O-Ton

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Die Schatten befrieden

Chimäre heißt die neue Ausstellung von Bühnenfotografin Susanne Diesner und Bildhauer Milan Miloradovic im Ballhaus im Düsseldorfer Nordpark. Da setzen die beiden Künstler sich mit ihrem Leben auseinander. Anlass genug, die Fotografin einmal vorzustellen, die ihr Leben und Arbeiten gerade zu einem Gesamtkunstwerk umformt.

Auf den ersten Blick überraschen die Fotografien. Architektur gibt es zu sehen, Landschaften, Naturdetails, aber Menschen fehlen. Flächig, symmetrisch, italienisch strahlen sie Kühle aus. Ungewöhnlich für Susanne Diesner, deren Bilder man in der ganzen Welt kennt, weil sie überwiegend Menschen und Musik ablichtet. Als Bühnenfotografin arbeitet sie unter anderem für die Tonhalle Düsseldorf, die Robert-Schumann-Hochschule für Musik oder die Deutsche Oper am Rhein. Und wenn sie nicht gerade die Düsseldorfer Symphoniker auf einer Tournee begleitet, fertigt sie Porträts an. Menschen über Menschen. Und hier, im Ballhaus im Nordpark, in dem vom 12. bis zum 25. April die Ausstellung Chimäre von Milan Miloradovic und Susanne Diesner stattfindet, gibt es scheinbar keine Menschen. Ein in zweierlei Hinsicht bemerkenswerter Umstand.


Da gibt es einerseits dieses Ballhaus. 1938 ersetzte die Gartenhalle das Café der Konditorei-Innung, das für die Ausstellung Schaffendes Volk ein Jahr zuvor errichtet worden war. Der eingeschossige, langgestreckte Baukörper stammt von Fritz Bauer. Seine hohen Fenster- und Türöffnungen reichen bis zum Boden, so dass eine offene Halle mit offenen Breitseiten zum Nordpark entstand. Von Anfang an war es für Tanz und Sport gedacht. Tatsächlich nutzten die englischen Besatzer es nach dem Zweiten Weltkrieg, um sich dort bei Tanzvergnügen zu amüsieren, und so kam das Gebäude auch zu seinem Namen. Aber so richtig glücklich wurde mit dem klassizistischen Bau bis heute niemand in Düsseldorf. Inzwischen ist es dem Gartenamt unterstellt, das es für kleines Geld Künstlern zur Verfügung stellt, die dort ihre Ausstellungen zeigen wollen. Allerdings ist das ein Tipp für Eingeweihte, denn offiziell kommuniziert die Stadt Düsseldorf das nicht – und was interessiert das Gartenamt die Kunst? Auch Diesner und Miloradovic ignorieren die Geschichte dieses architektonischen Relikts. Für sie ist wichtig, was das Gebäude ausmacht: Es hat tagsüber ein hervorragendes Licht.

„Ich glaube, dass ich vom Grundcharakter her eher ein scheuer Mensch bin. Auch wenn man das nicht dächte, weil ich sehr viel aus mir herausgehen muss. Während meiner Arbeit springe ich eigentlich ständig über meinen Schatten. Ich kann das auch, ich bin dann Profi. Aber es ist für mich trotzdem Überwindung und Kraftanstrengung“, erzählt Diesner. Da will sie sich in ihrer Freizeit lieber mit der Vervollkommnung ihrer Kompositionen beschäftigen, anstatt Menschen ein echtes Lächeln für das richtige Foto zu entlocken. Und das kann sie. Aber wer sie bei ihrer Arbeit beobachtet, bekommt sehr schnell mit, wie wohl sie sich in vielerlei Hinsicht dabei fühlt. Denn natürlich gilt der Grundsatz, dass das Publikum auf großartige Aufnahmen von Ausnahme-Konzerten brennt, aber auf keinen Fall während der Aufführung von der Anwesenheit einer Fotografin gestört werden will. Diesner hat das perfektioniert. Das Klappen ihrer Kameraspiegel hört man nicht, weil sie einen Schallschutz um ihre Kamera gebaut hat. Sie selbst sieht man nicht, weil sie, stets dunkel gekleidet, aus dem Abseits heraus fotografiert.

