach Ansicht des deutschen Arztes Arndt Dohmen, der sich mehrmals mehrere Wochen in Kara Tepe aufgehalten hat, habe sich die Lebenssituation im Laufe des letzten Jahres leicht verbessert, was die Wohnverhältnisse, Freizeitaktivitäten und sogar den Schulunterricht für die rund 2500 Kinder angeht. Allerdings hat auch er mit der immer noch auf Abschreckung abzielenden Politik der griechischen Regierung zu kämpfen, wenn es etwa um eine ausreichende medizinische Versorgung der vielen schwer kranken und traumatisierten Menschen geht. Dass kaum noch Flüchtlinge die Insel erreichen, liegt nach seiner Meinung an der Praxis, dass die griechische Küstenwache zusammen mit der europäischen Grenzpolizei Frontex die meisten Menschen bereits vor der Küste abfängt und aufs Meer oder in die Türkei zurückdrängt.

Für die Einwohner der Insel, die die Flüchtlinge zunächst mit großer Gastfreundschaft empfingen, aber zunehmend unter den Belastungen litten, bringt die Entwicklung eine Entspannung mit sich, die sie dringend brauchen. Auch wenn man in Molyvos keinem Flüchtling mehr begegnet und die vorzüglichen Restaurants an der Küste bis weit nach Mitternacht voll besetzt sind, sind die durch die Flüchtlingskrise und die Pandemie verursachten Einbrüche des Tourismus noch lange nicht überwunden. Probleme bereitet vor allem die komplizierte Anreise, denn Direktflüge auf die Insel sind von 70 auf sieben zurückgegangen. Wer heute das muntere Leben auf der Insel als Besucher genießt, fühlt sich an die Zeiten erinnert, in denen Lesbos zu den Touristenhochburgen des Landes zählte. Teofilos Mantzoros, alteingesessener Juwelier auf der Haupteinkaufsstraße der Stadt, sieht denn auch optimistisch in die Zukunft. Er hält die Berichterstattung über die Zustände in den Lagern ohnehin für übertrieben und geht von einer raschen weiteren Entspannung der Situation aus.

Die Probleme sind auch den Dörken-Schwestern bewusst. Und in der Programmplanung finden sie auch ihren Niederschlag. Mit dem Motto Odyssea wollen sie nicht nur an die große literarische Kultur der Insel erinnern, auf der vor 2600 Jahren die legendäre Sappho, die wohl bedeutendste und liberalste Dichterin der griechischen Antike gewirkt hat und auf der auch Odysseus einige Abenteuer erlebt hat. Homers Odyssee ist für die Musikerinnen Sinnbild einer von Schicksalsschlägen und Versuchungen erschütterten Irrfahrt durch das Leben, die aber mit ihrem glücklichen Ausgang zugleich Hoffnung ausstrahlt. Lesungen aus Homers Epos, das griechischen Kindern so vertraut ist wie den deutschen Kindern die Grimmschen Märchen, begleiten allabendlich die musikalischen Vorträge der klug disponierten Programme.

Kiveli Dörken (Klavier), Danae Kontora (Sopran) – Foto © akriviadis.gr

Dabei sehen die künstlerischen Leiterinnen Lesbos als eine Insel, die in ihrer bis in die Phönizierzeit zurückreichenden Geschichte ständig von Fluchtbewegungen erschüttert wurde. Phönizier, Griechen, Römer, Venezianer und Türken rangen um die strategisch günstig gelegene Insel und haben dort ihre Spuren hinterlassen. Bis 1912 gehörte Lesbos zum osmanischen Reich. Im Umfeld des griechisch-türkischen Krieges floh auch die Großmutter der Schwestern von der Insel und kehrte erst nach dem Zweiten Weltkrieg zurück.

Die vier Konzerte thematisieren verschiedene Episoden der Odyssee, etwa die Begegnungen mit Circe, dem Zyklopen sowie Odysseus‘ Rückkehr nach Ithaka, aber auch die Gefühle der zurückgebliebenen Gattin Penelope. Die Stimmungslage der ebenso alleingelassenen wie treuen Frau kommt etwa in einem Liederabend der jungen griechischen Sopranistin Danae Kontora und Danae Dörken am Klavier eindrucksvoll zur Geltung. Die bereits in München, Dresden, Frankfurt, Essen und Wien in großen Partien erfolgreich in Erscheinung getretene Sopranistin begeistert durch den schlichten und rundum makellosen Vortrag passender, größtenteils wenig bekannter Lieder von Caldara, Mozart und Schubert bis Richard Strauss, Debussy und dem Griechen Michalis Sougioul. Das „Ithaka“ gewidmete Abschlusskonzert ziert sogar die Uraufführung einer introvertierten, klanglich aparten Komposition gleichen Namens von Costas Mantzoros und Nickos Harizanos für Sprecher, Streichtrio und Elektronik. Mit Schuberts Klaviertrio in B-Dur und Schönbergs Verklärter Nacht flankieren zwei herausragende Juwelen der Kammermusik die Neuschöpfung.

Auch in den beiden ersten Konzerten geizt man nicht mit kapitalen Zugstücken wie Mozarts Klarinettenquintett, Mendelssohn 2. Streichquintett und Brahms‘ Klavierquintett op. 34, immer umrahmt von Werken griechischer Meister. Die Dörken-Geschwister versammeln mehr als ein gutes Dutzend junger, allesamt bereits international erfolgreicher Musiker um sich, darunter die Geigerin Antje Weithaas, die zum Heimbacher Kern gehört, der aufstrebende Cellist Benedict Kloeckner sowie der ebenso erfolgreiche Klarinettist David Orlowsky. Grundsätzlich bewegen sich die Interpretationen auf dem Niveau der Heimbacher Spannungen. Überhöht durch das unwiderstehliche Flair der Ägäis.

Pedro Obiera