In ihrer Freizeit vervollkommnet sie nicht etwa ihre Fotos, sondern ihre Kompositionen. Das hat sie bei Pete Marifoglou gelernt. Der Mann ist 1954 in New York geboren, bekam als Jugendlicher eine Kamera in die Hand und hat sie nicht wieder losgelassen. Er arbeitete mit Andy Warhol und Marc Chagall. Lebt seit vielen Jahren in Düsseldorf und arbeitet auch mit Susanne Diesner. Bis heute. In der näheren Zukunft planen sie, gemeinsame Workshops anzubieten, um Kollegen Tipps für eigene Ausstellungen an die Hand zu geben. Marifoglou hat ihren Blick verändert. Diesmal war es eine positive Erfahrung. Schon einmal hat sie eine solche Brechung ihres Blickwinkels erlebt. Da ging es nur mit Müh und Not gut aus.

Ein anderer Blick auf die Welt

Ihr Mezzo reicht über dreieinhalb Oktaven und ihre Sangesfreude noch viel weiter. Susanne, die 1978 in Düsseldorf geboren ist, besucht das Gymnasium, nimmt Gesangsunterricht bei Ingeborg Reichelt und Gwendolyn Killebrew, beide im Ensemble der Deutschen Oper am Rhein. „Das Singen an sich und die Musik, die mir so am Herzen liegt, das habe ich schon mit vierzehn begonnen in einer Schulband und ging dann weiter mit Universitätsband, Konzert auf dem Campusfest und so.“ Alles in bester Ordnung. Ein Gesangsstudium rückt näher, als ihr Vater – sie ist 18 – seine Krebsdiagnose erfährt. Während Susanne sich um ihr Abitur und ihre Berufsfindung kümmert, verschlechtert sich der Gesundheitszustand ihres Vaters. Als sie 20 Jahre alt ist, stirbt der Vater an einem Hirntumor. Verliert man jemanden, verändert das den Blick auf die Welt. Aber man lebt. Wer will singen, wenn der wichtigste Mann im Leben einer Frau geht? Susanne studiert Kunstgeschichte in Düsseldorf und London. Buddhismus und Shintuismus in der zeitgenössischen japanischen Fotografie: Mit ihrer kunstanthropologischen Magister-Arbeit zur Motivquellensuche beschließt Susanne, die längst ihre Leidenschaft für die Fotografie entdeckt hat, ihr Studium. In ihrer Assistenzzeit bei dem Düsseldorfer Fotografen Michael Reisch lernt sie „Genauigkeit und einen klaren Blick“. In den ersten zehn Jahren ihrer Selbstständigkeit arbeitet sie Tag und Nacht. Aufnahmen von Konzerten bis spätabends, anschließend Sichtung der Bilder, am nächsten Tag wieder durchstarten. Nein, sie trauert ihrem entgangenen Gesangsstudium nicht hinterher, sondern freut sich darüber, dass sie den Musikern auf Augenhöhe gegenübertreten kann. „Und ich glaube, dass das auch die Musiker merken. Das ist meine These, aber zumindest im zwischenmenschlichen Gespräch kann ich da irgendwas nachfühlen.“ Und sie singt.

Mantren über die Umbrüche des Lebens

Die Chimäre ist ein dreiköpfiges Ungeheuer aus der griechischen Mythologie. Sie hat einen Löwen-, einen Ziegen- und einen Schlangenkörper. Und laut der Sage wurde sie getötet von Bellerophon, der eine Königstochter heiraten wollte. Der König stellte ihm, ehe er seinen Segen zu der Hochzeit erteilen wollte, die Aufgabe, diese Chimäre zunächst umzubringen. „Und dann hat er den Pegasus gestellt bekommen von den Göttern und ist dann mit einem bleibewehrten Pfeil auf sie losgeflogen und hat ihr den Pfeil in den Rachen geschossen. Da ist dann das Blei geschmolzen. So konnte er sie mit Hilfe dieses Pegasus umbringen“, erzählt Susanne Diesner. Entspannt sitzt sie im Ballhaus auf einer Wasserkiste. Der Ausstellungstitel gefällt ihr vor allem im Hinblick auf die Skulpturen Miloradovics. Der Bildhauer arbeitet bevorzugt mit geschmiedetem Stahl, aber auch Plastiken aus Bronze und Ton finden sich unter seinen Arbeiten. „Und das Besondere an seinen Arbeiten ist eben dieser superstarke Ausdruck. Ganz starke physische Präsenz und dass man tatsächlich auch eine emotionale Präsenz vermittelt bekommt. Das kann von starkem Schmerz sein bis Humor, bis hin zur Leichtigkeit“, schwärmt Diesner. Um die Arbeiten zu verstehen, braucht es nichts, aber es hilft zu wissen, dass er hier sein Leben verarbeitet. Nach einem schweren Autounfall hat er mehr als ein Jahrzehnt mit Schmerzen und Operationen verbracht. Das spiegelt sich in seinen Skulpturen wider. Diesner sieht darin die Ausformung eines seelischen Zustandes. Ob der Fotografin tatsächlich bewusst ist, wie viel Umbruch gerade in ihrem Leben mit dieser Ausstellung stattfindet, ist nicht ganz klar. Seit über einem Jahr beschäftigt sie sich mit den Thesen C. G. Jungs und seiner Assistentin Marie-Louise von Franz. Danach können Sagen und Märchen auch seelische Situationen oder Entwicklungen der seelischen Prozesse beschreiben. „Und das finde ich eigentlich ein sehr schönes Bild. Denn wenn ich dann jetzt diese Chimäre nehme, dann möchte ich eigentlich meine inneren Ungeheuer oder die Schattenseiten, die jeder Mensch in sich trägt, nicht erschlagen, sondern sie befrieden. Um ein ausgeglichener Mensch zu sein“, sagt Diesner.

Ganz leise, unmerkliche Klänge ertönen aus dem hinteren Ende der Halle. Es sind Mantren, die aus einem stilisierten Zelt erklingen. Einer Installation von Susanne Diesner. Sie singt wieder. In dem Zelt hängen die Tücher von ihrer Großmutter, ihrer Mutter und ihr. Sie schafft damit den Inbegriff der weiblichen Linie der Familie. Warum die männlichen Teile fehlen, darüber schweigt sie. Und man mag auch nicht danach fragen. Aber sie will an dem Motiv weiter arbeiten. Angefangen hat sie schon damit, dass sie an das Rheinufer gefahren ist, diese Tücher in einen Baum gehängt, auf den Sonnenuntergang gewartet und das mit Drohnen aufgenommen hat.

Opfergaben am Baum

Das neue Projekt, das damit beginnt, nennt Diesner ofrendas – Opfergaben. Was daraus wird, vermag sie frühestens in einem Jahr zu sagen. Was sie aber jetzt schon weiß, ist, dass ihre Arbeitsweise durch das Internet stark verändert wird. Vorbei die Zeiten, in denen Fotografien an sich wirkten. In Zukunft wird sie ihre Arbeiten mit Videos im Internet begleiten. „Das Medium Internet öffnet uns allen ein Riesen-Tor. Ich sehe meine Bilder nach wie vor in Ausstellungen hängen, aber gleichzeitig werde ich Geschichten dazu erzählen. Und die wird man in Videoform sehen. Und das gerne im Netz. Und viel im Netz.“ Das klingt vielversprechend.

Michael S. Zerban